:chartophylax:

Russland etwas später

Die westliche Fabrik der politischen Illusionen ändert sich nie. Ganz anders Russland.

Autor: Dmitrij Olschanskij

10. Juni 2022

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Unsere Heimat wird nun schon seit einigen Jahrhunderten von ein und demselben traurigen Phänomen gebeutelt:

Ändert sich die Staatsmacht, dann ändert sich alles.

Die westliche Welt, diese enorme Fabrik, in der politische Illusionen produziert werden, hat wohl bereits vor mehr als zweihundert Jahren eine einzigartige Maschinerie der ständigen Wechsel in den Kabinetten und auf den Posten geschaffen, gleichzeitig betreffen diese Wechsel mit all ihrer Geschäftigkeit nie das gewisse Wichtigste, was es im amerikanischen, britischen oder französischen Staat gibt. Die lächelnden Herrschaften, die mal langweilige, mal mitreißende Reden in die laufenden Kameras sprechen, verschwinden und tauchen aller paar Jahre wieder auf, um sie herum jedoch bleibt alles, wie es gewesen ist, und selbst wenn sich etwas ändert, dann gehen diese Änderungen allmählich vonstatten und eben nicht, weil Smith weg ist und Jones die Wahlen gewonnen hat.

Bei uns ist es nicht so.

Nach dem Tod Peters des Großen rollte der Ball der Macht im Russischen Reich für anderthalb Dekaden in die Hände zweifelhafter Zarinnen, ausländischer Rosstäuscher und diebischer Favoriten, und selbst Petersburg war kurz davor, als Stadt wieder verworfen zu werden.

Nach Jelisaweta Petrowna1 brachte es ihr zwielichtiger Thronfolger2 fertig, den russischen Sieg im Siebenjährigen Krieg Friedrich zu schenken und damit alle gewonnenen Schlachten, heldenhafte Aufopferung und die eingenommenen Städte, darunter Berlin selbst, einfach zu streichen.

Sowohl die Thronbesteigung, als auch der Tod Pauls I.3 drehten Russland jeweils komplett um – und das nur deshalb, weil beide Ereignisse innerhalb einer viel zu kurzen Zeitspanne stattfanden, so dass diese beiden Fälle der totalen Umkehr sich in unserer Geschichte eher als Witz denn als Tragödie ausnehmen.

Das Finale der Herrschaft Alexanders I.4 gipfelte im Dekabristenaufstand, das des Nikolaj Pawlowitsch5 im Eingeständnis der Niederlage im Krimkrieg, das Alexanders des Befreiers6 im abrupten Abschied von den parlamentarischen Projekten und den – nach Meinung liberaler Historiker – fortschrittlichen Reformen, und erst die Ablösung Alexanders III. durch seinen Sohn verlief friedlich, erwies sich erst dann als großes Drama, als wiederum dessen Sohn7 abdankte und damit ein nunmehr schon grandioses Drama einläutete, wahrscheinlich das grandioseste überhaupt, und vor dessen schrecklichen revolutionären Hintergrund erschien auch der vorzeitige Tod des eigentlich starken Zaren in einem ganz anderen Licht.

Die Flucht Kerenskys erst aus dem Winterpalais, dann auch aus dem Schloss von Gatschina ließ nicht mehr nur die Monarchie, sondern die gesamte bisherige Weltordnung einstürzen. Lenins Tod und die Balgerei der Politbüro-Führer um die Macht warfen Sowjetrussland aus der etwas düsteren, aber immer noch gemäßigten Neuen Ökonomischen Politik8 in die Finsternis Stalins. Ihrerseits ging Stalins Cheyne-Stokes-Atmung im März 53 – alle Jubeljahre auch einmal eine positive Veränderung – zwar in eine gewisse Freiheit über, bewies aber zweifelsohne wieder genau die gleiche Abhängigkeit der gesamten Ordnung eines riesigen Imperiums vom Namen der Führungsperson. Vieles änderte auch der Sturz Chruschtschows, und was die Ereignisse im März 85 und im Dezember 99 angeht, so hat es kaum Sinn, diese hier anzuführen – daran werden sich die meisten heute noch erinnern.

