:chartophylax:

Das Recht zu nölen

Zum neuen russischen Gesetz gegen Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen

Autor: Dmitrij Olschanskij

02. November 2022

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 9 Minuten

Im heutigen Russland gibt es, wie jetzt scheint, Dinge, die immer gleich bleiben.

Das Land – und besonders der Teil, der mit dem Staat verbunden oder ihm einfach nur loyal ist – schimpft über das heimtückische Amerika, gedenkt des 9. Mai (ganz wie mitunter ein in die Jahre gekommener Champion seine Olympiamedaillen herauskramt), entkräftet durch seine ermattete Geruhsamkeit alle zeitgenössischen apokalyptischen Prognosen, schaut politische Talkshows, wo nun schon seit fast zehn Jahren reißerische „Experten“ über unsere Balgerei mit der Ukraine in deren endlosen Steppen streiten.

Aber es gibt noch etwas, das nicht vergehen will.

Der Kampf gegen die Propaganda dessen, was sich hinter der Abbreviatur „LGBT“ verbirgt (übrigens nennt sich diese Sache in der westlichen Welt inzwischen bereits „LGBTQ+“, und man fürchtet sich geradezu vor der Vorstellung, wofür dieses rätselhafte „Q“ stehen mag).

Das Genie Wenedikt Jerofejew hat dazu ein für allemal gesagt:

Sie aber sollten feststellen, dass die Homosexualität in unserem Land zwar engdültig, aber nicht vollständig überwunden ist. Genauer gesagt, vollständig, aber nicht ganz. Oder besser noch: ganz und vollständig, aber nicht endgültig. Denn was haben die Leute denn jetzt im Sinn? Nur die Homosexualität. Gut, die Araber haben sie auch noch im Sinn, Israel, die Golanhöhen und Mosche Dajan. Aber was ist, wenn man den Mosche Dajan von den Golanhöhen verjagt und die Araber mit den Juden befriedet? Was bleibt dann noch in den Köpfen der Menschen? Nichts als die blanke Homosexualität.1

Wenn man sich das Problem unter dem Gesichtspunkt der Polittechnologien betrachtet, so ist die Mechanik der Duma-Gesetze, welche auf die hauptsächliche Unmoral unserer Zeit abzielen, verständlich: Die Staatsmacht sucht immer, ganz besonders in schwierigen Zeiten, mit dem Volk gemeinsame Themen, die es zu durchleiden gilt, ganz gleich, ob es festliche oder neurotische Themen sind. Und sie müssen auch gefunden werden: Freud, Leid, Ängste, Bedrohungen, jede beliebige Emotion, die es gestattet, die Massen als Unterstützung im Hintergrund zu gewinnen. Und diese Massen im Hintergrund werden ihrerseits einige Dinge, die den Herrschern weniger angenehm sind, einstweilen etwas beiseiteschieben.

Aber Polittechnologien sind langweilig. Interessant ist etwas anderes.

Der prinzipielle Unterschied zwischen der Unmoral des „LGBT“ und der mannigfaltigen Unmoral des zwanzigsten Jahrhunderts, gegen die zu Sowjetzeiten verschiedentlich gesellschaftliche Stürme aufkamen – also Jazz und Rock’n’Roll, Alkohol und Drogen, Jugendmode und verschiedene, wie es damals schien, exotische Bewegungen wie die sogenannten „Stiljagi“, die Hippies und Punks – also, der Unterschied zu diesen besteht darin, dass die Gefühle, die jeweils der alten und der neuen Sünde zugrunde liegen, sich radikal verändert haben.

