:chartophylax:

Der einsame Mann mit dem Vorschlaghammer

Nachruf auf Jewgeni Prigoschin, den Chef der Söldnergruppe "Wagner".

Autor: Dmitrij Olschanskij

29. August 2023

 Russland   Ukraine   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 12 Minuten

1.

Solche Leute finden sich immer irgendwo in der Geschichte. Mal sind es großen Gesten zugetane Räuber aus finstren Wäldern, mal sittenlose Ritter, die während der Kreuzzüge und Plünderungen von ihrem König abgeschlagen wurden, mal grausame Konquistadoren, die durch ganze Kontinente zogen, mal Piraten der Karibik mit Kaperbrief oder ohne, mal Warlords in Bürgerkriegen, in denen es nicht so wichtig ist, für wen man streitet, mal Cowboys, die finster von „Wanted“-Plakaten dem Galgen entgegensehen, ein andermal einfach nur kecke Typen, die aus dem Bauch heraus ihrem Stern folgen.

Erst haben sie immer Glück, dann unglaubliches Glück, und nachher haben sie, aus unerfindlichen Gründen, gar kein Glück mehr.

Sie spielen, setzen ihr Schicksal, spielen schnell und viel, und sie spüren jeden Augenblick, dass ihnen einst etwas Ungutes widerfahren wird.

2.

Die Geschichte formt sich das, woran sie Bedarf hat, und das tut sie aus jedem beliebigen, sich gerade darbietenden Material, in etwa so, wie ein handwerkstüchtiges Mannsbild sich etwas Wunderbares aus einem Drahtwickel, einem Haufen Schrott und alten Fetzen zu formen versteht.

Wer hätte sich vorstellen können, dass ein sportlicher Leningrader Junge, später Beschuldigter in einem hässlichen Kriminalfall mit langer Haftzeit, dann zwielichtiger Geschäftemacher auf den kriminellen Straßen von Sankt Petersburg, dann Restaurantbetreiber und Veranstalter von Banketts zu Hofe, Eigentümer von diesem und jenem, also eine zweifelsohne schillernde Persönlichkeit, jedoch aus einer bestimmten, uns wohl bekannten Mischpoke, plötzlich zur zornigen Stimme des Krieg führenden Russland wird, zum Symbol der Rage an der Front, zum Helden einer ganzen patriotischen Menge?

Wie kam es überhaupt dazu, dass dieser tobende, sechzigjährige Prigoschin in der Kluft eines Sturmsoldaten im russischen Äther entstehen konnte, seine unerlaubten Reden hielt, während er an vorderster Linie im Donbass inmitten von zerstörten Mehrgeschössern stand?

Darüber wird man auch noch im zweiundzwanzigsten Jahrhundert sinnieren.

3.

Die von Prigoschin gegen die Armee der Ukraine gewonnene Schlacht um Bachmut ist deshalb zu einem großen nationalen Sieg geworden, weil diese Schlacht auf dem Höhepunkt der Gegenwehr der feindlichen Seite verlief.

Die Erfolge Russlands im Jahr 2022 – vor allem am Asowschen Meer – kann man, abgesehen vom unbestreitbaren Mut des russischen Soldaten, auch noch mit den günstigen Umständen erklären, genauer mit dem Überraschungseffekt des Februar, mit der fehlenden Bereitschaft des Feindes, überall gleichzeitig zu kämpfen, und natürlich mit einer damals noch nicht vorhandenen signifikanten westlichen Unterstützung. Doch zu dem Zeitpunkt, als Prigoschin an der Spitze seines „Sherwood Forest“ gegen Bachmut zog, war gegen ihn bereits eine vollwertige reguläre Armee aufgestellt, die von der gesamten westlichen Welt stark gemacht worden ist. Würde denn dieser schreckliche Typ, welcher sein „Wagner“ aus pensionierten Militärs und Vagabunden zusammengebaut hat, einem ganzen Staat die Stirn bieten können?

Aber er konnte es eben. Zu welchem Preis – das ist natürlich eine wesentliche Frage, für seinen Ruhm allerdings ist sie schon zweitrangig. Der Poet sagte darüber ein für alle Mal: „Wie viel Soldatenblut ließ er fließen in fremde Erde! Was denn, grämte er sich? Was wird er entgegnen, begegnet er ihnen in der Unterwelt Kreisen? »Ich habe Krieg geführt.«“1

Zumal diese Erde – es war ihm egal, aber ich bestehe darauf – ihm nicht fremd ist.

4.

Die Lebensphilosophie dieses unruhigen Menschen wurde von Puschkin formuliert.

Das Gesicht des Usurpators sprach von befriedigter Eigenliebe.

