:chartophylax:

Wodurch unterscheidet sich die Orthodoxie von den westlichen Bekenntnissen?

Dieser Artikel erschien erstmals 1901 in der Monatsschrift „Миссионерское обозрение“ („Missionarische Rundschau“, 6. Jahrgang, Juli–August 1901) in St. Petersburg.

Autor: Antonij (Chrapowitzkij)

01. Oktober 1996

 Kirche   orthodox 
Lesezeit: ca. 21 Minuten

Beim Beantworten dieser Frage würden viele gebildete Russen die Riten erwähnen. Die Unsinnigkeit einer solchen Antwort ist so offenbar, dass sie keine Beachtung verdient. Der Wahrheit nicht viel näher ist aber auch eine andere Meinung, die in theologisch versierteren Kreisen üblich ist. Dort wird man das Filioque, das Primat des Papstes und andere, von der Orthodoxie abgelehnte Dogmen anführen, gleichwie solche Dogmen, die der Römischen Kirche und der Orthodoxie gemein sind, die aber wiederum von den Protestanten abgelehnt werden. Das hieße jedoch, dass die Orthodoxie keine eigene, nur sie kennzeichnende Substanz hat, welche den europäischen Bekenntnissen fehlen würde. Allerdings ließe die Tatsache, dass letztere historisch nach und nach auseinander hervorgegangen sind, glauben, dass sie alle des einen oder anderen Schatzes der Wahrheit Christi entbehren, denn es ist kaum anzunehmen, dass aus einer Häresie eine weitere erwächst, die keine Teile der vorangegangenen beinhaltet und gleichzeitig nicht zur wahren Kirche zurückführt.

Slawophile Theologen, speziell Chomjakow1, waren die ersten, die einen Unterschied zwischen der wahren Kirche und westlichen Bekenntnissen beschrieben, der nicht auf der einen oder anderen dogmatischen Feinheit, sondern vielmehr auf der allgemeinen Überlegenheit des inneren Ideals der wahren Kirche über denen der heterodoxen Kirchen beruht. Darin besteht Chomjakows großer Verdienst vor der Theologie, vor der Kirche und vor dem aufgeklärten Westen, welcher ihn genauso hoch schätzt, wie die russischen religiösen Literaten es taten. Diese Wertschätzung äußert sich umso überzeugender darin, dass praktisch alle europäischen Theologen, die der Orthodoxie mit Sympathie begegnen, von selbiger in Chomjakows Terminologie sprechen und seine Formulierungen in Bezug auf die konfessionellen Unterschiede gebrauchen.

Speziell die Altkatholiken, die zur Orthodoxen Kirche tendieren und in eine umfangreiche offizielle Korrespondenz über eine Annäherung mit uns eingetreten sind, folgen seinen Ansichten in den wichtigsten Fragen, die uns und die Altkatholiken ihrer Meinung nach trennen. Damit ist das Filioque als Neuerung, die der kirchlichen Disziplin zuwiderläuft, welchselbige uns dazu aufruft, „die Einheit des Geistes im Band des Friedens“ zu bewahren, gemeint, sowie die Transsubstantiation bei der Eucharistie als Begriff, der dem Kirchenerbe fremd ist (welches stattdessen von Wandlung spricht) und der von westlichen Theologen geborgt ist.

Unter allen theologischen Werken, die von Russen verfasst wurden, ist Chomjakows kleiner Band2 das populärste sowohl in unseren eigenen gebildeten Kreisen, als auch im Ausland. Daher wollen wir seine Thesen jetzt nicht im Detail wiederholen. Wir wollen an dieser Stelle lediglich daran erinnern, dass er den Unterschied zwischen den Konfessionen in deren Lehren über die neunte Klausel des Glaubensbekenntnisses sieht – in der Lehre über die Kirche. Indem er die orthodoxe Lehre über die Wahrheit darlegt, die vom heterodoxen Westen verzerrt und fast schon verloren ist, zeigt Chomjakow recht deutlich die moralische Bedeutung unseres geistlichen Ideals, den Vorzug unseres Glaubens gegenüber anderen Bekenntnissen, die eine der heiligsten und die Seele erhöhenden Wahrheiten des Christentums verloren haben.