In früheren Zeiten, als die Bezirks- und Parteikommissariate, die Ortsverbände des Komsomol, die Fahnder der Staatssicherheit, Milizionäre, die Tantchen aus dem Genre „die Hausverwalterin – dein Freund und Helfer“ und die in den Gazetten erzürnten Werktätigen (vielleicht ausgedachte, vielleicht echte – das ist inzwischen nicht mehr so wichtig) irgendeinen von den frechen Leuten attackierten, der die Unvorsichtigkeit hatte, sein Haar etwas länger als vernünftigerweise möglich wachsen zu lassen, einen Ohrring in sein Ohr zu implantieren, sich dort zu entblößen, wo sich das nicht gehört, oder etwas unfassbar lautes auf Gitarre zu spielen, oder kurz – jemanden, der durch sein Verhalten die Sowjetmacht beleidigte und nebenher dem Westen huldigte – alle Teilnehmer am Erziehungsprozess, sowohl die Vertreter der Staatsmacht, als auch der Ruhestörer selbst waren sich im Klaren darüber, dass es hier um einen Versuch geht, zu lustig und zu ausschweifend zu leben. Es ging um Hedonismus. Der stilistische und gewöhnliche (nicht der politische) „Volksfeind“ des zwanzigsten Jahrhunderts war erpicht darauf, aus der langweiligen und grauen Wirklichkeit irgendwohin in eine andere Welt auszubrechen, die er sich anhand einiger Seiten in amerikanischen Journalen oder einiger bei einem Schieber erstandenen echter Langspielplatten selbst ausgemalt hatte – und dort, in jener Welt, konnte man endlich das Leben in jenseitiger Ekstase und immerwährendem Taumel verbrennen. Whisky trinken und Gras rauchen, sich in verrückte Outfits kleiden oder nackt durch die Gegend rennen, ein ohrenbetäubendes Solo mit Saxophon oder dem „volkseigenen“ Stratocaster schmettern, irre Tänze drehen, also, jedenfalls, es volle Kanne krachen lassen. Und die Sowjetmacht, die sich in ihre rattengrauen Kleider hüllte und ihre langweiligen, toten Gebete an Marx und Iljitsch brabbelte, schlug einem solchen Unhold auf die Finger, damit er sich nichts einbilde, sondern bescheiden lebte wie alle, also Wecker-Fabrik-Einkaufsnetz mit Kefir, und so weiter.

Solcherlei war die Unmoral der vergangenen Epoche.

Jetzt ist es anders.

Ich kenne die Ideologie, die Intonation und die Einstellung jener Leute ganz gut, die in Russland damit beschäftigt sind, dieses Lgbt-plus-dieses-und-jenes (besser nicht entschlüsseln) zu propagieren – ich kenne sie, da ich seit Ewigkeiten die Angewohnheit besitze, die Überschriften und Inhaltsangaben von Artikeln zu lesen, die sie in ihren fortschrittlichen Journalen publizieren (ich habe aber, ehrlich gesagt, keine moralischen Kräfte dafür, sie vollständig zu lesen).

Und aus diesem Grunde kann ich mit Fug und Recht behaupten: Diese Ideologen – oder, wie man heutzutage ketzerisch zu sagen pflegt: diese Evangelisten – der allermodernsten linksliberalen Lehren tanzten keine besinnungslosen Tänze, sie scherbeln keine Soli auf irgendeinem lärmenden Instrument, sie trinken nicht, liegen nicht im Drogendelirium herum, knattern nicht auf Motorrädern durch die Gegend, sie denken sich keine skandalträchtigen Outfits aus und – was die Moralisten kaum glauben werden, aber das sollten sie ruhig, ich spreche die reine Wahrheit – diese Störer der Ordnung sind weit von übermäßiger sexueller Freizügigkeit und von allerlei lasterhaften Freiheiten entfernt, obschon dieses deren „LGBT“ ja gerade als ein Bruch sexueller Tabus wahrgenommen wird.

Aber was tun sie denn dann? – mag sich der unschuldige Leser wundern.

Ich will dieses offene Geheimnis endlich lüften.

Sie nölen.

Das eigentliche Wesen des LGBT-XYZ besteht im Nölen.

In der zeitgenössischen Avantgarde findet sich ausschließlich langweilige, fade, stille und nüchterne Jugend, die sich mit Zensur, Denunziation, Parteiversammlungen und Gesprächen über eine kollektive Ethik auskennt, und über jemandes unüberwindbare Schuld, kurz: die sich in der Beschränkung der Freiheit auskennt, und ganz und gar nicht mit ihrer ausschweifend-durchgeknallten Erweiterung. Diese netten (ich scherze) jungen Leute mögen es am liebsten auf der Welt, zu Psychotherapeuten zu gehen, Tabletten einzunehmen und zu leiden. Ihr Lieblingsthema ist „das Verletzen von Grenzen“, das ist, wenn jemand aus Versehen oder vorsätzlich die fragile Welt ihres autistischen Seins stört, und hierher rührt deren Begriff „Trauma“. Selbst die sexuellen Freiheiten, die einen Konservativen am meisten schrecken, „funktionieren“ in ihrem Fall ganz und gar nicht so, wie das noch im zwanzigsten Jahrhundert war. Die Jungs und Mädel nämlich, die von sich sagen, sie wären „non-binär genderfluid“, wollen ja nicht auf besonders mutige Weise Spaß haben. Ganz im Gegenteil: Sie signalisieren auf diese Weise der ganzen Welt, dass sie so besonders, so exotisch, so spröde und unbegreifliche Wesen sind, dass man sich ihnen lieber gar nicht erst nähert. Ihr wichtigstes Bestreben ist es, sich abzusondern, in eine Ecke zu schlagen, und zu Ausschweifung und Ekstase haben sie vermutlich eine noch viel schlechtere Meinung, als die Hausverwalterin-dein-Freund-und-Helfer von vor einem halben Jahrhundert.

