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Die Königliche

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

19. Februar 2018

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 7 Minuten

Jelena Pawlowna gehörte zu einem inzwischen verdorrten Zweig einer alten Adelsfamilie. Sie war ausgenommen schön, und obwohl ihre Erscheinung mit den Jahren natürlichen Veränderungen unterworfen war, war diese Schönheit keinen Augenblick von ihr gewichen. In den Zeiten ihrer Kindheit sagte man von ihr folglich „Märchenprinzessin“, in ihrer Jugend „bezauberndes Fräulein“, im reifen Alter bezeichnete man sie als „umwerfende Frau“ und im fortgeschrittenen Alter als wunderschöne Oma. Abgesehen von der Schönheit allerdings, die den russischen Frauen zum Glück noch nicht abhandengekommen ist und die jeden, der seinen Gesichtssinn noch nicht vollkommen verloren hat, erfreuen kann, besaß Jelena Pawlowna noch eine weitaus seltenere Eigenschaft – eine einzigartige Eigenschaft, kann man sagen: Sie war königlich.

Was denn nun dieses Königliche ist, das lässt sich sehr schwer exakt bestimmen. Eines ist gewiss: Diese Eigenschaft ist die von manchen Frauen. Zu Männern passt eher die Herrschaftlichkeit – königliche Männer erinnern unbedingt an Truthähne. Alle, die sie sahen, bemerkten ihre Haltung, wie sie ihren Kopf wendete, besonders aber die Art und Weise, wie sie sich fortbewegte. Jelena Pawlowna lief nämlich nicht so, wie alle anderen – es schien, als trüge sie sich selbst, und das kerzengerade, ohne Hast und unerschütterlich. Dabei ging ihr jegliche Überheblichkeit und jeglicher Hochmut ab, mit den Leuten verkehrte sie erstaunlich leicht und war sich nicht einmal für die schmutzigste aller Arbeiten zu schade.

Jelena Pawlowna habe ich nicht mehr getroffen: Es waren ihre Enkelinnen, die mir über sie berichteten, und das waren bereits Damen in durchaus erwachsenem Alter. Ihre viel gerühmte Großmutter wurde im Jahr 1900 geboren und schaffte es noch, das Gymnasium abzuschließen, und diese Ausbildung genügte dazu, dass man sie bis ans Ende ihres Lebens für eine Philologin, Historikerin und Kunstwissenschaftlerin hielt. Niemand weiß, warum sie nicht aus Russland ausgereist ist. Möglicherweise aufgrund der Liebe, die sie mit einem jungen Arzt verband: Sie heirateten insgeheim und flohen aus Moskau in die Tiefen der Provinz. Dort wurden ihnen vier Töchter geboren. Ungeachtet der Schwierigkeiten der damaligen Zeit ist es ihnen gelungen, sie alle taufen zu lassen.

Als der Krieg begann, wurde ihr Mann zur Kriegsmarine einberufen. Zwei Jahre lang operierte er in Feldlazaretten, und danach wurde er in die Hauptstadt versetzt. So ist Jelena Pawlowna schließlich in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt.

Sie bekamen noch eine weitere Tochter – ihr letztes Kind. Dann begannen die Töchter eine nach der anderen zu heiraten und selbst Kinder zu bekommen, die ganze Zeit nur Mädchen, Mädchen, nur ein einziger Junge war darunter. Die Familien fuhren auseinander, aber die Kinder brachten sie regelmäßig zu ihren alten Großeltern.

Die jüngste der Enkelinnen erzählte, wie sie mitunter zu ihrer Großmutter heranschlich und sie einfach nur begeistert ansah. Diese war entweder dabei, eine Schallplatte mit klassischer Musik zu hören, oder beim Lesen – sie mochte die russische Literatur sehr. Schließlich bemerkte sie das Kind, drehte ihren Kopf – sie hatte einen geraden Rücken, einen Hals wie ein Schwan, und das Kinn hielt sie hoch – und fragte:

„Was bist denn du für eine?“

„Ich – Ljusja.“

„Ljusja …“ – die Großmutter dachte nach. „Wessen Kind bist du?“

„Ich bin von Mama und von Papa.“

„Na, das ist klar. Aber wie heißt denn deine Mama?“

„Mama heißt Natascha.“

„Dann bist du wohl Nataschas Jüngste … Na, geh, geh …“

Sowohl die Töchter, als auch die Enkelinnen beschwerten sich darüber, dass sie viel lieber Zeit mit dem Enkel Andrjuscha verbringt als mit ihnen.

