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Die Auseinandersetzung zwischen dem Protopopen Awwakum und Patriarch Nikon

Wer waren die beiden Protagonisten des Schismas in der russischen Kirche des 17. Jahrhunderts, was war das Ziel ihres Wirkens?

Autor: Roman Bannack

25. Februar 2007

 Kirche   orthodox 
Lesezeit: ca. 22 Minuten

Die Protagonisten des Schismas in der russisch-orthodoxen Kirche, das im 17. Jahrhundert zur Abspaltung der sogenannten „Altritualisten“ führte, waren allesamt Persönlichkeiten eines starken Charakters und von unnachgiebigem Wesen. Die nüchterne Betrachtung der historischen Ereignisse lässt indes einen Schluss zu: Es ist der Versuch der Emanzipation des Zaren von der Kirche und mithin ein Schritt in Richtung Säkularisierung, welche zu dieser historischen Zäsur in der Geschichte der russischen Kirche führten.

Paradoxerweise ergab es sich, dass die Hauptfiguren des russischen Schismas im 17. Jahrhundert miteinander eng verbunden waren, lange bevor sie sich schließlich auf verschiedenen Seiten der Barrikaden wiederfanden. Beispielsweise stammen Patriarch Nikon (1605-1681) und der Protopope Awwakum (1620/21-1682) aus benachbarten, nur wenige Kilometer voneinander entfernten Dörfern des Gebietes Nischni Nowgorod, in welchem der berühmte Protopope Ioann Neronow (1591-1670) predigte, welcher einer der Organisatoren und das Herz der Bewegung der „Eiferer der altehrwürdigen Frömmigkeit“ („Rewniteli drewnego blagochestija“) war. Sowohl Patriarch Nikon als auch der Protopope Awwakum waren ihrer Nationalität nach Mordwinen.

Die „Eiferer der altehrwürdigen Frömmigkeit“ strebten nach einer geistlichen Gesundung des russischen Volkes; Nikon, Awwakum und auch Neronow waren Persönlichkeiten mit einem sehr starken Charakter. Es tut also nicht wunder, dass sie, einmal mit den entsprechenden Möglichkeiten ausgestattet, sich daran machten, ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Womöglich war es eine der Schwächen der „Eiferer der altehrwürdigen Frömmigkeit“, dass ihnen außer einem Ideal keine Führungspersönlichkeit vorstand. All diese starken Persönlichkeiten mit ihrem teils stolzen und unduldsamen Verhalten führten die Idee der geistlichen Gesundung des Volkes schließlich in die Katastrophe eines Schismas.

Patriarch Nikon (Minin), 1605-1681

Patriarch Nikon, dessen weltlicher Name, also vor seiner Mönchstonsur, Nikita Minin war, wurde 1605 im Dorf Weldemanowo in der Gegend von Nischni Nowgorod geboren. Seine Mutter starb früh, so dass er von der Stiefmutter erzogen wurde. Diese mochte ihren Stiefsohn Nikita nicht und behandelte ihn sehr grob. Unter dem Druck einer solch barschen Erziehung floh Nikita im Alter von 12 Jahren aus dem elterlichen Haus ins Makariew-Scheltowodsk-Kloster, wo er auch seine Ausbildung erhielt. Im Alter von ungefähr 20 Jahren kehrte er ins Elternhaus zurück, um seinen Vater zu begraben. Es war ihm bestimmt zu bleiben: er heiratete, es wurden ihm Kinder geboren. Seiner Berufung gemäß wurde er Gemeindepriester. Als er 30 Jahre alt war, starben seine Kinder an einer Krankheit. Diesen Schicksalsschlag deutend, überredete er seine Frau, ins Kloster zu gehen1 und wurde 1635 selbst Mönch mit dem Namen Nikon in der Skite auf der Anserskij-Insel. Nach einiger Zeit wurde er Abt im Koscheoserskij-Kloster. 1646 wurde Zar Alexei I. auf ihn aufmerksam, woraufhin Nikon aufgrund seiner herausragenden Talente als Archimandrit im Nowospasski-Kloster in Moskau eingesetzt wurde. Er wurde Mitglied im zu der Zeit am Hof des Zaren bereits aktiven Zirkel der „Eiferer der altehrwürdigen Frömmigkeit“. 1649 wurde er in die Würden eines Metropoliten erhoben und in Nowgorod eingesetzt; 1652 starb Patriarch Iosif. Es ist nicht verwunderlich, dass Nikon zu seinem Nachfolger gewählt wurde. Es gab zwar auch andere Kandidaten (zum Beispiel den Beichtvater des Zaren, Stefan Wonifatjew), aber Nikon erhielt das Patriarchenamt auf Fürsprache des Zaren zugesprochen und begann sofort eine emsige Tätigkeit. Die Bedeutung des Patriarchen erstarkte nach einer vorübergehenden Schwächung unter seinen beiden Vorgängern wieder: Patriarch Ioasaf I, der als Zögling von Patriarch Filaret gilt2, war ein sehr frommer Mann, aber „dem Zaren gegenüber nicht wagemutig“; unter Patriarch Iosif trat 1649 die bekannte Verordnung des Zaren Alexei I. in kraft, es wurde das sog. „Klosteramt“ („Monastyrskij prikaz“) geschaffen, das faktisch eine Möglichkeit der Einmischung des Zaren in kirchliche Angelegenheiten darstellte. Unter Patriarch Nikon jedoch erlangte das Patriarchenamt wieder die zu Zeiten von Patriarch Filaret bestehende Macht. Patriarch Nikon wurde sogar der Titel eines „Großherrn“ („Welikij gosudar'“) zuteil; in manchen Fällen nahm er sich das Recht heraus, Bischöfe ohne die Einberufung eines Konzils zu richten3. Der „Großherr“ Patriarch Nikon besaß auch konkrete weltliche Macht. Zu Zeiten kriegsbedingter Abwesenheit des Zaren hatte er die höchste Staatsmacht im Lande inne.