Kurz gesagt: Unsere Abgeordneten verweilen in dem Irrtum, dass sie einen Kampf gegen Unzüchtige führen, dabei verfolgen sie in Wahrheit eine neue Generation von Puritanern – spezifischer Puritaner, versteht sich, die aber letztlich keine minderen Frömmler sind als sie selbst. Es genügt ja, die im Jugendumfeld verbreiteten Diskussionen anstößiger Freveleien irgendeines „Misogynen“, „Transphoben“, „Fatshamers“ oder „Gaslighters“ (es gibt so viele verurteilende Termini, wie es Wurstsorten in einem idealen US-amerikanischen Laden aus den Phantasien eines Sowjetmenschen gibt) anzulesen, um zu verstehen: In diesem Fall sind Verfolger und Verfolgte eindeutig seelenverwandt.

Und diese Verwandtschaft wird sich sofort bemerkbar machen, wenn es eines Tages plötzlich so kommt, dass in den Kabinetten-Parlamenten anstelle jener Personagen, an die wir uns längst gewöhnt haben, genau dieses LGBT zu sitzen kommt. Die werden gar nicht mit der Wimper zucken und all jene verbieten, die ihnen nicht gefallen, und zwar mit einer pharisäischen Rage, dass wir unserer Zeiten noch nostalgisch als „frei“ gedenken werden. Und aus genau diesem Grund bleibe ich recht kühl, wenn zum Schutz dieser „Evangelisten“ aufgerufen wird. Wir kennen ihre frohe Botschaft, da steht nichts von Interesse geschrieben, einzig die totale Disziplin, Gesinnungsgleichheit und Buße vor dem Parteikomitee gemischt mit Tabletten. Danke, wir kommen ohne sowas aus.

Das einundzwanzigste Jahrhundert (bisher nur das westliche, aber auch wir sind davor nicht gefeit) hat uns gezeigt, dass die leisen Nöler durchaus dazu in der Lage sind, eine gar nicht minder düstere und unfreie Gesellschaft aufzubauen, als die Aggressoren und brutalen Dominatoren der Vergangenheit.

Letztlich ist jedes beliebige Gesetz gegen die Propaganda von irgendwas ein schädliches Unterfangen, und besser wäre es, wir kämen ohne sowas aus. Aber hier geht es gar nicht so sehr um dieses QWERTY+ und wie das alles heißt. Das Problem besteht darin, dass man „Propaganda“ – wenn man ernsthaft davon spricht und nicht so, wie das an unseren Gerichten üblich ist – juristisch einfach nicht von anderen Genres der Meinungsäußerung unterscheiden kann, sei es das künstlerische, analytische, humoristische, stilisierende Genre etc. Es gibt kein solches Kriterium, auf dessen Grundlage man beschließen könnte: Majakowski hat, als er „Ich liebe es zu sehn wie Kinder sterben“2 schrieb, nichts Verwerfliches propagiert, und auch Eduard Limonow hat, als er in seinem Werk „Fuck Off, Amerika“ wohl erstmalig in der russischen Literatur die vollkommen unzensierte Darstellung einer homosexuellen Beziehung brachte, nichts propagiert, du aber, N. Mustermann, bist schuldig. Ein gutes Gericht kann keinen solchen Beschluss fassen, da es hier um Geschmacksfragen geht, um Fragen von Empfindungen und Meinungen, um teils filigran aufgebauten Kontext, den man verschiedentlich interpretieren kann, und nicht nur um einen Satz an bestimmten Begriffen.

Folglich wäre es besser, wenn man dem ASDFGH+ irgendwie anders begegnet. Außergerichtlich. Zum Beispiel, indem man sich andere, und nicht minder, besser sogar: viel interessantere (das ist nicht schwer, können Sie mir glauben) Arten zu leben, zu denken und sich zu vergnügen ausdenkt. Damit die autistischen Langweiler, die von Gendern schwadronieren, immer die absurde Sekte bleiben, die sie sind.

Aber sich etwas auszudenken ist immer schwieriger, als etwas zu verbieten. Und deshalb wird der allmächtige Staat jetzt die Nöler schnell und billig besiegen können.

Dann aber wird es so kommen wie immer: Das Ewige erweist sich als vorübergehend, alles wird sich ändern, und ihre Zeit wird kommen – und dann rette sich, wer kann.

Quelle: octagon.media


  1. aus: Wenedikt Jerofejew, „Moskau – Petuschki“ – Verm. d. Ü. 

  2. aus: Wladimir Majakowski, „Ich / Einige Worte über mich selbst“, Gedicht von 1913 – Verm. d. Ü.