»Ja«, sagte er heiter, »wenn ich schon kämpfe, dann auch ordentlich. Weiß man auch bei euch in Orenburg von meiner Schlacht bei Jusejew? Vierzig Generäle wurden totgeschlagen, vier Armeen kapitulierten. Was aber meinst du: könnte der Preußenkönig es mit mir aufnehmen?«

Die Prahlerei des Räubers machte mich lächeln.

»Und was hältst du selber davon?«, sagte ich ihm, »würdest du mit Friedrich fertig werden?«

»Mit Fjodor Fjodorowitsch2? Warum denn nicht? Mit euren Generälen bin ich doch fertig geworden, die aber haben ihn geschlagen. Bis jetzt ist das Glück meinen Waffen noch treu gewesen. Gib mir Zeit und es werden noch ganz andere Dinge geschehen, wenn ich erst auf Moskau ziehe!«

»Also gedenkst du auf Moskau loszugehen?«

Der Usurpator dachte ein wenig nach und sagte halblaut:

»Weiß Gott! Mein Weg ist schmal; man lässt mir nicht viel Freiheit. Meine Leute werden aufsässig. Sie sind Diebe. Ich muss meine Ohren steifhalten: bei der ersten Niederlage werden sie ihren Hals mit meinem Kopf bezahlen.«

»Eben«, sage ich zu Pugatschow, »und wäre es da nicht besser, wenn du selber sie rechtzeitig verließest und dich an die Gnade der Kaiserin wendetest?«

Aber Pugatschow lächelte bitter.

»Nein«, antwortete er, »zur Reue ist es für mich zu spät. Man wird mich nicht begnadigen. Ich will fortfahren, wie ich begonnen habe. Und wer weiß denn? Vielleicht glückt's! Grischka Otrepjeff hat über Moskau geherrscht.«

»Aber weißt du auch, wie er endete? Man warf ihn aus dem Fenster, schlug ihn tot, verbrannte ihn, lud mit seiner Asche eine Kanone und schoss sie ab.«

»Hör mal«, sagte Pugatschow in wilder Begeisterung, »ich will dir ein Märchen erzählen, das mir, als ich noch ein Kind war, eine alte Kalmückin erzählte. Der Adler fragte einmal den Raben: ›Sag mal, Rabenvogel, warum lebst du auf der weiten Welt dreihundert Jahre und ich nur im ganzen dreiunddreißig?‹ – ›Darum, Väterchen‹, antwortete ihm der Rabe, ›weil du lebendiges Blut trinkst, ich aber mich von Aas nähre.‹ Der Adler dachte nach: ›Ich will versuchen, mich auf dieselbe Weise zu nähren.‹ Gut. Adler und Rabe machten sich auf den Weg. Plötzlich sahen sie ein gefallenes Pferd, flogen herab und setzten sich darauf. Der Rabe fiel sofort darüber her und lobte es. Der Adler hackte einmal hinein, dann noch einmal, breitete die Flügel aus und sagte zum Raben: ›Nein, Bruder Rabe, ehe ich mich dreihundert Jahre von Aas nähren sollte, ist es besser, sich einmal in lebendigem Blute zu berauschen; dann aber, wie Gott will!‹3

Petruscha antwortet dem Jemeljan dort, dass von Mord und Raub zu leben für ihn heiße, sich von Aas zu nähren, doch handelt es sich dabei um die Wahrheit aus einer edlen Welt, sie eignet sich nicht für einen Dämon, der seine eigene Moral und seine eigene, unausweichliche Strafe dafür zu erwarten hat.

5.

Lassen wir jegliche Illusion beiseite: Es gibt bereits genügend Zeugnisse für die Brutalität, den Zynismus und die finstren Gesetzlosigkeiten, die unser Held alle begangen hat, so dass man ihn nicht für jemanden wie Garibaldi oder Che Guevara halten kann, sondern nüchtern einräumen muss, dass er direkt von der großen Straße in die russische Geschichte eintrat.

Wir wollen noch hinzufügen, dass die Verklärung der Gewalt, die sein unheilvolles Heer auszeichnet, in keiner Weise mit dem in Russland üblichen humanistischen Bild des Soldaten in Einklang zu bringen war, der sich im Namen des großen Ziels, das heißt also: im Namen des Sieges und des Friedens in den Schützengraben begibt. Die „Wagners“ liebten nicht das Ergebnis, sondern den Prozess, womit sie eher den Wikingern ähneln als unseren sowjetischen Veteranen, und der Vorschlaghammer, den Prigoschin sich zum Symbol erkoren hatte, war dazu da, Schrecken zu verbreiten, und durchaus nicht dazu, seine Art der Beschäftigung zu poetisieren.

