:chartophylax:

Eine Arbeitseinheit

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Nasch Sowremennik“ (Наш Современник) Nr. 11/2014.

Autor: Jaroslaw Schipow

16. April 2016

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 7 Minuten

Damals war ich so ungefähr zwölf Jahre alt. Für mich vollkommen unerwartet nahm mich der angesehenste Angler unseres Dorfes als Kompagnon zum Angeln mit. Es ging damit los, dass er lange Jahre im diplomatischen Dienst außerhalb unseres Landes verbracht hatte und sich so hervorragende Ausrüstung verschaffen konnte, von der man bei uns damals nicht einmal hätte träumen können. Außerdem wusste er es, die Köder passend auszuwählen – er tauschte den Wurm gegen einen Brotklumpen oder gegen Teig, dem er mal Anisöl, mal Lippenstift mit einem konditoreiartigen Duft beimengte. Wir angelten unter einer Brücke, wo das Wasser bis zu zehn Meter tief war, was natürlich den Brachsen besonders gut gefiel. Wir angelten vom Boot aus, das wir an abgeschnittener Armatur festbanden, die aus den Stahlbetonträgern ragte. Zu meinen Pflichten gehörte es, die Würmer vorzubereiten und mit dem Kescher zu arbeiten, wenn es galt, größere Exemplare aus dem Wasser zu bugsieren. Unser Handwerk lief gut, und so kam es, dass wir jeden Tag jemanden an unserem Fang teilhaben lassen konnten.

Unsere Beschäftigung begann tief in der Nacht und kam immer pünktlich um sieben Uhr morgens zum Erliegen, wenn sich nämlich das kleine Fahrgastschiff der Brücke näherte. Es galt, die Ausrüstung einzusammeln, das Boot vom Betonpfeiler abzustoßen und es so lange festzuhalten, bis sich die von dem kleinen Schiff aufgewühlten Wellen gelegt hatten. Diese Handgriffe hatten wir bis zur Perfektion eingeübt: Der Diplomat stemmte sich mit dem Bein, ich mit dem Ruder ab. Doch eines Tages spielte uns diese Perfektion einen Streich: Vielleicht haben wir uns zu stark abgestoßen, oder vielleicht war die Welle höher als gewöhnlich … Fest steht eines: Mein Kompagnon konnte sich nicht halten und fiel ins Wasser. So bekam der übliche Tagesverlauf auf ganz und gar entschiedene Weise eine Wendung, die eine Abfolge von unerwarteten Ereignissen nach sich zog.

Zurück ins Boot zu klettern gelang ihm nicht, nicht einmal mit meiner schwächlichen Hilfe: Die Kleidung hatte sich voll Wasser gesogen und er vermochte es nicht, den Bord des Bootes zu überwinden. Ich musste ihn abschleppen, allerdings nicht zu unserem Dorf, das ungefähr zwei Kilometer entfernt lag, sondern zum Nachbardorf, das sich jenseits der Brücke befand. Wir schafften es bis dahin. Er kletterte an Land und warf verkrampft seine Jacke, sein Hemd, die Schuhe und Hosen ab … und behielt nur seine hellblauen Seidenunterhosen und einem Strohhut mit breiten Krempen an, und trippelte, vor Kälte zitternd, barfuß zur nächstgelegenen Hütte, über der sich einladend der Rauch aus einem Ofen kräuselte. Ich bewegte mich hinter ihm her. Er brachte den Windfang hinter sich und klopfte behutsam an die Tür – es erfolgte keine Antwort; er klopfte wieder, etwas lauter – niemand meldete sich. Dann öffnete er die Tür einen Spalt weit und gab, noch im Türrahmen stehend, folgende offizielle Erklärung ab:

„Ich bin Diplomat und habe als Konsul gearbeitet …“

Wo er als Konsul gearbeitet hat, konnte ich nicht mehr hören: Ein gusseisernes Töpfchen, voll mit gekochten Kartoffeln, kam, von einer Ofengabel abgefeuert, wie aus einem Katapult geschossen auf uns zugeflogen – gut, dass der Diplomat es noch rechtzeitig schaffte, die Tür wieder zu schließen. Wir standen eine Zeitlang schweigend da, dann sagte er:

„Wollen Sie es vielleicht einmal versuchen?“

Ich konnte mir denken, dass das gusseiserne Töpfchen, das uns zugeflogen kam, wohl nicht das einzige in diesem Ofen gewesen sein mochte, doch nun gab es kein Zurück mehr.

„Tantchen!“, schrie ich. „Wir sind von den Datschen! Aus Bulawino! Das Onkelchen ist aus dem Boot gefallen und vollkommen durchnässt!“

„Von den Datschen?“, fragte sie nach, als sie die Tür öffnete. „Dann kommt herein. Wartet, ich will erst noch die Kartoffeln einsammeln – die habe ich für das Ferkel gekocht.“

„Guten Morgen!“, grüßte der Diplomat, nahm dabei mit der einen Hand den Hut mit den breiten Krempen ab und bedeckte mit der anderen den Eingriff an den hellblauen Unterhosen. Und schlurfte eilends zum Ofen.

Die Hausherrin gab ihm einen Damenkittel und begab sich darauf mit mir hinunter zum Fluss, um die durchnässten Sachen zu holen. Ich nahm derweil meine simple Spinnangel, die ich eigenhändig aus Wacholderholz gebastelt hatte, und ging am Flussufer entlang, während ich immer mal wieder den wie einen kleinen Barsch aussehenden Blinker einwarf. Nachdem ich ihn ein paar mal eingeworfen hatte, fing ich den ersten Hecht meines Lebens.