Man kann also mit einer unguten Sicherheit sagen: Wir haben keine Politik, die ihr eigenes Leben führen würde, sich ändert, im Kern aber bewahrt bleibt, die ganz unabhängig von Kreml und Thron existieren würde, so wie es in den Korridoren irgendeines State Department oder Pentagon üblich ist, wo ein Wechsel der Präsidenten sicherlich Einfluss aufs Geschehen hat, diese Präsidenten sich jedoch viel häufiger nach den seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten unabänderlichen Prinzipien umschauen, die in diesen Korridoren einmal festgelegt wurden. In welchem Jahr war es, dass Amerika die Militärbasis Guantanamo auf Kuba „angemietet“ hat? Es war 1903. Wollte nicht Obama Guantanamo schließen? Irgendetwas hat ihn wohl daran gehindert.

In Russland nun kann man, sofern sich die Staatsmacht ändert, alles mögliche schließen. Und das vielleicht wichtigste: Russland selbst könnte man „schließen“. Wie sich das äußert, wissen wir bereits.

Das ist sie nämlich, die größte Befürchtung eines jeden russischen Patrioten.

Welches auch immer unsere Errungenschaften wären, bis wohin auch immer unser Militär vordringen würde, oder welche Brücken, Straßen oder Raketen – lasst uns doch optimistisch phantasieren – auch immer gebaut, welche Ländereien angegliedert oder Städte lebenswert gestaltet würden, all das kann im Handumdrehen vollkommen unrühmlich zu Ende sein, wenn irgendeine neue Führung den Weg eines Michail Sergejewitsch oder eines Boris Nikolajewitsch9 einschlägt. Man braucht sich keine Hoffnungen darüber zu machen, es wäre ein abschreckendes Beispiel, dass wir diese Wege bereits einmal gegangen und im Nichts angekommen waren. Es ist wie in einem Horrorfilm: Der Held weiß eigentlich Bescheid, begibt sich aber trotzdem aus irgendeinem Grund allein die Treppe hinunter in den dunklen Keller, wo ihn ein grässlicher Spuk – und in unserem Fall der Zerfall und das Ende des Staates, Aufgabe und Schande – erwartet.

Wie kann man das verhindern? Wie kann man es so einrichten, dass das heutige Russland, möge es sich auch mit dem Auftreten einer neuen Generation von Politikern unweigerlich ändern, nicht verloren ginge, nicht zerstört werden würde, sondern das an Wertvollem bewahrt, was wir jetzt haben und gerade jetzt bekommen, sei es auch nur im einfachsten, geographischen Sinn – auf der Krim, im Donbass, in Cherson und Saporoschje, ganz zu schweigen von vielen anderen Problemregionen unseres Landes von Kaliningrad bis zu den Kurilen, vom sogenannten Unionsstaat mit Weißrussland bis zum Kaukasus, von Karelien bis nach Kasan etc. Die Furcht des Jahres 1991 ist nach wie vor stark – und vielleicht hilft sie durch ihre schiere Existenz sogar, den Staat zurückzuhalten – doch was geschieht, wenn diejenigen antreten, die keine solchen Erinnerungen mehr haben?

Da gibt es keine Garantien. Es gibt lediglich eine bescheidene Annahme.

Da wir nun einmal nicht über soziale Institutionen verfügen, die über Jahrhunderte hinweg fertige Führungskräfte produzieren, so brauchen wir eine Lage, die denen, welche wir haben, keine andere Wahl lässt.

Wir brauchen Leute mit Erfahrung im Risiko und im Kampf. Mit Erfahrung im Überwinden von Schwierigkeiten.

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich die früh- und mittelsowjetische Elite von der spätsowjetischen – jetzt einmal ganz ungeachtet von moralischen Erwägungen, sondern nur unter dem Gesichtspunkt des Erfolgs in ihrer Tätigkeit – gerade durch ihre raue Erfahrung unterschied. Die diversen Vorsitzenden aus den Zeiten von Lenin bis Breschnew sind durch Gefangenschaft und Untergrund, Revolutionen und Umstürze, durch Bürgerkrieg und den Fleischwolf der Repressionen, und schließlich durch den wichtigsten aller Kriege gegangen. Das kollektive Überleben der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – durch all die Schrecken, die nicht nur die unglückseligen Normalbürger, sondern durchaus auch die Granden in den oberen Schichten dahinrafften – hat die, welche in Reih und Glied blieben, stark und zäh gemacht, und das war es auch, was der kommunistischen Staatsordnung das Leben verlängerte, bis diese Menschen als Gesamtheit in den Achtzigern zu verlöschen begannen. Eine ähnliche Rolle spielte im alten Russland die militärische Erziehung des Hofadels und die fast verpflichtende Teilnahme der Aristokratie an den ständigen Feldzügen und Schlachten.

