:chartophylax:

Versuchungen mit Sorbet

Vater Pjotr liebt Tiere, er hütet 47 Katzen und 53 Hunde.

Autor: Marina Achmedowa

19. November 2018

 Russland   Kirche   orthodox 
Lesezeit: ca. 30 Minuten

Am 18. August dieses Jahres zelebrierte Erzpriester Pjotr Dynnikow, der Vorsteher der Kirche des hl. Propheten Elias in Lemeschowo, das im Bezirk Podolsk nahe Moskau liegt, eine Fürbitte für die Bewahrung der Schöpfung Gottes. Vater Pjotr liebt Tiere, er hütet 47 Katzen und 53 Hunde, und auf der Internetseite der Kirche gibt es eine Unterseite von Tierschützern. Es gibt Leute, die echauffieren sich über das Video mit dem Kater Sorbet in der Kirche – solche sagen: Soll er doch lieber Menschen das Heil ermöglichen. Andere erwidern: Wer Tiere liebt, der wird auch Menschen erretten. Vater Pjotr selbst indes meint, dass er selbst unrecht hatte.

»Versuchungen mit Sorbet« ist eine Reportage von Marina Achmedowa und wurde in der russischen Zeitschrift »Русский репортер« veröffentlicht.


Sorbet auf dem Lesepult

Antonina malt an der Staffelei. Sorbet liegt auf dem Fensterbrett. Der Heilige wird gelblich und streng. In einer Hand hält er eine Kirche mit zwei Kuppeln. Wie sehr Sorbet auch blinzelt, wie oft er auch dem Heiligen mit seinem gelben Auge, in das ein Sonnenstrahl gespiegelt wird, zuzwinkert: der Heilige behält seinen strengen Blick.

Vater Pjotr Dynnikow betet vor der Ikone des heiligen Bischofs Luka. Luka ist sein Lieblingsheiliger. Er war Arzt, praktizierender Chirurg, und sein weltlicher Name war Walentin Felixowitsch Woino-Jassenezki. In seinem Werk »Geist, Seele und Körper« berührt Erzbischof Luka Fragen nach einem Bewusstsein bei Katzen und Hunden. Er schrieb direkt: Katzen und Hunde haben Emotionen. Sie verstehen den Unterschied zwischen der Liebe und der Lieblosigkeit der Menschen. Durch diese Äußerung rief Luka, Preisträger des Stalinpreises im Bereich der septischen Chirurgie, Kritik hervor.

Der heilige Märtyrer-Priester Alexander Agafonnikow wurde am 14. September 1937 verhaftet, und aus dem Häuschen, das bei dieser Kirche liegt, ins Gefängnis nach Serpuchow gebracht. Am folgenden Tag wurde Vater Alexander verhört. Am 14. Oktober des gleichen Jahres wurde er auf einem Pferdewagen zum Butowo-Poligon geschafft, erschossen und in einem Massengrab beerdigt. Er war vier Jahre jünger als Luka Woino-Jassenezki. Sorbet springt vom Fensterbrett herunter und zwischen Luka und Alexander hindurch. Er reibt sich an den Beinen von Vater Pjotr Dynnikow. Umgeht die Vase mit den großen Rosen, die im Zenit ihrer Schönheit geschnitten worden waren. Als wollte er zeigen: So sehr, auf Tuchfühlung kann ich die Vase umkreisen, ohne sie um auch nur einen Millimeter zu verrücken.

„Nichts als Versuchungen kommen von dir, Sorbet", wirft ihm Vater Pjotr hin.

Der Priester begibt sich zum Ausgang der Kirche. Sorbet läuft ihm hinterher. Unter der Heizung kommt September hervor gesprungen. Von unter der Bank hervor huscht Kutusow. Den Kirchhof betritt Vater Pjotr in Begleitung von Katzen. Insgesamt hat er siebenundvierzig Kater und Katzen. Und dreiundfünfzig Hunde.

Am 18. August dieses Jahres zelebrierte Vater Pjotr eine Fürbitte für die Bewahrung der Schöpfung Gottes. „Wir beten für die Menschen, die durch ihre Barmherzigkeit dazu bereit sind, ihre Liebe mit den unglückseligen Hunden und Katzen zu teilen, welche ohne ein Heim geblieben sind", wandte er sich an die versammelten Journalisten. Die Gläubigen kamen an diesem Tag mit ihren Katern und Katzen in die Kirche. Und alles wäre glatt gegangen, gut und sogar ordentlich, wenn da nicht Sorbet gewesen wäre. Bilder davon, wie Sorbet auf dem Lesepult schläft, machten alsbald im Internet die Runde.

Vater Pjotr wendet sich in Richtung Fluss. Im Herbst rücken auf der anderen Seite jedes Jahr Myriaden von Mäusen und, Gott bewahre, Ratten über das Feld heran. In wahren Heerscharen kommen sie bis an die Kirche. Als die Kirche gerade erst wieder neu aufgebaut wurde und es noch keine Katzen gab, herrschten hier die Nager. Eine Maus aber, oder – der Herr bewahre! – eine Ratte auf dem Altartisch, welch eine Schande wäre das denn! Aber dann kamen die Katzen. Wo nun die nächtlichen Kämpfe zwischen ihnen und den Ratten stattfanden, das ist nicht bekannt. Vielleicht auf dem Lesepult. Vielleicht aber auch direkt auf dem Rüsttisch. Oder aber, Herr vergib!, auch auf dem Altartisch!

Wäre Sorbet ein Esel oder ein Pferd, dann wäre Vater Pjotr mit den Gläubigen einverstanden. Entsprechend der achtundsiebzigsten Regel aus dem Regelwerk des Pferdefuhrwerksverkehrs dürfen weder Esel noch Pferd eine Kirche betreten. Aber Sorbet ist ja lediglich ein Kater.