Indem er die Kirche weniger als Macht, sondern vielmehr als eine Gemeinschaft von Seelen sieht, welche einander in ihrer geheimnisvollen Kommunion mit Christus ergänzen, welcher sich nicht dem einzelnen Gläubigen, sondern den Gläubigen in ihrer Liebe, ihrer Einheit (Ökumenisches Konzil) offenbart, bringt Chomjakow in alle Anforderungen der Kirchendisziplin und in das Erfahren der göttlichen Wahrheit als solches einen Geist der Freude ein, dem alles Sklavische fremd ist, und der uns zur unermesslichen Weite einer Gemeinschaft mit der ganzen Welt der Gläubigen, mit der ganzen Ewigkeit fortträgt.

Ohne weitere Worte zu verlieren, erkennen wir also an, dass die orthodoxe Lehre über die Kirche durch Chomjakows korrekt wiedergegeben ist, und dass er überhaupt klar genug den Vorzug der Orthodoxie vor westlichen Bekenntnissen herausgestellt hat, die das Verständnis einer moralischen Einheit der Gläubigen verloren haben und in deren religiösem Leben und Lehren das Reich Gottes auf die Ebene eines privaten (bzw. individuellen) Verdienstes oder einer externen staatsartigen Organisation gesunken ist. Dies anerkennend und den theologischen und missionarischen Verdiensten Chomjakows Tribut zollend, behaupten wir allerdings, dass seine Einschätzung der Orthodoxie, oder – was gleichbedeutend ist – des wahren, von Gott offenbarten christlichen Glaubens als Gegengewicht zu europäischen Bekenntnissen, unvollständig ist. Es war lange unser Wunsch, dies zu vervollständigen.

Westliche Theologie und christliches Leben

In Wahrheit liegen die Unterschiede zwischen unserem Glauben und anderen Bekenntnissen viel tiefer.

Das Dogma über die Kirche ist natürlich eines der wichtigsten; unsere Verbindung durch die Kirche muss sich ein gläubiger Mensch ständig vor Augen halten. Aber auch abgesehen davon spürt man eine tiefe Verschiedenheit zwischen einem nicht-orthodoxen Europäer und einem orthodoxen Christen in der Beziehung eines jeden Individuums zu Gott und zu seinem Leben. Selbst Kleinigkeiten sind von dieser Verschiedenheit betroffen.

Nehmen wir zum Beispiel die Quellen über das geistliche Leben. Ein Teil derselben, nämlich die, anhand derer wir in den Schulen lernen und welche den Inhalt unserer dogmatischen und Moraltheologie ausmachen, ist bei den Katholiken und Protestanten geborgt; bei uns fehlen lediglich die allen bekannten und von der kirchlichen Autorität verurteilten direkten Irrungen der heterodoxen Lehren. Den anderen Teil unserer geistlichen Richtlinien, der sowohl den gebildeten Leuten als auch dem einfachen Volk – heute und unseren Vorfahren bis hinauf zum 9. Jahrhundert und früher – gemeinsam zueigen ist, besteht im Gehalt der gottesdienstlichen Gebete, Hymnen und der Sittenlehre der heiligen Väter.

Doch welch eine bemerkenswerte Sache haben wir hier! Zwischen diesen beiden Arten der geistlichen Richtlinien gibt es fast keine innere Verbindung. Unsere Prologe, unsere dogmatischen Hymnen (Stichira und Kanones), die Lebensbeschreibungen unserer heiligen Väter sind diplomierten Theologen nicht bekannt, und wenn doch, dann kennen sie diese nicht als religiöse Denker, sondern als einfache Gottesanbeter, oder als Liebhaber des Kirchengesangs. Dabei ist diese kirchenslawische Literatur in den dicken, schweren Büchern die hauptsächliche, wenn nicht gar die einzige Quelle und Schöpferin des wahrhaftigen, lebendigen russischen Glaubens sowohl im einfachen Volk, als auch in aufgeklärten Kreisen. Und die Theologie kann ihr nicht das Wasser reichen, auch nicht nur aus purem psychologischem Interesse.

Nehmen wir nun doch einmal die vorzüglichsten Christenmenschen, unter uns weilende Vorbilder im christlichen Leben: den Hieroschemamönch Amwrosij3, Vater Johannes4 und Bischof Theophan5. Sie sind keine engstirnigen Fanatiker, sie sind vielmehr dankbare Abgänger unserer Seminarien und Akademien; aber versucht, in ihren Lehren Entlehnungen oder Bezüge auf unsere schulische und wissenschaftliche Theologie zu finden. Außer einigen eher zufälligen Bemerkungen werdet ihr keine finden!