Patriarch Nikon setzte die Ideale der „Eiferer“ mit Tatendrang um; er führte den Kampf gegen die Vielstimmigkeit4 fort, korrigierte Fehler in liturgischen Büchern, ließ Klöster bauen.

Allerdings konnte er den plötzlichen Verlust der Loyalität des Zaren nicht verkraften. Am 8. Juli 1658 erschien der Zar nicht zur vom Patriarchen zelebrierten Liturgie. Das war ein bis dato unerhörtes Vorkommnis. Zwei Tage später, am 10. Juli 1658, zum Festtag der Niederlegung des verehrungswürdigen Gewandes des Herrn in Moskau, erschien der Zar wieder nicht zum Gottesdienst des Patriarchen. An diesem Tag verkündete Nikon nach der Göttlichen Liturgie, dass er das Patriarchenamt aufgibt und ins Auferstehungskloster geht.

1660 wurde er durch Konzilsbeschluss vom priesterlichen Dienst suspendiert, begründet wurde das mit seiner eigenmächtigen Aufgabe seiner Kathedra. Auf Initiative des Bojaren Sjusin kehrt er in die Moskauer Uspenski-Kathedrale zurück, bekleidet mit den vollständigen Insignien eines Patriarchen, aber er begriff sehr schnell, dass der Zar ihm nicht gnädig gestimmt ist und kehrte eilends wieder ins Kloster zurück. Am 1. Dezember 1666 wurde das Große Moskauer Konzil eröffnet, zu welchem Nikon als Beschuldigter geladen wurde; als Ankläger trat Zar Alexei I. auf. Am 12. Dezember verurteilte das Konzil Nikon; er wurde im Ferapontow-Kloster interniert. Nach dem Tod Alexeis I., im Jahr 1676, wurde Nikon ins Kirillow-Kloster überführt. Einige Jahre später, 1681, wurde ihm aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes gestattet, im Auferstehungskloster zu leben – die rauen klimatischen Bedingungen im den nördlicheren Klöstern, die er vorher bewohnte, setzten im schwer zu. Auf dem Weg ins Auferstehungskloster allerdings starb der ehemalige Patriarch Nikon. Bestattet wurde er trotz der gegen ihn geltenden Suspendierung wie ein Bischof.

Protopope Awwakum Petrow, 1620/21-1682

Der Protopope Awwakum Petrow wurde 1620 oder 1621 in der Familie eines Priesters in der Siedlung Grigorowo, Gebiet Nischni Nowgorod, geboren; dort war sein Vater Gemeindepriester. Seine Mutter, welche ihn auch erzog, war eine sehr fromme Christin, vom Vater jedoch wird berichtet, er habe „eine Schwäche für gegorene Getränke“5 gehabt.