Erzpriester Pjotr Dynnikow

Der schwarze Welpe

Die Katzen tippeln dem Priester hinterher, als dieser an den kleinen Lebensbäumen und Tannen vorübergeht. Einst war die ganze Fläche hier ringsherum ein Friedhof, überall standen Kreuze. Die Kirche wurde im Jahr 1690 als Friedhofskirche der Fürstenfamilie Golizyn erbaut. Im Jahr 1753 begann man damit, anstelle der hölzernen Kirche eine aus Stein aufzubauen; die leibeigenen Bauern der Golizyns spendeten ihr eigenes Geld für den Bau. Aus den Dokumenten, die Vater Pjotr studiert hat, geht hervor, dass sie recht vermögend waren. Ihre Gebeine ruhen immer noch hier – unter den Lebensbäumen und Tannen. Außerdem noch die Gebeine der Mamontows und Aljabjews.

Der Priester schreitet über den weichen, von Tannennadeln bedeckten Friedhofsboden. Die Tannen hatte er hier, einer Intuition folgend, angepflanzt – immergrüne Bäume zum Gedenken an alle hier beigesetzten Christen, deren Grabkreuze von der Großen Oktoberrevolution hinweggefegt wurden. Später, im Jahr 2002, besuchte ein Nachfahr der Mamontows und Aljabjews diesen Ort und sagte: Das stimmt so, die Golizyns mochten am liebsten Nadelbäume.

Der Priester betritt das Gras – es ist noch grün, als sei Sommer. In diesem Sommer hat es das Gras bis in den November geschafft. Das Moos auf dem Grabstein der Fürstin Golizyna atmet seinen feuchten Odem. Von der anderen Seite des Zauns her hört man Hundegebell. Hörte man es nicht, dann könnten der Friedhof, die Lebensbäume, das Flurkreuz und die Birken einen ins Land des Schweigens entführen. „Wäre der Herr nicht meine Hilfe, wohnte ich schon im Lande des Schweigens" – so heißt es in Psalm 93.

Gleich wird Vater Pjotr Dynnikow sagen, dass das Paradies für ihn kein geographischer Begriff ist. Und er wird Dostojewski zitieren: „Die Tiere sind dem Paradies näher". Tiere sind schuldlos. Tiere sind sündlos. Tiere waren mit dem Menschen im Paradies, wo es kein Blutvergießen, kein Böses und keinen Hass gab. Dem Menschen gab der Herr die Macht über das Paradies, und Adam setzte Er, so könnte man sagen, als Bischof über die Tierwelt ein. Die Tiere kannten seine Stimme, vertrauten ihm, und er gab ihnen Namen. Doch der Mensch verriet Gott und zerstörte diese Harmonie. Vergoss Blut. In der Tierwelt traten Raubtiere auf. Im Buch Genesis heißt es, dass anfangs alle sich davon ernährten, was die Erde hervorbrachte. Der Mensch wurde aus dem Paradies vertrieben. Die Welt wurde daraufhin verkehrt und feindselig. Gleich wird Vater Pjotr noch sagen, dass die Tiere, im Unterschied zum Menschen, Gott nicht verraten hätten – sie sind weiterhin Ihm und dem Menschen untertan, ganz so, wie Gott es ihnen geboten hat. Der Mensch war es, der mit seiner Aufgabe, Krone der Schöpfung zu sein, nicht klargekommen ist. Gott schuf die Tiere sich zur Freude. Er hatte für sie kein Leid im Sinn. Wozu sollte Er diese Welt schaffen, wenn so viel Leid darin ist?

Dort, auf der anderen Seite des Flusses, lebte der Priester Nikolaj, ein Bruder von Alexander Agafonnikow. Erstmals wurde Vater Alexander im Januar 1927 festgenommen. Der Ermittler schrieb als Tatvorwurf: „Nach der Festnahme von Bischof Flavian leitete er illegal die Diözesanverwaltung in Kotelnitschi, für die er Geldmittel sammelte und diese an einen Hilfsfonds für in der Verbannung befindliche antisowjetische Elemente leitete. Um sich herum gruppierte er den Schwarzen Hundertschaften nahestehende, reaktionäre Elemente, aus denen er einen illegalen Schwesternzirkel bilden wollte, der sich die Unterstützung antisowjetischer Aktivitäten zum Ziel setzte".

Beim Verhör gab Vater Alexander zu Protokoll: „Ein halbes Jahr war seit der Abreise von Bischof Flavian (in die Verbannung – »RR«) vergangen, als ich einen Brief von ihm empfing, in dem er seine prekäre materielle Situation schilderte. Aus Pflichtgefühl und Anteilnahme an seinem Schicksal sandte ich ihm fünfzig Rubel, und später, als ich seine feste Adresse in Erfahrung brachte, sandte ich ihm monatlich jeweils fünfzig Rubel. Ich bin der Meinung, dass die Geldmittel, die für den Bedarf der Diözese gesammelt wurden, Bischof Flavian vollständig zur Verfügung haben muss, denn einen anderen Bischof haben wir nicht."

Am zehnten März des gleichen Jahres schloss der Bevollmächtigte der geheimen Unterabteilung der 6. Abteilung der OGPU die Causa des Priesters Alexander Agafonnikow ab und beschrieb diesen als einen „besonders aktiven antisowjetischen Kirchenmann der Stadt Kotelnitschi, der zur Zeit der Kronstädter Meuterei unter den Kirchenleuten für ein Ende der sowjetischen Staatsgewalt agitierte". Neunzehnhundertdreißig kehrte Vater Alexander aus der Verbannung in Wjatka zurück und nahm bald die Einladung seines Bruders an, hierher überzusiedeln, an die Kirche des heiligen Propheten Elias im Dorf Lemeschowo des Bezirks Podolsk. Er ging oftmals vor die Tür seines Häuschens, das direkt am Friedhof stand, und spielte Akkordeon – für die Bauern, damit diese wenigstens einen Augenblick lang etwas Freude verspüren konnten.