Diejenigen hingegen, die in jenem katastrophalen Jahr 1985 an die Macht kamen, hatten keinerlei Erleben oder Erfahrung mit großen Tragödien und Umbrüchen mehr vorzuweisen. Die neuen Beamten hatten ein sattes, glückliches Leben auf der sowjetischen Karriereleiter hinter sich, sie waren verwöhnt vom langen Herbst des Kommunismus, und als schwere Tage kamen, sie aber inzwischen allein die gesamte Verantwortung trugen, kamen sie durcheinander, wurden hektisch und befassten sich mit Unfug und Blödsinn, mit dem „gemeinsamen europäischen Haus“ und der „Glasnost“. Das Ergebnis ist bekannt. Und – das ist leicht zu erkennen – genau das gleiche Schicksal hielt nun schon das einundzwanzigste Jahrhundert für die jungen Führungskräfte von Putins Russland bereit, für jene, denen die traumatische, aber lehrreiche Erfahrung des Zerfalls der UdSSR, des Verlusts von Eigentum und Arbeitsplatz, des Chaos während der Privatisierung und des ganzen blutigen kriminellen Zirkus, welche ihre Bosse auszeichnete, komplett abging.

Würde alles weiter so verlaufen, wie es in diesen zwanzig Jahren lief, so hätten wir bald eine Neuauflage von Gorbatschow zu erwarten. Eines Menschen also, der mit strahlendem Angesicht der äußeren Welt entgegengeht und denkt, dass es ringsherum nur Freunde gibt, die einem alle nur Gutes wünschen.

Glücklicherweise bietet der 24. Februar 2022 der Heimat eine Chance.

Wenn die derzeitigen ukrainischen Ereignisse schließlich als schwierige, große Sache in der russischen Geschichte zurückbleiben, wenn ihre Folgen und konkreten Umstände – die an der Front, in der Wirtschaft, durch die Sanktionen – dazu imstande sind, unsere herrschende Klasse für lange Zeit von der westlichen Welt abzuschneiden, so wird sie, diese Klasse, dazu gezwungen sein, die hiesige Produktion irgendwie einzurichten, die hinterhältigen Ausfälle der Gegenseite zu kontern, sich auf jedwede Angriffe vorzubereiten, zu Hause zu leben und Russland endlich als das eigene Haus zu verstehen anstatt als Ort einer vorübergehenden Dienstreise – diese Kombination von Schwierigkeiten kann dazu geeignet sein, angehende Führungskräfte im rechten Geist heranzubilden, und wer es ablehnt, sich so heranbilden zu lassen, der verschwindet in der Emigration und beschwert uns nicht weiter mit seiner Gegenwart.

Menschen, die den Kampf, die Gefahr und den Widerstand gewohnt sind, können eine Vielzahl an besorgniserregenden Zügen aufweisen, aber in einem kann man bei ihnen sicher sein: Unser Land werden sie nicht verraten.

Aber das alles nur, wenn wir Glück haben.

Wenn aber nicht, dann machen wir zu. Also, ihr wisst schon: Wie ein Restaurant, dass ein fröhliches Schild aushängt: „Wir haben aufgemacht!“ – so erfreut auch Russland dann und wann seine Feinde mit der Verkündigung: „Wir haben zugemacht“.

Doch noch ist Zeit, das Duell ist, wie Puschkin einst schrieb10, nicht zu Ende; ich hoffe, dass uns das Schlimmste erspart bleibt.

Quelle: octagon.media


  1. Jelisaweta Petrowna Romanowa, Zarin 1741-1762 - Verm. d. Ü. 

  2. Peter III. Fjodorowitsch, Zar 1762 - Verm. d. Ü. 

  3. Paul I., Zar 1796-1801 - Verm. d. Ü. 

  4. Alexander I. Pawlowitsch Romanow, Zar 1801-1825 - Verm. d. Ü. 

  5. Nikolaj I. Pawlowitsch, Zar 1825-1855 - Verm. d. Ü. 

  6. Alexander II. Nikolajewitsch, Zar 1855-1881 - Verm. d. Ü. 

  7. Nikolaj II. Alexandrowitsch, Zar 1894-1917 - Verm. d. Ü. 

  8. auch NEP / NÖP, wirtschaftspolitisches Konzept in der Sowjetunion 1921-1928 - Verm. d. Ü. 

  9. Gorbatschow und Jelzin - Verm. d. Ü. 

  10. Kolportierte Notiz nach dem abgebrochenen Duell mit Oberst Starow, Januar 1822. - Verm. d. Ü.