Ich legte ihn ins Gras, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt, damit er sich nicht wieder auf und davon macht. Und machte mich aufgeregt daran, den Blinker wieder und wieder einzuwerfen – es konnte ja sein, dass noch einer beißt. Und plötzlich bemerkte ich, dass mein Fisch verschwunden war; ich rannte hier- und dahin – er war weg. Ich hob den Blick und sah, dass mein Hecht sich bereits oben auf einer Anhöhe befand – ein großer, schwarzer Kater war gerade dabei, ihn fortzuzerren. Doch ich konnte ihm die Beute wieder streitig machen; der Schwanz des Hechts war leicht angenagt, aber alles andere war noch in bester Ordnung.

Inzwischen begann die Sonne zu wärmen; ich schloss daraus, dass es mit der Angelei zu Ende war, und ging nach Hause. Den Diplomaten störte ich nicht mehr, denn ich nahm an, dass er gut und gerne eingeschlummert sein mochte, während seine Sachen auf dem Ofen trockneten.

Als ich meinem Vater den Fisch vorlegte, war er aufrichtig verwundert. Und dann brachte er mich in Verlegenheit:

„Du wolltest doch Flachs raufen. Die haben heute damit angefangen …“

Ja, das wollte ich. Ich habe diesen Flachs zur Zeit seiner Blüte so lieb gewonnen, dass die Hausherrin mir versprach, mich mitzunehmen, wenn die Zeit der Ernte gekommen war. Allerdings erhoben der Konsul und ich uns sehr früh, noch bevor der Brigadier, der mit einem Pferdewagen unterwegs war, mit dem Griff seiner Knute ans Fenster klopfte. Am Vorabend hatte es ja keinerlei Erwähnung von Flachs gegeben, und im Verlauf der Nacht hatte sich alles komplett geändert. Womöglich war inzwischen der Agronom dagewesen: Der rast mit seinem alten Motorrad über die Dörfer und erteilt verschiedene Anweisungen … Ich sprang durch den Gemüsegarten hinaus aufs Feld. Fand unsere Hausherrin, und die zeigte mir, was zu tun sei, und verließ mich. Allerdings richtete sie, sooft sie sich in der Nähe befand, meine Garben und sprach dabei: „Kleine Händchen hast du, die fassen noch nichts. Ansonsten aber nicht schlecht, du kommst zurecht!“ Wir aßen auf dem Pferdewagen des Brigadiers zu Mittag; die Frauen bewirteten einander mit Milch und Brot, und fütterten auch mich. Und dann ging es wieder daran: Mit der rechten Hand reißt man das Flachs heraus, und in die linke legt man es …

Ich kam vollkommen entkräftet nach Hause. Die Hausherrin sagte, dass ich mir eine Arbeitseinheit1 verdient hätte. Sie rief mich in ihren Abstellraum, wo sie einen Sack voll mit Hirse stehen hatte, und sprach: „Nimm, wie viel du kannst“. Ich schöpfte mit beiden Händen und fragte:

„Und das ist jetzt eine Arbeitseinheit?“

„In bester Weise.“

„Und was soll ich nun damit tun?“

„Nun, geh doch und füttere die Glucke damit.“

Diese Glucke wurde einmal von einem Lastkraftwagen angefahren, aber nicht tödlich, obschon es sie dabei ordentlich zerfledert hatte. Nach dieser Art Ereignis wartete unweigerlich die Suppe auf sie, doch war es mir gelungen, die Glucke in Schutz zu nehmen und dann auch noch, sie gesund zu pflegen. Ich verband ihr den verletzten Flügel, und behandelte ihre geschundenen Läufe mit der Creme, die eigentlich für meine Kratzer und Schrammen bestimmt war. Bestimmt tat ich das nicht besonders gut und nicht besonders richtig, doch die Glucke wurde wieder gesund und unterschied mich fortan von allen anderen Menschen. Beispielsweise bemühte sie sich, mir persönlich mitzuteilen, dass sie ein Ei gelegt hatte, und zeigte mir, wo es zu finden war.

Ich ging hinaus in den Hof, rief die Glucke, woraufhin sie die Brut verließ und zu mir gelaufen kam.

„Hier“, sagte ich ihr, „ich habe dir eine Arbeitseinheit verdient“, und streckte ihr meine Handflächen entgegen.

Die Glucke kostete von der Gabe. Da kamen auch schon die anderen Hühner gelaufen und pickten die ganze Hirse auf. Beim Abendessen, bei dem wir die vom Vater zubereiteten Hechtfrikadellen verzehrten, sagte die Hausherrin:

„Die Angelei will dir viel besser gelingen als der Ackerbau. Du solltest also Fische fangen, Sohn, und die Landwirtschaft überlässt du anderen.“

Ihr wurden damals ganze elf Arbeitseinheiten gutgeschrieben.


  1. Zwischen 1930 und 1966 wurde in der Sowjetunion die Leistung in den Kolchosen in Arbeitseinheiten (wörtl. eigtl. „Arbeitstage“ oder „Manntage“) gemessen. Nach Abzug der Pflichtabgaben an den Staat wurde der Überschuss der Kolchosen – in der Regel in Form der produzierten Naturalien – nach geleisteten Arbeitseinheiten an die Kolchosenarbeiter ausgegeben. – Verm. d. Ü.