Vater Alexander war Geiger. In der Tasche hat Vater Pjotr Dynnikow ein Telefon, im Telefon ist ein Foto gespeichert, das den jungen Agafonnikow zeigt, im Frack und einer Stradivari-Geige in der Hand. Diese ist später bei einem Brand zerstört worden. Vater Nikolaj Agafonnikow aber, der auf der anderen Seite des Flusses lebte, wurde zusammen mit seinem Bruder auf dem Butowo-Poligon des NKWD erschossen. Und mit diesen beiden noch der dritte Bruder, der Priester Wasilij.

Einmal kam Vater Pjotr aus der Kirche und begab sich in dieser Richtung auf einen Spaziergang, zusammen mit seinem Gehilfen Konstantin. Von weitem sah er, wie ein paar halbwüchsige Mädchen am Flussufer etwas seltsames zu tun schienen. Er schaute genauer hin und sah, wie ein kleiner, schwarzer Welpe verzweifelt versuchte, aus dem kalten Wasser des Flusses herauszuklettern. Die Mädchen aber stießen ihn mit ihren Füßen immer wieder zurück ins Wasser. Der Priester und sein Gehilfe liefen hinunter und sprangen mit Anlauf ins Wasser. Den Welpen haben sie gerettet. Die Mädchen aber liefen fort. Sie haben wohl einen Schreck bekommen. Wovor? Vielleicht schämten sie sich plötzlich. Oder fürchteten sie, da sie sich ja dessen bewusst waren, dass sie etwas Böses tun, dass sich das von ihnen begangene Böse in ihren Gesichtern zu lesen sein wird? Das Böse heftet sich schnell an den Menschen, Unkraut wuchert ja auch, ohne, dass man es gießt – es ist das Gute, das nur unter viel Mühe gedeiht. Beispielsweise durch Literatur, in der man über all das nachlesen kann.

Das Katzenhaus

Es gibt keinerlei Nutzen von diesen ganzen Interviews und Reportagen – wenn die Leute von der »lebendigen Ecke« erfahren, fangen sie nur an, Tiere dort auszusetzen. Vater Pjotr gebraucht den Begriff »Tierheim« nicht. Sonst würden die Leute nur noch mehr Tiere hier absetzen. Vor einigen Tagen erst, direkt nach einem Auftritt im Fernsehen, setzte jemand hier einen Kater und eine Katze aus, mit einem Zettel, auf dem stand: „Bitte, nehmt die beiden Katzen. Der Kater ist kastriert. Die Katze ist die weiße. Sie sind sehr lieb, schlau und zärtlich. Die Besitzer sind fortgefahren und haben sie auf die Straße gejagt. Es wäre schade, sie verwahrlosen zu lassen. Der Kater heißt Pfirsich, die Katze heißt Kisa".

Vater Pjotr betritt das »Katzenhaus«, das aus Baucontainern zusammengebaut wurde. Konstantin ist schon da. Da hockt Schildik. Dort Senja. Und der Frechdachs dort ist von allein hergekommen. Er versuchte es immer und immer wieder, obwohl hier eine Menge an Hindernissen für fremde Katzen aufgebaut wurden. Er kam nicht zur Ruhe, bis er es endlich hierher geschafft hatte.

Vater Pjotr nimmt sogleich Lorka auf den Arm – eine graue Katze mit großen, von der Not gezeichneten Augen. Lorka kann einem leid tun, sie hat sich sehr gequält. Ihre Besitzer haben sie im Winter ausgesetzt, und draußen auf der Straße hat sie sich die Nieren unterkühlt. An der Jacke von Vater Pjotr bleiben Katzenhaare haften. Das Spezialfutter für Lorka kaufen Freiwillige in Moskau. Das Häuschen besitzt frei zugängliche Aus- und Eingänge durch die Fensteröffnungen, durch die man in von steinernen Kirchenmauern eingefasste Höflein gelangt.

Vater Pjotr lobt Konstantin. Als dieser mit seiner Ehefrau Antonina 1998 zu Vater Pjotr kam, da konnten beide nichts von alledem, was man in der Kirche können muss. Antonina schrieb traurige Gedichte und illustrierte diese. Vater Pjotr überredete sie dazu, es einmal mit der Ikonenmalerei zu versuchen. Sie lebten in einem Bauwagen, in dem inzwischen die Katzen wohnen. Hier wurde Konstantin auch getauft, inzwischen ist er schon der Kantor der Kirche und im Begriff, das Studium am Priesterseminar abzuschließen. Den Kater Pfirsich hat er umbenannt zu Krapfen.

Vater Pjotr betritt das nächste Katzenhaus, wo er der Reihe nach Kater und Katzen auf den Arm nimmt und streichelt. Die »lebendige Ecke« besucht er jeden Tag. Lorka leidet ohne Zuwendung. Auch Liputschka leidet. Um die drei Monate versteckte sie sich vor den Menschen, obwohl es hier nichts gibt, wo man sich verstecken könnte. Nun aber haftet sie geradezu an den Menschen. Vielleicht hat man sie ja gerade deshalb ausgesetzt, weil sie zu liebevoll war und jeden Augenblick um Zärtlichkeiten bettelte. Hirse, der schwarze Schneeball, Tscheki – Rattenfänger vom Dienst, die einäugige Waxa, das neue Katzenkind Flocke – der Priester streichelt die Katzen. Honig, »Honi«, sein Lieblingskater, aber der hat eine Beule auf dem Kopf, vermutlich Krebs, man müsste den Kater mal »zur Reparatur« bringen. Nachdem er die Katzen gestreichelt hat, begibt sich Vater Pjotr zu den Hunden. Die, welche heute keine Zärtlichkeiten abbekommen haben, besucht er unbedingt morgen.