Bietet ihnen ganze Berge wissenschaftlicher Bände zur Unterstützung ihrer Lehren an; sie werden sie mit Hochachtung behandeln, aber, glaubt mir, sie werden nichts daraus zu entlehnen finden. Selbiges gilt für den einfachen Christen, der nach Verständnis für die eine oder andere religiöse Erfahrung sucht. Offenbar ist unsere nach westlichem Vorbild aufgebaute Theologie zwar frei von den Irrungen des Westens, jedoch so weit von der Wirklichkeit des geistlichen Lebens eines orthodoxen Christen entfernt, ihr so fremd, dass sie nicht nur als Leitfaden für ein geistliches Leben ungeeignet ist, sondern ihr nicht im Entferntesten nahekommt.

Dies wäre nicht der Fall, würde die westliche Theologie sich nur in der Lehre über die Kirche von der orthodoxen unterscheiden; sondern das kommt davon, dass die westlichen Religionen das Kernverständnis des christlichen Lebens, sein Ziel und seine Bedingungen verändert haben.

Die beiden Tugendlehrer

Als ich noch Rektor an der Akademie6 war, gab ich einem begabten Studenten das Thema, die christliche Sittenlehre nach Bischof Theophan und die nach Martensen7 miteinander zu vergleichen. Martensen ist ein ehrwürdiger protestantischer Prediger, der als bester Moraltheologe anerkannt ist, zudem ist er weitgehend frei von konfessionellen Irrungen. Bischof Theophan ist ein gebildeter russischer Theologe, ehemaliger Rektor der geistlichen Akademie zu St. Petersburg. Und was glaubt ihr? Es stellte sich heraus, dass die christliche Moral in den Schriften dieser beiden Autoren vollkommen unterschiedlich, nicht selten auch gegensätzliches dargestellt wird. Das Resümee zu diesen Unterschieden wurde folgendermaßen formuliert:

Bischof Theophan lehrt, wie man sein Leben an den Forderungen christlicher Vollkommenheit ausrichtet, und der westliche Bischof (sit venia verbo) entnimmt dem Christentum nur das, was mit den Bedingungen der aktuellen weltlichen Kultur in Einklang zu bringen ist. Das heißt, der eine sieht das Christentum als ewigen Grundpfeiler des wahren Lebens und verlangt von jedem, sich selbst und sein Leben solange entschieden zu ändern, bis es dieser Norm Rechnung trägt; der andere sieht die Grundlagen der aktuellen weltlichen Kultur als unerschütterlich an, und zeigt lediglich in Bereichen, in denen es einen gewissen Spielraum gibt, die aus christlicher Sicht empfehlenswertere Variante auf. Ersterer verlangt moralischen Heldenmut, Aufopferung, und letzterer schaut, was aus dem Christentum denn heutzutage unter modernen Verhältnissen brauchbar wäre. Für ersteren, einen Menschen, der zum Leben im Jenseits berufen ist, wo das wahre Leben erst beginnt, ist der historisch bedingte Mechanismus des jetzigen Lebens eine nichtige Illusion, und für letzteren ist die Lehre über das Leben der künftigen Welt eine hehre, noble Idee, welche uns hilft, uns in unserem jetzigen, realen Leben besser einzurichten.

Im Unterschied zwischen diesen beiden Tugendlehrern manifestiert sich auch der Unterschied zwischen den westeuropäischen Religionen und dem orthodoxen Glauben. Letzterer geht vom Begriff der christlichen Vollkommenheit oder Heiligkeit aus und trifft von diesem Standpunkt aus eine Bewertung der Realität, während sich der Westen fest auf den Status quo des Lebens begründet und jenes Minimum an religiösen Verrichtungen abzupassen sucht, das für das Heil nötig wäre – sollte die Ewigkeit tatsächlich existieren.

Das verlorene Grundprinzip

„Ihr prangert ja damit nicht einen falschen Glauben an, sondern die zurückgehende Religiosität im Westen!“ wird man uns sagen.

Ja – werden wir antworten; bisher haben wir von der Einstellung, vom Aussterben des westlichen religiösen Lebens und Denkens gesprochen; laßt uns nun auf ein Grundprinzip verweisen, welches sie verloren haben.