Mehr noch: Man sollte ihm auch keinen imaginären Idealismus oder eine politische Prinzipientreue zuschreiben, jene Eigenschaften, die es zuhauf bei den Leuten gibt, die unfähig dazu sind, Städte einzunehmen, die sich aber dafür mit allerlei „Ismen“ auskennen. Prigoschin zitierte Klassik und schlug sich, weil er sich schlug, er war auf Erfolg, auf Fortuna, auf Ruhm aus und durchaus nicht auf die endgültige Niederlage der Ukraine, die er, mir zum Verdruss, gar zu oft lobte. Sein Schneid stammte aus jener Epoche, in der es noch keine gefestigten Nationen und Staaten mit jeweils gesonderter Loyalität gab, als ein fahrender Baron, ein Gold- und Abenteuerlustiger sein eigener Herr gewesen ist.

Nichtsdestoweniger braucht Russland solche Leute. Bei alledem, was man ihnen vorhalten kann, sind sie jenes Salz, ohne das man das Gericht unserer Größe nicht zubereiten kann.

6.

Die Beliebtheit des Jewgeni Wiktorowitsch, derer er sich sowohl unter den Fachleuten aus dem Militär, als auch im Volk erfreute, beruhte auf zweien seiner Wesenszüge.

Erstens – und das ist es, was ihn zu einer Autorität in den Schützengräben machte – bevorzugte er bei seiner Arbeit eine positive Selektion; er war auf Gewinn aus und kassierte nicht die Verluste. Mit anderen Worten, er stellte die Besten auf, gab denen, die mit Wissen ausgestattet waren und sich hervorgetan hatten, ein Stimmrecht, er fällte Entscheidungen im Interesse der Sache und nicht nach dem Prinzip „dass da mal bloß nichts schiefläuft“ oder „wir stimmen unser Vorgehen bei dieser Problematik mit der Gattin des Schwagers des Bruders des Studienkollegen von Iwan Iwanowitsch ab, vorerst belassen wir alles so, wie es ist“. Auf gewisse Weise handelte Prigoschin wie der klassische alte Amerikaner, außer, dass er nicht gerade seine Füße auf den Tisch legte und keine Zigarren rauchte, und diese seine Ausrichtung auf den Nutzen – statt auf bürokratische Rituale – lockte alle, die der Ausweglosigkeit der bürokratischen Beamtenwelt überdrüssig waren.

Das zweite und wichtigste – das, was ihn für die Zivilisten zum Star machte – das sind seine Emotionen.

Russland mangelt es katastrophal am Effekt einer persönlichen Beteiligung von Leuten mit Geld und Status an den Nöten der Allgemeinheit. Die fischköpfigen Amtspersonen brabbeln die ihnen gebotenen Texte, und es ist genauso sinnlos, von ihnen wenn schon keine Güte, dann wenigstens Empathie oder Wut zu erwarten, wie es sinnlos ist, der Landung von Marsmenschen zu harren. In Russland existiert keine politische Rede in Ich-Form, es gibt keinen direkten Dialog der Macht mit den Bürgern, es gibt keinen solch charismatischen Stil, der die magnetische Anziehungskraft eines direkten Engagements des Bosses im Leben der einfachen Sterblichen besäße.

Offen gestanden handelt es sich dabei um ein weltweites Problem – wir sehen ja überall die Plastik-Macrons und die blausauren Bidens, wir sehen, wie verzweifelt die gemeinen Amerikaner an ihrem Helden Trump festhalten – trotz des einhelligen Hasses der Eliten, trotz aller Strafverfahren – aber in Russland nimmt die Kälte, die Gleichgültigkeit, die sich unter anderem in dieser toten Beamtensprache mit ihren „durchgeführten Maßnahmen“ und der „Arbeit mit der Bevölkerung“ ausdrückt, geradezu katastrophale Ausmaße an.

Die Menschen möchten, dass jemand Starkes sich direkt an sie wendet, mit ihnen zusammen fiebert, für sie in Zorn gerät, Rache für sie übt, dem Feuer entgegengeht, obwohl er das theoretisch gar nicht müsste. Die russischen Menschen sind wie Waisen, ein ungeliebtes, mit Aufmerksamkeit übergangenes Volk.

Und Jewgeni Wiktorowitsch gab ihnen diese Aufmerksamkeit, er gab ihnen seine eigene, laute Stimme.

Manche werden sagen: Das war eine Imitation, nichts als Theater. Ich aber werde sagen: Um etwas recht zu imitieren, muss man es ernsthaft durchlebt haben.

7.

Den schicksalsträchtigen Tag des 24. Juni 2023 verbrachte ich im Zustand vollkommener Zerrüttung.