Die »lebendige Ecke« besteht durch die privaten Mittel des Geistlichen und seiner Tochter, und der Spenden der Moskauer Freiwilligen und derjenigen Gläubigen, die direkt für die Tiere spenden.

Vater Pjotr geht den Pfad entlang zu den Hunden. Es gibt einen leichten Sprühregen. Da, ein Loch in der Jacke – es genügt, einmal durch die »lebendige Ecke« durchzugehen, da geht man schon seiner Kleidung verlustig. Der Herr gab dem Menschen die Liebe zur Tierwelt – das ist die persönliche Meinung von Vater Pjotr. Diese Liebe hätte in der heutigen Welt nicht verloren gehen dürfen. Sie hätte in ihr verweilen müssen. Der Mensch ist der Gebieter der Tierwelt, er ist für die Tiere das, was Gott auf Erden in der Welt der Menschen bedeutet. Er dürfte die Tiere nicht strafen. Wird Gott den Menschen ebenso strafen? Kann denn ein einfacher Priester es wagen, sich an die Stelle Gottes zu stellen?

Bischof Flavian, dessen rechte Hand Vater Agafonnikow gewesen ist, wurde im Jahre 1925 festgenommen und in die Verbannung geschickt. Zu dieser Zeit verschärfte sich in Kotelnitschi die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxen und denen, die eine Erneuerung der Kirche forderten, und der OGPU verfolgte diese Auseinandersetzung genauestens. Er beobachtete besonders die, welche der Erneuerung besonders aktiv entgegentraten. Besonders Vater Alexander Agafonnikow. Vor seiner Verhaftung konnte Bischof Flavian Agafonnikow noch zuwerfen: „Man muss am Althergebrachten festhalten. Standhaft sein. Verfolgungen nicht fürchten!". Vater Alexander, der diese Unterweisung vernommen hatte, zelebrierte Fürbitten, bei denen er den für den Glauben Not Leidenden, einschließlich Bischof Flavian, das »Auf viele Jahre« proklamierte. Antonina hat inzwischen bereits fünf Ikonen mit der Darstellung des Vater Alexander vollendet.

Die Hunde beginnen ein freudiges Gebell, als sie das Nahen des Priesters spüren. Vater Pjotr dreht sich um und sagt, dass die Liebe die einzige Sprache der Welt ist, die alle verstehen. Gott ist die Liebe. Die Liebe ist Gott. Der, welcher in der Liebe verweilt, verweilt in Gott. So steht es bei Johannes dem Theologen geschrieben. Die Liebe spüren auch die Katzen und Hunde. Pferde und Esel. Jede Kreatur. Stellen Sie sich doch die Situation vor, als der heilige Serafim von Sarow mit dem Bären kommunizierte! Er fütterte ihn. Das wilde Tier kam zu dem einsamen Menschen. Eigentlich ist doch der Bär ein Raubtier, er hätte den Menschen zerreißen müssen. Serafim von Sarow aber teilte oft seine letzten Lebensmittel mit ihm, er wusste ja, dass es sich um ein unverständiges Tier handelt, das den Hunger nicht ertragen kann. Isaak der Syrer schrieb: Die höchste Liebe ist auch die Liebe gegenüber den Vögeln, den Schlangen, selbst zu den Dämonen. Wie aber sollte man die Dämonen lieben können? Isaak der Syrer verweilte in einem Zustand, aus dem heraus er wusste, wie das geht. Lieben Sie Tiere? Wofür eigentlich? Genau – das können Sie nämlich nicht sagen. Der Zustand der Liebe ist durch nichts zu erklären. Soll doch auch nur ein einziger Mensch dem Vater Pjotr erklären, wofür er einen anderen Menschen liebt! Für dieses, für jenes? Nein, denn das wäre ja keine Liebe, sondern ein utilitaristisches Gefühl. Die Liebe aber entsteht auf unerklärliche Weise. Sie ist von Gott. Und die Atheisten glauben, dass sie für sich allein genommen existiert.

Die guten Kinder brennen vor Entsetzen

Vater Pjotr und Konstantin sitzen am Tisch. Auf der blauen Tischdecke befindet sich kalter Apfelkuchen und ein aufgeschlagenes weißes Buch, in dem ein ganzer Absatz mit gelber Farbe markiert ist.

„Ich fürchte, dass Ihre ganze Argumentation über die Liebe, über Adam, dessen Ruf die Tiere folgten, für Atheisten nicht eben überzeugend ist", sage ich.

„Warum sollte ich denn einem Atheisten meine dogmatischen Ansichten beweisen?", gibt Vater Pjotr zur Antwort. „Der Atheist bestreitet die Existenz des Paradieses, die Existenz Gottes, nur sein eigenes Sein bestreitet er nicht. Das ist sein Glaube, ich aber glaube, dass Gott ist. Darin besteht die Freiheit der Entscheidung. Denn im Unterschied zu den Tieren besitzen wir die Freiheit der Entscheidung."

„Wie haben Sie denn begriffen, dass Sie Tiere lieben?"

„Ich liebe sie seit meiner Kindheit. Mit uns in unserer Wohnung lebte ein Hund namens Dschulbars, ein abgeschriebener Diensthund, ein Schäferhund. Er diente irgendwo bei der Miliz. Meine Eltern haben ihn zu sich genommen. Auch sie liebten Tiere. Dschulbars war sehr klug. Ich bin sogar auf ihm geritten, habe das Tier damit gequält, er aber ließ es über sich ergehen, so gut er konnte. Und das, obwohl Schäferhunde Kindern gegenüber unleidlich sein können. Jedes Tier hat sein Maß an Geduld. Ein Tier kann ein Kind kränken, aber auch dem Kind muss man beibringen, dass ein Hund kein Pferd und auch kein Esel ist, es gefällt ihm nicht, wenn man auf ihm reitet. Meine Eltern haben mir erklärt, dass ein Tier kein Mensch ist, dass es seinen eigenen Gesetzen folgt und infolge seiner Entwicklung den Menschen nicht kopieren kann."