Das Christentum ist eine Aufopferung in den Tugenden; das Christentum ist die Perle, für die Erlangung derer der einsichtige Händler aus dem Evangelium seine ganze Habe hingeben mußte. Historisch gesehen scheinen mit dieser Selbstverleugnung, mit diesem Aufnehmen des Kreuzes offenbar verschiedene Arten der Aufopferung gemeint gewesen zu sein: zur Lebenszeit des Erlösers der Eintritt in die Reihen der im nachfolgenden Jünger; dann das Bekennen des Glaubens und das Martyrium; später, vom 4. bis zum 20. Jahrhundert – Anachorese und Mönchtum. In Wirklichkeit waren diese verschiedenen Arten der Aufopferung lediglich die Bedingungen einer Idee, eines Ziels, nämlich eines allmählichen Erlangens geistlicher Vollkommenheit auf Erden, d.h. einer Befreiung von den Leidenschaften, und einer Beherrschung aller Tugenden, wie sich dies alle Gläubigen im Gebet des Hl. Ephräm8 erbitten, welches während der Großen Fastenzeit vielfach und mit vielen Verbeugungen wiederholt wird.

„Denn dies ist Gottes Wille: eure Heiligung“ (1 Thess 4:3), sagt der Apostel, und erlangen kann man sie nur dann, wenn man sie zum wichtigsten, einzigen Ziel im Leben erhebt, wenn man lebt, um Heiligkeit zu erlangen. Darin besteht wahres Christentum; darin besteht das Wesen der Orthodoxie im Unterschied zur Heterodoxie des Westens. Die östlichen Häresien sind in dieser Hinsicht, also auch ihrem Wesen nach, der Orthodoxie viel näher als die westlichen (gemeint ist vor allem die zahlenmäßig starke östliche Häresie der Monophysiten, welcher die Armenier nahestehen). Die geistliche Vollkommenheit der Person bleibt auch bei ihnen das Ziel des christlichen Lebens, und Unterschiede treten nur in den Lehren über die Bedingungen zur Erlangung dieses Ziels auf.

Kontroverse über die Vollkommenheit

Aber behaupten denn die westlichen Christen wirklich, dass es nicht nötig ist, moralische Vollkommenheit anzustreben? Sie werden doch nicht wirklich bestreiten, dass das Christentum uns Vollkommenheit gebietet?

Nun, das werden sie so nicht sagen, aber nicht darin liegt für sie das Wesen des Christentums, und auch in ihrem Verständnis von Vollkommenheit und den Wegen, diese zu erreichen, werden sie mit uns in jedem Wort differieren; sie werden uns nicht einmal verstehen und werden nicht damit einverstanden sein, dass eben die Vollkommenheit der Person das Ziel des christlichen Lebens ist, und nicht nur das Wissen von Gott (wie die Protestanten annehmen) oder der Dienst an der Kirche (Katholiken), wofür, ihrer Meinung nach, Gott Selbst dem Menschen moralische Vollkommenheit als eine Art Belohnung gewährt.

Vollkommenheit erreicht man mittels einer selbständigen, schweren Arbeit an sich, mittels innerem Kampf, Entsagung, und besonders mittels Selbst-Demütigung. Ein orthodoxer Christ, der aufrichtig und eifrig die geistliche Disziplin befolgt, steht schon damit einen bedeutenden Teil dieses Kampfes durch, denn unsere Disziplin ist gerade so aufgebaut, dass sie dem allmählichen Abtöten der Leidenschaften und Erlangung gesegneter Vollkommenheit dient. Dem dient der Gehalt unserer gottesdienstlichen Gebete, die Ordnung der Vorbereitungen auf die Sakramente, das Fasten und der fast monastische Aufbau des orthodoxen Lebens, welcher in unseren kirchlichen Vorschriften vorgegeben wird und an die sich unsere Vorfahren vor Peter dem Großen9 hielten und bis heute Menschen halten, welche mit dieser Tradition leben.

Kurz gesagt ist der orthodoxe Glaube ein asketischer Glaube; das orthodoxe theologische Denken ist nicht lediglich ein totes, nur der Schule eigenes Erbe, sondern es hat Auswirkungen auf das Leben und erstreckt sich auf alle Menschen. Es ist dies nämlich eine Erforschung über die Wege zur geistlichen Vervollkommnung. Von eben diesem Gesichtspunkt aus werden in unseren Stichiren und Kanones sowohl die dogmatischen Bestimmungen, als auch die Ereignisse der Heilsgeschichte betrachtet, gleichermaßen die Gebote und die Erwartung des Jüngsten Gerichts.