Sicherlich gefiel mir der Mut der „Wagners“, Prigoschins ständiger Klartext, dieses ungehaltene Geschrei, dieses gewaltige Ausholen, aber gleichzeitig war ich mir dessen bewusst, dass just in diesem Augenblick und just durch diese schillernden und nützlichen Leute gerade ein schweres Verbrechen verübt wird, nämlich ein Aufstand im Rücken der Front mit unbekannten Folgen. Diese Tat konnte man verstehen, aber nicht gutheißen, denn es handelte sich dabei um eine schicksalhafte Geste der Selbstzerstörung, die drohte, ganz Russland mit sich zu reißen, aber zum Glück hatte es sich mit einer vierundzwanzig Stunden langen nervlichen Anspannung auch wieder erledigt.

Heldenmythen über gleich welche Helden – von all den Rittern, Piraten, Cowboys, Räubern und selbsternannten Befehlshabern – sind so aufgebaut, dass ihr Protagonist dazu verdammt ist, irgendwann einen grandiosen Fehler zu begehen und tragisch zugrunde zu gehen, anders läuft es fast nie. Der Held nimmt viel auf sich, und am Ende zahlt er den Preis, er wehrt die Schläge gegen die ab, die vorn stehen, muss aber am Ende den Schuss in den Rücken durchgehen lassen; er wird unbedingt verraten, abgestraft, hervorgezerrt, wenn nicht durch die einen, dann durch andere.

Ein Held ist immer Großtuer, wie Jemeljan der Usurpator, der die Macht durch das Recht des Stärkeren und Frechen an sich reißt, aber dieser Hochmut, dieser Narzissmus handelt ihm das trügerische Gefühl uneingeschränkter Möglichkeiten, einer Unverletzbarkeit ein, und er vergisst, dass alles seine Grenzen hat.

Prigoschin spielte das Spiel nach diesen Regeln komplett durch.

Auch jetzt, da er nicht mehr ist, kann ich das, was er da angerichtet hat, immer noch nicht rechtfertigen, aber jetzt ist es bereits zu spät, über ihn zu urteilen. Durch seinen Tod hat er die Rechnung beglichen.

8.

Jewgeni Prigoschin hat sich eine großartige Devise ausgedacht, und jedes Mal, wenn er seine Ansprachen aufzeichnete, erschien er immer mit ein und denselben Worten, die man leicht an seiner Uniform ausmachen konnte.

Fracht 2004, wir sind mit euch.

Die Solidarität mit den Toten, mit denen, die umgekommen sind und nicht wissen, ob nun Bachmut unser ist oder nicht, ist wohl die natürlichste aller Sachen für die, welche kämpfen, doch solange der Mann mit dem Vorschlaghammer noch lebte, konnte man diese Formel für simple Rhetorik halten. Denn tatsächlich: Er ist reich, hat Einfluss, ist berühmt, und wer sind denn die, diese umgekommenen Knastis und Sturmsoldaten? Niemand von Bedeutung, Listen von Namen auf Steinen.

Doch der Kommandeur teilte das Schicksal all seiner Gefechtsverluste. Und all das, was an seinem Verhalten als Theater, Politzirkus, giftige Exzentrik und schließlich auch als unentschuldbares Verbrechen erschienen sein mag, wird durch die traurige Gemeinsamkeit der Schicksale verklärt.

Der Staat wird ihn vergessen. Den Aufwiegler aus seinen fiskalischen Berichten tilgen, denn bei uns läuft doch alles gut.

Das russische Volk aber wird ihn nicht vergessen. Das russische Volk mag solche Leute – verzweifelte, brigantische, böse und lustige, die ihren Kopf wer weiß wofür hingeben. Weil sie einen solch jugendlichen Schneid haben.

Alles ist gewesen und alles ist vorbei. Kein Geschäftsmann, kein Krimineller, kein Veranstalter von Banketts, und auch kein Herr einer Armee aus Baschi-Bosuks mehr – er ist in die Geschichte eingegangen.

Und dort, in der Geschichte, wo man grelle Farben schätzt, wird man ihm das Böse vergeben und Gutes hinzudichten.

Quelle: octagon.media


  1. Joseph Brodsky, „Zum Tode Schukows“ (1974) 

  2. Gemeint Friedrich der Große – Verm. d. Ü. 

  3. aus: Alexander S. Puschkin, „Die Hauptmannstochter“, Elftes Kapitel: „Das Haus der Aufrührer“. Zit. nach: Projekt Gutenberg, https://www.projekt-gutenberg.org/puschkin/hauptman/chap011.html 

  4. militärisches Codewort aus Sowjetzeiten, bezeichnet den Transport gefallener Soldaten – Verm. d. Ü.