„Das heißt, sie haben keine tragischen Ereignisse mit Tieren erlebt?"

„Nein. Nur einmal, als meine Tochter mit dem Hund spazieren ging und ein erwachsener, nicht ganz zurechnungsfähiger Mensch seinen Pitbull auf unseren Hund hetzte."

„Verweilt ein Pitbull seinem Bewusstsein nach auch im Paradies?"

„Übertreiben Sie nicht. Wir sprachen ja davon, dass die Tiere dem Menschen untertan sind, sie sind nicht aus dieser Untertänigkeit herausgetreten. Wir alle sind des Paradieses verlustig gegangen, und wenn der Mensch das Paradies verloren hat, dann hat auch die Tierwelt es verloren. Die Welt ist bereits verzerrt. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Tiere unmittelbar sind wie Kinder. Wenn der Mensch ihnen aber Aggression beibringt, dann sind sie auch darin dem Menschen untertan."

„Es ist einfach seltsam – Sie lieben die Tiere so sehr, haben aber keinerlei Dramen durch sie erlebt. Normalerweise lieben die Menschen Tiere so, wenn sie ihr Leid erlebt haben."

„Das habe ich erlebt. Wir sind ja auf der Straße groß geworden, und ich habe Tierquäler gesehen, die Katzen und Hunde gequält haben. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie halbstarke Kinder Tiere gequält haben."

„Wie gequält?"

„Das sage ich nicht. Sie können im Internet nachschauen. Tierquälerei gab es damals öfter. Es ist ein Mythos, dass es sich erst durch das Internet verbreitet hat. Die Grausamkeit bei den Kindern gab es schon immer, und daran sind die Hormone und falsche Erziehung schuld."

„Kann denn ein Mensch, der in seiner Kindheit Tiere gequält hat, später einmal gut werden?"

„Ja, das kann er. Ich habe solche Menschen kennengelernt. Ich kenne so einen. Der hat jetzt eine Katze."

„Erinnern Sie sich daran, dass diese Leute Tiere gequält haben, wenn Sie sie jetzt anschauen?"

„Natürlich. So etwas vergisst man nicht."

„Unterhalten Sie sich mit ihnen?"

„Da verspüre ich keinen Bedarf."

„Haben Sie in Ihrer Kindheit erlebt, wie man Katzen mit einem Strick quält?"

„Auf verschiedene Weisen. Mit Stricken. Mit Händen und Füßen."

„Überwog da bei Ihnen das Mitleid oder die Furcht?"

„Das Mitleid. Aber zum näheren Herangehen hatte ich zu viel Furcht. Natürlich war das damals auch ein Mensch, der mir gigantisch erschien. Stellen Sie sich einmal Goliath vor. Ein so kleines Kind, und vor dir steht ein Erwachsener wie ein Felsen. Ich lief, um meinen Eltern davon zu erzählen, dass da ein schlechter Mensch ist, der Tiere quält."

„Was meinen Sie, warum tun Menschen das Schlechte, obwohl sie begreifen, dass es schlecht ist?"

„Ich bin der Meinung, dass alles das in der Familie anerzogen wird. Wir helfen den Kindern, wenn wir in ihnen die Liebe zu den Tieren erziehen. Später werden sie diese Liebe auf diejenigen ausweiten, die schutzlos sind und der Liebe bedürfen."

„Welchen Nutzen kann denn eine Gesellschaft aus der kindlichen Liebe zu Tieren für sich gewinnen?"

„Warum sollte man denn alles rationell und praktisch betrachten? Wenn ich einen Menschen liebe, welchen Nutzen kann ich daraus ziehen? Die Kinder werden einfach zu normalen Menschen und werden sich ihren Eltern gegenüber gut verhalten, wenn diese einmal alt sind."

„Hören Sie bei der Beichte auch, dass die Leute Tiere gekränkt haben?"

„Ja. Die Leute bereuen es. Sie geben zu, dass sie gequält und getötet haben – sowohl in der Kindheit, als auch im Erwachsenenalter. Nun reut es sie, uns die sagen: ‚Mit Schaudern erinnere ich mich daran'. Damals aber war der Mensch grausam und war der Meinung, dass das normal ist."

„So sehr fürchtet der Mensch Gott, dass er es bereut?"

„Der Mensch bereut ja nicht allein aus Gottesfurcht. Das wäre primitiv, wir leben doch aber im einundzwanzigsten Jahrhundert."

„Hören Sie bei der Beichte auch, dass jemand Kinder kränkt?"

„Ja. Es kommt vor, dass jemand sein Kind zu grausam bestraft und es danach bereut."

„Und Sie erlassen diese Sünden?"

„Den Menschen reut es doch aber. Er hat vor Gott bereut, ich stehe ja nur als Zeuge da. Ich bin ein genauso unwürdiger Mensch, aber durch die Macht, die mir von Gott gegeben wurde, spreche ich den Menschen von der Sünde los."

„Nehmen wir einmal an, es kommt ein Mensch zu Ihnen und sagt: ‚Batjuschka, ich habe einen Welpen im Fluss ertränkt. Er wollte leben, aber ich habe ihn mit den Füßen immer wieder zurück ins Wasser gestoßen. Und früher habe ich noch ein Katzenjunges mit den Pfoten an einen Baum genagelt und mit einem Strick gewürgt'. Wenn Sie das hören, schaudert es Sie da nicht vor Entsetzen?"

„Es schaudert mich."

„Und Sie sind sicher, dass Gott diese Sünde vergeben will?"