All dies ist den westlichen Bekenntnissen auch nicht fremd, jedoch wird dort das Heil als eine externe Belohnung für eine bestimmte Anzahl (ebenso externer) guter Taten verstanden, oder für den unerschütterlichen Glauben an die Göttlichkeit Jesu Christi (Protestantismus). Dort diskutiert man nicht und ist auch unfähig zu diskutieren, wie die Seele allmählich von ihrer Unterwerfung unter die Leidenschaften befreit werden muss, wie wir von Kraft zu Kraft zur Freiheit von den Leidenschaften und hin zur Fülle der Tugenden gehen. Es gibt im Westen auch Asketen, doch deren Leben ist durchdrungen von düsterem, bewusstlosem Erfüllen Generationen alter Vorschriften, wofür ihnen die Vergebung der Sünden und das künftige ewige Leben versprochen sind. Dass aber dieses ewige Leben bereits erschienen ist, wie der Hl. Apostel Johannes sagt, und dass diese selige Gemeinschaft mit Gott nach den Worten des Hl. Makarius des Großen10 durch unbeugsame Askese schon hier erreicht wird – all dies versteht der Westen nicht.

Dieses Unverständnis wird immer schlimmer und hoffnungsloser. Die heutigen westlichen Theologen haben das Verständnis dafür verloren, dass das Ziel des Christentums, der Menschwerdung Christi ja gerade die Vervollkommnung des Menschen ist. Es sieht so aus, als hätten sie sich komplett in dem Hirngespinst verrannt, dass Christus, der Heiland, auf die Erde kam, um irgendeiner Menschheit irgendeiner kommenden Zeit Glück zu bringen, wo Er doch mit aller Klarheit gesagt hat, dass Seine Anhänger das Kreuz des Leidens zu tragen haben werden, und dass sie fortwährend von der Welt, ihren eigenen Brüdern, Kindern und sogar Eltern verfolgt werden würden, umso mehr zum Ende der Zeiten hin.

Der Komfort, den die Gläubigen an den „Aberglauben Fortschritt“ (eine treffende Formulierung von S.A. Ratschinskij11) auf Erden erwarten, ist vom Heiland für das künftige Leben versprochen, aber weder die Lateiner, noch die Protestanten wollen sich damit abfinden, und zwar, um es ganz offen auszusprechen, aus dem einfachen Grund, dass sie ziemlich schwach an die Auferstehung, aber ziemlich stark an das Wohlergehen hier auf Erden glauben, welches von den Aposteln dagegen als „Dampf, der verschwindet“ bezeichnet wird (vgl. Jak 4:14). Dies ist es, warum der pseudo-christliche Westen die Ablehnung dieses Lebens durch das Christentum nicht verstehen will und kann, welches uns gebietet zu kämpfen, indem wir „den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen (haben) und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol 3:9f).

Liebe, und wie man sie bewahrt

„Das Christentum ist Liebe des Nächsten, und Liebe ist Mitgefühl in der Not“ werden heutige Christen und vor allem Christinnen bemerken: „Askese ist doch eine Erfindung von Mönchen“.

Ich werde ersteres jetzt nicht bestreiten, wie K. Leontjew12 dies einst tat; ich sage es sogar folgendermaßen: Wenn Liebe ohne geistliche Aufopferung, ohne inneren Kampf und ohne äußere Askese möglich wäre, dann würden ersteres und letzteres nicht notwendig sein. Doch die Liebe erkaltete in den Menschen genau in dem Moment, als sie mit Luthers Worten davon zu sprechen begannen. Es erfüllte sich das Wort: „Und weil die Gesetzlosigkeit wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten“. Wo es keine Aufopferung, keinen Kampf gibt, dort herrschen die Leidenschaften und die Gesetzlosigkeit, und wo die Sünde regiert, dort erkaltet die Liebe und die Menschen beginnen einander zu hassen (vgl. Mt 24:10).

Zum zweiten Punkt. Wahrlich, Liebe zeigt sich vor allem im Mitgefühl, aber nicht so viel im Mitgefühl mit den äußeren Nöten der Nächsten, als vielmehr mit ihrer Sündhaftigkeit, und dieses Mitgefühl ist nur jenem zugänglich, der um seine eigenen Sünden weint, d.h. für einen selbst mit der Sünde kämpfenden Menschen.