„Das ist auch nicht verwunderlich“, antwortete die Großmutter. „Mit Männern ist es immer interessant: Von ihnen lerne ich mein Leben lang.“

„Was kannst du denn von ihnen lernen, wenn du doch sozusagen schon das Ideal der Weiblichkeit bist?“

„Ideal oder nicht, aber genau diese Weiblichkeit erlerne ich auch: lernen heißt ja nicht unbedingt kopieren. Wenn ich meinen Mann beobachte, kann ich in mir die Eigenschaften aufbauen, derer es dazu braucht, dass wir zusammen ein Ganzes ergeben.“

„Und was lernst du von Andrjuschka, er ist doch erst fünf Jahre alt?“

„Ihr Schönheiten hattet mit fünf Jahren nur eins im Sinn – Schleifchen. Aber er fragt mich zum Beispiel, warum man ihn nicht Georgi Konstantinowitsch genannt hat. Also so, wie Schukow1. Ich erkläre ihm alles über die Vatersnamen und darüber, dass er folglich nur Nikolajewitsch heißen kann, er hört geduldig zu und sagt: ›Na, dann wenigstens Alexander Wassiljewitsch?‹ – Also wie Suworow2…“

„Na und, was macht das schon? Bei uns ging’s um Schleifchen, bei ihnen um Schießgewehre.“

„Das stimmt schon, aber nicht ganz. Eure Aufmerksamkeit war in aller Regel auf euch selbst ausgerichtet und da vor allen Dingen auf das äußere Erscheinungsbild. Er aber hatte kaum gelernt, Buchstaben zu Worten zusammenzulegen, da schrieb er auch schon Fürbittenzettel für die Kirche – da schrieb er sowohl Alexander, als auch Georgi und noch zwei Dutzend anderer Namen. Ich fragte ihn, wer denn all diese Leute seien, und er hat mir alles erklärt – darunter waren Nachimow3 und Ataman Platow4 – denn der hieß Matwej … es geht also gar nicht darum, das Jungs eher an militärischen Themen interessiert sind, sondern darum, dass dieses Interesse in allerlei Tiefen zu dringen vermag. So, nun könnt ihr einmal überlegen, welcher Eigenschaften es bedarf, um ein ganzes Leben mit einem solchen Wesen zu verbringen und es nicht zu langweilen.“

Wenn man sie fragte, was sie denn so Besonderes am Großvater gefunden hatte – denn der war ein einfacher Chirurg – so nannte Jelena Pawlowna immer zwei Dinge: Erstens, die außerordentliche Verantwortung ihres Ehegatten, und sie hielt das Verantwortungsgefühl für die größte der Gaben eines Mannes, und zweitens, seine Vielseitigkeit.

Die Bedeutung dieses Wortes kannten die Enkelinnen nicht, die Töchter wiederum interpretierten es als eine allseitige Begeisterung. Die Großmutter erzählte, dass der Großvater chirurgische Instrumente erfand, mit eigenen Händen einen Kutter gebaut hatte, auf dem die Schwiegersöhne heute noch auf dem Kljasminskoje-Stausee spazieren fuhren, und auf seinen Angel- und Jagdtouren hatte er das ganze große Land befahren.

„Ihr kennt jetzt, außer Hühnerfleisch, keinerlei ›Waldgeflügel‹“, sagte Jelena Pawlowna ihren Enkelinnen. „Euch und eure Mütterchen speiste der Großvater mit Wachteln, Haselhühnern und Auerhähnen. All das holte er selber.“ Außerdem gingen sie jede Woche ins Konservatorium. Sie nahmen auch ihre Töchter mit, brachten ihnen sogar das Klavierspielen bei – letztlich konnten sie damit sogar die Musikschule mit Auszeichnung abschließen, obwohl sie dann, nachdem sie geheiratet haben, die Musik der Vergessenheit anheimfallen ließen und fünf Jahre später schon nicht einmal mehr die einfachste Melodie mit einem Finger spielen konnten.

Nach dem Tod ihres Ehemannes nahm Jelena Pawlowna eine Anstellung als Haushälterin bei einem Opernsolisten des Bolschoi-Theaters an. Eine Rente hatte sie sich nicht erarbeitet, und es lag nicht in ihrem Wesen, Schwierigkeiten auf die Schultern ihrer Kinder abzuwälzen. In dem Haus gab es oft Gäste. Die Frau und die beiden Töchter gingen der Alten gern zur Hand und deckten den Tisch. Manchmal erlaubte sich das Haupt der Familie einen Spaß: Er bat darum, Jelena Pawlowna möge bitte dieses oder jenes holen. Dann erschien sie mit ihrer Schürze in der Tür, und die Gäste erhoben sich unwillkürlich … „Die Königliche“, war der Hausherr jedes Mal begeistert.

Als Jelena Pawlowna starb, nahm er alle Sorgen um sie auf sich. Bei der Beisetzung sagte er zum Abschied:

„In meinem Leben hat es keinen zweiten solchen Menschen gegeben, und es wird wohl auch keinen solchen mehr geben.“ Die Töchter weinten, und eine Enkelin erinnerte sich: „Manchmal kam man zu ihr und konnte den Blick nicht von ihr wenden, da drehte sie ihren Kopf so und fragte: ›Was bist denn du für eine?‹“


  1. Marschall Schukow (1896 – 1974) war Generalstabschef der Roten Armee – Verm. d. Ü. 

  2. A.W. Suworow (1730 – 1800) war ein russischer Generalissimus und gilt bis heute als einer der größten Strategen der Neuzeit. – Verm. d. Ü. 

  3. Pawel Stepanowitsch Nachimow (1802 – 1855) war ein Admiral der Kaiserlich-Russischen Marine. – Verm. d. Ü. 

  4. Graf Matwej Iwanowitsch Platow (1751 – 1818) war ein General der russischen Armee und Ataman der Donkosaken. – Verm. d. Ü.