„Ja. Er ist langmütig und von großer Gnade. Es ist vorgekommen, dass der Herr die Menschheit strafte und ganze Völker vom Angesicht der Erde getilgt hat. Es ist, wie wenn ein Mensch ein Gefäß formt, es ihm nicht gefällt und er es einfach wieder einstampft, was er da geformt hat, aber aus demselben Ton formt er ein neues Gefäß. Also, damit will ich den Gedanken aus dem Evangelium ansprechen."

„Das bedeutet, wenn das Maß der Geduld voll ist, lässt Er uns fallen?"

„Der Herr unterweist auf verschiedene Weise. Aber… Der Mensch hat ja für die Tiere unerträgliche Zustände geschaffen. Die heutige Welt ist grausam. Eine Frau aus der Gemeinde erzählte mir, wie Studenten einer Berufsschule im Keller Welpen vor den Augen der Hündin umgebracht haben. Sie hat zehn oder zwölf Welpen zur Welt gebracht. Sie brachten sie qualvoll um. Die Hündin aber winselte und flehte um Hilfe. Ist das normal? Und die Studenten hatten auch noch Gefallen an ihrem eigenen Sadismus."

„Was denken Sie also, wieso brennen die einen vor Entsetzen wie Sie, wenn sie des Leids der Tiere gewahr werden, andere aber haben Gefallen daran?"

„Das ist jetzt nicht mein Gedanke, sondern ein biblischer: Gott hat alle gut geschaffen. Kinder werden als Engel geboren. Die erwachsene Welt verzerrt das Bewusstsein der kleinen Engel. Ich denke aber, dass alle Kinder Engel sind."

„Und woher wusste die Frau, was in dem Keller vor sich ging?"

„Von anderen Kindern. Diese konnten dem Schwarm der jugendlichen Verbrecher nicht Einhalt gebieten."

„Das heißt, gute Kinder sind immer Beobachter, die vor Entsetzen brennen?"

„Ja."

„Und sie rotten sich nicht zu Schwärmen zusammen?"

„Sie rotten sich nicht zusammen. Und brennen vor Entsetzen."

„Wie Sie?"

„Wie ich."

Ein neuer Himmel und eine neue Erde

„Kostja, haben dir Gemeindemitglieder irgendwann einmal Vorwürfe darüber gemacht, dass wir Katzen in der Kirche haben?", wendet sich Vater Pjotr an seinen Helfer.

„Noch nie", schüttelt Konstantin den Kopf. „Batjuschka, erinnern Sie sich noch an Antonytsch? An den Alten, der im Auftrag aller Dorfbewohner die Katzenjungen ersäufte? Das war doch früher eine ganz normale Sache. Also die können der Meinung sein, dass es eine Sünde ist, einen Menschen zu töten, aber ein kleines Katzenjunges – das gehe. Die sind doch noch blind, sie sehen und fühlen nichts. Aber das beruht wohl eher auf den Gefühlen der Menschen – wenn das Katzenjunge seine Augen geöffnet hat und sie anschaut, tut es einem schon leid. Aber Antonytsch hat von niemandem gehört, dass es Sünde sei, Katzenjunge zu ersäufen. Er kannte ja auch die Gebote nicht, die Bibel war nicht im Umlauf. Niemand kam zu ihm, um es ihm zu sagen."

Nach der letzten Festnahme von Vater Alexander wurde der Kolchosenwächter befragt, und dieser sagte aus: „In Unterhaltungen mit mir hat Agafonnikow öfter seine der Sowjetmacht gegenüber feindseligen Ansichten zur Sprache gebracht. Er sagte: ‚Nimm doch zum Beispiel mich! Ich war im Gefängnis und in der Verbannung. Und wofür? Für nichts!'. Ein anderer örtlicher Einwohner, ein einfacher Arbeiter, sagte aus: „Einmal Anfang August ging ich zur Kirche. Dort sind die Bienenstöcke mit meinen Bienen. Bei der Kirche traf ich auf Agafonnikow, der dort mit den Gläubigen sprach. Er winkte mich heran, begann, von den Bienen zu sprechen, und dann kam er darauf, davon zu reden, wie schlecht das Leben unter der Sowjetmacht sei. ‚Mit jedem Tag hat es das Volk schwerer', sagte er. ‚Die Bauern haben kaum Einkommen. Müssen sich durchhungern'. Ich widersprach ihm."

„Haben Sie selbst jemals Tiere gekränkt?", frage ich Konstantin.

„Ja. Als ich noch in der ersten Klasse war, habe ich mal eine kleine Katze geschlagen."

„Wofür denn?"

„Wissen Sie, bei uns gab es solche älteren Kinder, die lehrten die Kleinen: ‚Mach es so und so'. Und dann machst du das. Und dann bereust du es."

„Das Gesetz des menschenfeindlichen Menschenschwarms", wirft Vater Pjotr ein.

„Und Sie, Vater Pjotr, haben Sie in Ihrer Kindheit Tiere gekränkt?"

„Nein."

„Und wie sind Sie Priester geworden?"

„Die Baptisten werfen uns Orthodoxen vor, dass wir Kinder taufen; sie sagen, dass man Menschen erst taufen kann, wenn er mündig ist. Es stimmt, das ist das Evangelium. Aber in meinem Fall wird etwas anderes klar. Meine Tantchen haben mich, als ich gerade erst geboren wurde, heimlich in die Kirche geschafft und taufen lassen. Ich kann mich natürlich nicht daran erinnern, aber es stellte sich heraus, dass Gottes Gnade wirkte. Dass ich getauft war, erfuhr ich erst mit vierzehn Jahren und war sehr erfreut darüber. Damals konnte man nirgendwoher eine Bibel bekommen. Überall redete man davon, dass es Gott nicht gibt. Aber ich wurde viel mehr von Büchern beeinflusst – mein Glaube bildete sich unter dem Einfluss von den »Brüdern Karamasow« heran. Als Erwachsener begann ich damit, die Moskauer Kirchen zu besuchen. Doch ich war ja angestellt und riskierte damit meine Arbeitsstelle. Ich spielte Klassik, Rock und Jazz auf der Gitarre, in verschiedenen Musikgruppen, unterrichtete Musik. Ich fuhr in weiter entlegene Kirchen. Mit 16 Jahren las ich »Der Meister und Margarita« als fotokopiertes Werk. In kurzen Ausschnitten las ich mir bei Bulgakow Dinge über Jeschua an, über Pontius Pilatus. Ich verstand schon, dass es sich dabei um die Phantasien des Autors handelt, und ich wollte das Original im Neuen Testament lesen, aber ein solches hatte ich nicht."