„Askese ist eine Erfindung von Mönchen“… Eine Moskauer Dame drückte sich noch entschlossener aus: „Eure ganze Religion ist von Popen erdacht; ich anerkenne nur die Iwerskaja Muttergottes13 und den Märtyrer Triphon („l'Iverskaya et Triphon le Martyr“14), der Rest ist Unfug!“. Aber diese Aussage zeigt vor allem, dass unsere gebildeten Leute das Wort „Askese“ nicht verstehen.

Mit diesem Begriff wird durchaus kein Lebensweg vorgezeichnet, und er schließt nicht von sich aus Keuschheit, Fasten oder Anachorese ein. Askese, oder geistliche Aufopferung, nennt man ein von Arbeit an sich selbst erfülltes Leben, ein so geführtes Leben, dass es die Vernichtung seiner Leidenschaften zum Ziel hat: Ehebruch, Ehrgeiz, Bosheit, Neid, Völlerei, Faulheit usw., und die Erfüllung der Seele mit dem Geist der Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe, welche niemals eine alleinstehende Tugend, sondern die Begleiterin und Erfüllerin der angeführten Eigenschaften der Seele ist.

Natürlich wird ein Christ, der seinen Weg gehen will, selbst einsehen, dass er sich von der weltlichen Zerstreuung abwenden, den Körper demütigen, viel zu Gott beten muss – aber diese Aufopferungen haben keinerlei endgültigen Wert in den Augen Gottes, sondern bekommen diesen nur für uns selbst als Bedingung für das Erlangen geistlicher Gaben. Einen viel größeren Wert haben geistliche Aufopferungen, welche im Bewusstsein des Menschen ablaufen: Selbsttadel, Selbsterniedrigung, Selbstwiderstand, Selbstnötigung, Selbstprüfung, Vorhaltung des Lebens im Jenseits, Kontrolle über die Gefühle, Kampf mit inneren Anfechtungen, Reue und Buße, Zorn auf die Sünde und die Versuchung und so weiter – all das, was dem heutigen gebildeten Menschen so fremd ist und jedem einfachen Dörfler, früher wie heute, so klar vor Augen steht. Genau dies ist das spirituelle Alphabet, von welchem Bischof Tichon15 spricht16.

Genau darin besteht der essentielle Gehalt des wahren Christentums als einer Aufopferung des gesamten Lebens, ein Gehalt, der von westlichen Bekenntnissen vergessen wurde, aber im Zentrum orthodoxer theologischer Literatur steht, welche die ganze göttliche Offenbarung, alle biblischen Ereignisse und Parabeln vor allem hinsichtlich ihrer Anwendung beim stufenweisen Erreichen geistlicher Vollkommenheit interpretiert.

Durch Seine Menschwerdung, Seine Demütigung und Sein Leiden für unsere Sünden brachte uns der Erlöser durch Seine Person und Gemeinschaft mit Ihm die Möglichkeit eben dieser geistlichen Übung, und darin erschließt sich unser Weg zum Heil. Die einen gehen diesen Weg freiwillig und bewusst, indem sie ein geistliches Leben verbringen (vgl. Phil 2:12), andere leben ein solches fast gegen ihren Willen, ändern sich durch die von Gott gesandten Leiden und die kirchliche Disziplin, wieder andere reinigen erst kurz vor ihrem Tod ihre Zerstreuung durch Beichte und erlangen die Erleuchtung im Jenseits; das Wesen der christlichen Aufopferung besteht jedoch in der Askese, in der Arbeit an der eigenen Seele; darin auch besteht das Wesen der christlichen Theologie.

Unwissenheit vs. Vernunft

Wenn man alle Irrungen des Westens nachprüft – sowohl die, welche sich in dessen Glaubenslehre niederschlagen, als auch die der dortigen Moral eigenen, die uns alle durch das „Fenster nach Europa“17 übergeben werden – so werden wir sehen, dass sie alle im Unverständnis des Christentums als einer Aufopferung hin zu einer schrittweisen Selbstvervollkommnung des Menschen wurzeln.