„Von der Liebe zu den Tieren lesen Sie in Büchern. Von Gott auch. Das heißt, Ihre wichtigsten Erfahrungen haben Sie aus Büchern, nicht aus dem Leben?"

„Wie wollen Sie denn einen Menschen kennen, wenn Sie mit ihm gerade einmal zwei Stunden verbracht haben? So können Sie mich doch gar nicht kennenlernen. Es gab noch Dinge, die nicht aus Büchern waren. Der Herr bewahrte mich vor dem Tod. Ich dachte erst, ich hätte einfach nur Glück gehabt, aber es war Er, der mich bewahrte. Ich ging einmal mit meinen Kumpeln zu einem Fußballspiel, Haarlem gegen Spartak; das war das bekannte Spiel, als im Luschniki-Stadion unter dem Druck der Menschenmenge die Geländer einbrachen. Nach dem Spiel zeigte man dort auf dem Bildschirm einen Trickfilm, damit die Leute noch blieben, und so beschloss ich, nicht gleich zu gehen, sondern den Trickfilm bis zu Ende zu schauen. Als ich mich dann schließlich in Richtung Ausgang begab, gab es da schon diese Massenkarambolage. Menschen fielen auf andere Menschen. Stöhnten und schrien…"

„Und da waren Sie wieder Beobachter…"

„Dieses Erlebnis war schon etwas heftiger als die Dinge aus der Kindheit. Da waren viele Menschen. Sie schrien vor Schmerz. Ich wurde mir dessen bewusst, dass ich hätte an ihrer Stelle sein können, doch der Herr war gnädig."

„Ist denn das eine Gnade, ein Beobachter vieler Tode zu sein?"

„In dem Anblick selbst besteht keinerlei Gnade. Du weißt einfach nur, dass du diesen Menschen durch gar nichts mehr helfen kannst. Doch ich dachte: Warum hatte ich Glück, aber diese Menschen nicht? Gott hat seine eigene Sicht auf die Dinge. Obwohl ich weiß, dass ich auch jetzt dazu bereit bin, ins Jenseits überzugehen – mich schreckt der Fakt des Todes nicht."

„Und da, bei diesem Übergang, glauben Sie, dass Sie das Paradies vorfinden, und es darin Tiere gibt?"

„Es wird einen neuen Himmel nach der Wiederkunft des Heilands in der Welt geben, eine neue Erde und eine neue Schöpfung…"

Vater Pjotr begibt sich zur Kirche. Hinter ihm schließen die Kater die Reihen. Sorbet besucht am häufigsten von allen den Gottesdienst. Der Priester seufzt: „Eine Versuchung… eine Versuchung mit Sorbet". Vielleicht aber wird Vater Pjotr heute Abend in der Stimmung sein, nicht nur das Neue Testament zu lesen, sondern auch Tolstoi. Es ist so seine Angewohnheit – nicht nur eins, sondern mehrere Bücher gleichzeitig zu lesen. Beim ersten Lesen bekommt man einen Eindruck, beim zweiten Lesen gestattet man es dem Werk, tiefer in einen einzudringen.

Es wird einige Zeit vergehen, und vielleicht werden die Mädchen, welche den schwarzen Welpen ersäufen wollten, die Schwelle der Kirche übertreten und Vater Pjotr jene Sünde gestehen. Wohl kaum werden sie in dem Priester, der als Zeuge vor Gott steht, den Mann erkennen, der damals zum Fluss herabgerannt kam – er hatte damals keine Soutane übergezogen. Vater Pjotr würde sich freuen, wenn sie kämen. Wenn er sie anhört, würde er innerlich vor Entsetzen brennen, aber sich auch darüber freuen, dass sie gekommen waren. Er würde diese Sünde nicht im Detail, in jeder Einzelheit erörtern. Gott kennt die Einzelheiten. Er weiß alles – das Vergangene wie das Zukünftige.

In der Kirche nimmt Vater Pjotr Sorbet auf die Arme; der Kater war noch vor ihm ins Innere der Kirche gesprungen.

„Kostja, erzähle doch von der Frau aus der Gemeinde, die ihre Kinder zu uns in die Sonntagsschule schickt", bittet Vater Pjotr seinen Helfer, aber die Geschichte erzählt er selbst. „Sie bringt ihren Adoptivsohn zu uns, der vorher auf der Müllhalde gelebt hat. Seine Eltern sind Alkoholiker und warfen ihn, als er erst vier Jahre alt war, hinaus auf die Straße – er störte sie. Seine einzigen Freunde dort waren Katzen und Hunde. Sie alle waren unglücklich – sowohl der Junge, als auch die Tiere. Auf der Müllhalde kann man ja nur Unglückliche treffen. Der Junge suchte also bei den Tieren nach Liebe. Dann entzog man seinen Eltern das Sorgerecht, und die Frau aus unserer Gemeinde nahm den Jungen zu sich. Sie hat sechs Kinder, davon ist nur eines ihr leibliches Kind. Der Junge ist inzwischen sieben Jahre alt. Als er zum ersten Mal zu uns kam, sah er die Katzen und Hunde, und tauchte förmlich in sie ein, umarmte und küsste sie. Das meine ich als Entgegnung für jene, von denen wir immer wieder hören: ‚Helfen sie doch lieber den Kindern, nicht den Tieren'. Der, welcher ein gütiges Herz besitzt, hat genügend sowohl für die Kinder, als auch für die Tiere übrig."

„Der Junge erfuhr Liebe nur von den Tieren, nicht von seinen sogenannten Eltern", wirft Konstantin ein.

Vater Pjotr streichelt Sorbet. Der noch nicht fertig gemalte Alexander schaut auf Luka. In jenem Buch waren die folgenden Worte gelb markiert: „Die Kinder tragen immer Katzen auf den Armen. Es ist eine große Sache: Sein Ohr an die Brust einer guten Kuh zu legen, denn man spürt eine neue Wärme, eine neue Lebenswärme, wie von einer anderen Welt, noch ohne die Kategorien des Sündenfalls. Großes müssen wir aus dem Seufzen der Tiere lernen!"

„Und ich liebe alle", sagt Vater Pjotr und streichelt Sorbet. „Wieso sollte ich nicht alle lieben können? Da, Sorbet ist gerade hier, und ich liebe ihn. Würde es ihm nicht gefallen, dann würde er ja weggehen… Denken Sie denn, wir haben hier an der Kirche eine Schlange an Katzen stehen? Nein, sondern alle sind an ihren jeweiligen Orten, nur einige gehen zum Gottesdienst in die Kirche. Wir fürchten die Gruselgeschichten nicht, mit denen uns manch ein Gläubiger schrecken möchte – nämlich darüber, dass die Tiere hier ihre Geschäfte verrichten. Das tun sie nicht. Wenn er jetzt sein Geschäft verrichten möchte, geht er aus der Kirche heraus. Die sind bei uns alle sterilisiert, sie markieren die Gegend nicht. Die Sterilisierung war wohl die schwierigste Frage, die es in der »lebendigen Ecke« zu klären galt. Einerseits ist das ein Eingriff in die Schöpfung Gottes. Auf diese Art Eingriff anzuheben ist wie… Aber sie vermehrten sich bei uns in derartigen rauen Mengen, dass wir schließlich auf einen Tierarzt aus unserer Gemeinde hörten und uns mit der Sterilisierung einverstanden erklärten. In den Städten vermehren sie sich zu ihrem eigenen Untergang – das ist der Menschen Werk. Solche operativen Eingriffe verringern die Zahl der herrenlosen Tiere automatisch. Ja, in der Bibel steht geschrieben: Wachset und mehret euch. Aber bricht denn ein Mensch, wenn er die Gebote Gottes bricht, nicht auch die Gebote der Barmherzigkeit? Ein gläubiger Mensch, der das Leid der Tiere nicht sehen möchte, wird sich von einem herrenlosen Tier abwenden. Aber abwenden sollte man sich gerade nicht – es ist eine Schöpfung Gottes, und der Herr hat es sich zur Freude geschaffen. Ich spreche jetzt nicht im Namen der Kirche, sondern äußere meine persönliche Meinung – als die Meinung eines Menschen, der viele Tiere hat."

In der Kirche ist das Echo lang. Sorbet springt hinunter auf den Boden. An Vater Pjotrs Soutane haften rötliche Katzenhaare. Der Kater schreitet bedeutungsvoll zum Ausgang. Es ist eine ungewohnte Zeit, so spät bleibt Vater Pjotr selten noch in der Kirche. Die Katzen aber, die die Gottesdienste besuchen, haben eine innere Uhr. Sorbet, Kutusow und September wissen, wann man die Kirche zu betreten und wann man sie wieder zu verlassen hat, um bis zum nächsten Tag wieder auf eigenen Pfaden zu wandeln.

Vater Pjotr verlässt das Kirchengrundstück. Die Luft ist kalt. Irgendwo hier ging Vater Alexander seinen letzten Weg – zu dem Pferdewagen, der bereitstand, sich in Richtung des Butowo-Poligons in Bewegung zu setzen. Er erhob sich in aller Ruhe und ging los. Seit er aus der Verbannung zurückkehrte, erwartete er, dass man ihn holen kommt. Dem Ermittler sagte er, zur Antwort auf die Beschuldigungen des Wächters und des Arbeiters: „Solche Gespräche habe ich nicht geführt und weise eine Schuld von mir". Ganz hervorragende Eigenschaften hatte Alexander Agafonnikow. In der Tasche der Soutane von Vater Pjotr Dynnikow ist ein Telefon, im Telefon ist ein Foto aus dem Aktenarchiv gespeichert: „Auszug aus dem Sitzungsprotokoll der Gerichtstroika bei der Verwaltung des NKWD der UdSSR. 10. September 1937. Gehört wurde: Die Sache Nr. 8546, Beschuldigter: Agafonnikow Alexander Wladimirowitsch, geb. 1881, Kultdiener, Priester, vorbestraft 1927 nach Art. 58 Pkt. 10 StGB. Vor seiner Verhaftung Priester im Dorf Lemeschowo, Bezirk Podolsk, wohnhaft ebenda. Wird der Ausübung konterrevolutionärer Tätigkeit beschuldigt. Beschlossen: Agafonnikow Alexander Wladimirowitsch ist zu ERSCHIESSEN".

Vater Pjotr hebt sein Angesicht zum Himmel über dem Dorf Lemeschowo des Bezirks Podolsk. Da ist der Mond. Da ist der Fluss. Der alte Mond. Der alte Fluss. Der alte Himmel. Die alte Erde. Die alte Schöpfung. Alles dasselbe. Aber eines Tages wird ein Kind seine Hand über dem Schlangennest ausstrecken können. Der Wolf wird zum Kalb herantreten, und die Bärin mit der Kuh weiden. Wie eine Mauer wird das Misstrauen zwischen den Menschen und den Tieren zusammenbrechen. Das hat es schon gegeben – in den Visionen des Propheten Jesaja.

Quelle: »Русский репортер«