Solcherlei ist die lateinisch-protestantische Lehre über die Erlösung als an Jesus Christus vorgenommene Genugtuung für die von Adam vorgenommene Beleidigung der göttlichen Majestät, die aus feudalem Dünkel über die Ritterehre, welche durch das Blut des Beleidigers wiederhergestellt wird, erwachsen ist; solcherlei ist die materielle Lehre über die Sakramente; solcherlei ist ihre Lehre über das neue Instrument der göttlichen Offenbarung in Person des römischen Papstes, ganz unabhängig davon, welch ein Leben dieser führt; solcherlei ist auch die Lehre über die Verdienste und die überzähligen Verdienste18. Solcherlei ist, letztendlich, die Lehre der Protestanten über den einzig erlösenden Glauben, welche die gesamte Kirche als Organismus ablehnt.

Aus all diesen Irrungen spricht der Blick auf das Christentum als etwas unserem Bewusstsein und Gewissen fremden, als handele es sich dabei um ein Übereinkommen zwischen uns und der Gottheit, die von uns aus unerfindlichen Gründen die Anerkennung irgendwelcher unverständlichen Formeln verlangt und dafür mit dem ewigen Heil dankt. Um sich vor verständlicherweise erwachsenden Einwänden abzuschirmen, haben die westlichen Theologen ihre Lehre über die vorgebliche Unbegreiflichkeit nicht nur des göttlichen Wesens, sondern auch des göttlichen Gesetzes verstärkt und verlangen – in Person der Scholastiker, in Person des Luther und sogar des zeitgenössischen Ritschl19 – die Vernunft als einen Feind des Glaubens anzuerkennen und gegen sie anzukämpfen, während die Kirchenväter, wie zum Beispiel der hl. Basileos der Große und sogar Isaak der Syrer nicht die Vernunft, sondern menschliche Dummheit, Zerstreuung, Unachtsamkeit und Sturheit als Feinde des Glaubens bezeichnen.

Revidierte Werte

Wenn wir unseren Blick nun von den religiösen Irrungen des Westens abwenden und auf dessen moralische Überzeugungen richten, so werden wir bei einigen von ihnen gar Verdrehungen christlicher Gebote finden, und diese Verdrehungen wurzeln mittlerweile so tief im Fundament westlichen Lebens, sowohl des privaten als auch des gesellschaftlichen, dass nicht einmal kulturelle Umwälzungen, die christliche Altäre umstürzten und Königsthrone zerstörten, diese wilde und unmoralische Befangenheit beseitigen konnte.

So predigt der Herr die Vergebung aller, die westliche Moral dagegen Rache und Blutvergießen; der Herr gebietet uns Demut und uns selbst als die Sündigsten zu sehen, der Westen dagegen stellt das „Selbstwertgefühl“ über alles; der Herr gebietet uns, freudig zu sein, wenn wir beschimpft und vertrieben werden, der Westen verlangt „Wiederherstellung der Ehre“; der Herr und die Apostel nennen den Stolz „dämonisch“, der Westen nennt ihn „Edelmut“. Der niedrigste russische Bettler, manchesmal auch bereits ein halbgläubiger Fremdling, der insgeheim noch heidnischen Praktiken nachgeht, versteht es besser, Gut und Böse zu unterscheiden, als diese Moralisten der tausendjährigen westlichen Kultur, die so traurig Bruchstücke des Christentums mit der Lüge des Humanismus vermischen.

Und im Grunde all dieser Irrungen liegt das Unverständnis für die einfache Wahrheit, dass das Christentum eine asketische Religion ist, dass das Christentum die Lehre vom schrittweisen Abstoßen der Leidenschaften, über die Mittel und Bedingungen einer allmählichen Erlangung von Tugendhaftigkeit ist; diese Bedingungen sind einerseits innere, bestehend in Aufopferung, andererseits von außen kommende, bestehend in unseren dogmatischen Grundsätzen und gnadenerfüllten Mysterien, die alle eine Bestimmung haben: Nämlich die menschliche Sündhaftigkeit zu heilen und uns zur Vollkommenheit empor zu führen.

Zwischenüberschriften wurden in der Übersetzung eingefügt.


  1. Alexei Stepanowitsch Chomjakow (1804-1860), russischer Dichter, Theologe und Philosoph, einer der Begründer der Slawophilie – Verm. d. Ü. 

  2. Der Autor meint vermutlich das 1838 erschienene katechetische Werk „Die Eine Kirche“ (Церковь одна) – Verm. d. Ü. 

  3. Amwrosij (Grenkow) von Optina (1812-1891), 1988 heiliggesprochen – Verm. d. Ü. 

  4. Johannes von Kronstadt, bürgerlich Iwan Iljitsch Sergijew (1829-1909), 1964/1990 heiliggesprochen – Verm. d. Ü. 

  5. Bischof Theophan (Goworow), „der Klausner“ (1815-1866), 1988 heiliggesprochen – Verm. d. Ü. 

  6. Metropolit Antonij (Chrapowitzkij) war 1891-1895 Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie – Verm. d. Ü. 

  7. Hans Lassen Martensen (1808-1884), dänischer Theologe und lutherischer Bischof von Seeland – Verm. d. Ü. 

  8. „Herr und Gebieter meines Lebens, Gib mir nicht den Geist des Müßiggangs, des Verzagens, der Herrschsucht und der Geschwätzigkeit. Schenke vielmehr mir, Deinem Diener, den Geist der Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe. Ja, Herr, mein König, gewähre mir, meine Sünden zu sehen und meinen Bruder nicht zu verurteilen, denn gesegnet bist Du in alle Ewigkeit, Amen.“ (Gebet des hl. Ephräm des Syrers) 

  9. Der Autor sieht die Regentschaft Peter I. des Großen als Zäsur in der Geschichte des russischen Staats und der Kirche. Peter der Große hat u.a. das Patriarchenamt abgeschafft und die russische Kirche de facto einem Ministerium unterstellt, womit einer profunden Säkularisierung der Weg bereitet wurde – Verm. d. Ü. 

  10. Hl. Makarios der Große (der Ägypter) (um 300-390) war ein Anachoret und gilt als Autor einer Reihe an Homilien und Gebeten, von denen einige in die tägliche Gebetsregel orthodoxer Christen aufgenommen worden sind – Verm. d. Ü. 

  11. Sergej Alexandrowitsch Ratschinskij (1833-1902) war ein russischer Botaniker und Mathematiker – Verm. d. Ü. 

  12. Konstantin Nikolajewitsch Leontjew (1831-1891), russischer Religionsphilosoph und Schriftsteller – Verm. d. Ü. 

  13. Gemeint die Ikone „Gottesmutter von der Pforte“ (Παναγία Πορταΐτισσα), die im Kloster Iviron auf dem Athos in Griechenland aufbewahrt wird – Verm. d. Ü. 

  14. Wie der größte Teil der russischen Nobilität des 19. Jahrhunderts sprach die zitierte Dame wohl Französisch statt Russisch – Verm. d. Ü. 

  15. Bischof Tichon (Sokolow) von Sadonsk (1724-1783), 1861 heiliggesprochen – Verm. d. Ü. 

  16. „Zwei Arten gebildeter und weiser Menschen gibt es: Die einen lernen in Schulen aus Büchern, und viele von ihnen sind weniger klug als einfache und ungebildete Leute, da sie das christliche Alphabet nicht kennen; sie schärfen ihren Verstand, korrigieren und verschönern Wörter, ihr Herz aber wollen sie nicht verändern. Die anderen lernen im Gebet mit Demut und Beharrlichkeit, werden vom Heiligen Geist erleuchtet und werden weiser als alle Philosophen dieser Zeit; sie sind fromm und heilig, sind gottgefällig; sie kennen zwar das Alphabet nicht, verstehen aber alles sehr gut; sie sprechen einfach und grob, aber sie leben wunderbar und wohl. Diesen, o Christ, tue es gleich“ (Tichon (Goworow), Bischof von Sadonsk; „Über das wahre Christentum“, Bd. 2, Kap. 2, §371). 

  17. Geflügeltes Wort, das auf eine Zeile aus Alexander Puschkins Poem „Der eherne Reiter“ zurückgeht und mit dem der kulturelle Austausch mit dem Westen im weitesten Sinn gemeint ist – Verm. d. Ü. 

  18. Gemeint ist die röm.-kath. Lehre vom Gnadenschatz der Kirche, derzufolge sich ein Sünder, dem es an eigenen Verdiensten zum Heil mangelt, aus dem Gnadenschatz der Kirche „bedienen“ kann, in dem auch die Verdienste Christi und der Heiligen, die über den „Preis“ ihres eigenen Heils hinausgehen (überzählig sind), aufbewahrt und den Gläubigen zugänglich gemacht werden – Verm. d. Ü. 

  19. Albrecht Benjamin Ritschl (1822-1889), evangelischer Theologe – Verm. d. Ü.