Awwakum heiratete Nastasja Markowna, eine Bewohnerin seines Dorfs, und wurde im Jahr 1643 oder 1644 Priester. Er diente in mehreren Gemeinden, und wurde dort jeweils von den Leuten verjagt, weil er seiner Gemeinde gegenüber zu streng gewesen sein soll. Awwakum kam durch die Fürsprache seines Landsmanns Ioann Neronow in Moskau unter; dieser erwirkte eine Priesterstelle in der Kasanskij-Kathedrale für ihn. Später wurde er nach Jurjewez versetzt, blieb allerdings, wie es scheint, bei seiner Einstellung: Die dortige Gemeinde verprügelte ihn und ließ ihn, kaum, dass er lebte, in einer Ecke seines Hauses liegen. Awwakum floh wieder nach Moskau und bekam auf dem bereits bewährten Wege Zuflucht bei Neronow. Dort schloss er Bekanntschaft mit dem Zirkel der „Eiferer der altehrwürdigen Frömmigkeit“.

Gleich nach der Wahl Nikons zum Patriarchen, im Jahre 1652, wird von diesem die „Anordnung über das Bekreuzigen mit drei Fingern“ („Ukaz o trojeperstii“) herausgegeben. Die ehemaligen Freunde, allen voran Awwakum, reagierten sehr besorgt: Ihnen schienen die Reformen des Patriarchen eine Zersetzung gerade der Frömmigkeit zu sein, für die sie stritten, und antworteten darauf mit einer Initiative „Zum Schutz des Altehrwürdigen“. Awwakum wurde für den Widerstand gegen die kirchliche und weltliche Macht nach Sibirien verbannt, erst nach Tobolsk, später nach Jakutstk an den Lena-Fluss. Allerdings ließ er auch dort nicht von seiner Tätigkeit ab: 1656 war er einer Expedition des Afanassij Paschkow nach Daurien zugeteilt, im Verlaufe welcher er u.a. bei der Gründung der Stadt Irkutsk zugegen war, aber Paschkow mochte den eifernden Charakter des Awwakum nicht leiden und bestrafte ihn öfters streng zum Beispiel für Denunziationen. Letzten Endes ließ Paschkow Awwakum samt Familie in Sibirien zurück. Awwakum kehrte allerdings 1662, wieder auf Betreiben seiner Freunde, nach Moskau zurück. Er hatte es nicht mehr nötig, sich zu verstecken, denn der Zar bereitete ihm einen würdigen Empfang, wonach er sogar innerhalb des Kreml wohnen durfte. Allerdings lehnte er es ab, von seiner kategorischen Ablehnung der Reform der liturgischen Schriften und der Verurteilung der, seiner Meinung nach, „Veränderung der Frömmigkeit“ abzuweichen. Im Jahre 1664 wurde er nach Pustosjorsk verbannt; 1666 wird er zum Konzil geladen, das – im Beisein der Patriarchen des Ostens6 – über ihn zu Gericht saß. Im Jahre 1682 wurde er mit Gleichgesinnten auf einem Scheiterhaufen verbrannt, aufgrund von „schrecklichen Lästerungen gegen das Zarenhaus“.

Die „Eiferer der altehrwürdigen Frömmigkeit“

Die nationale Idee – der noch Ende des 15. Jahrhunderts wieder erstarkte Gedanke über eine besondere Vorsehung Russlands innerhalb der orthodoxen Welt – nährte das Selbstverständnis und den Willen der Russen, dieser besonderen Erwähltheit zu entsprechen. Nach dem Fall von Konstantinopel wurde Russland nach Meinung vieler Zeitgenossen zum Erben des orthodoxen Reichs und folglich zum Unterpfand für das Heil der gesamten Welt.

Die „Erzählung vom weißen Klobuk“7, einem Symbol der Reinheit des orthodoxen Glaubens, welche offenbar Ende des 15. Jahrhunderts in Nowgorod aufkam (und die unter den Altritualisten bis heute eine gewisse Popularität hat), widmet sich der Erwählung des russischen Volks: „Im Dritten Rom aber, das auf russischer Erde steht, erleuchtete die Gnade Gottes“. Die berühmte Aussage des Mönchs Filofej von Pskow – „… Zwei Rome sind gefallen, das dritte steht, und ein viertes wird es nimmer geben“, welche ein paar Jahrzehnte später auftaucht, verleiht dem Leitbild der russischen Mission in der Welt einen noch größeren, eschatologischen Charakter.

Genau aus dieser „russischen Idee“ heraus erblühte die Bewegung der Bogoljubzen8. Wie später die Altritualisten lebten sie ein intensives geistliches Leben, traten für ein bewusstes Verhältnis zum persönlichen Gebet und zum Gottesdienst auf, kämpften gegen Trunkenheit und Unzucht und stellten generell Christus und die Kirche ins Zentrum ihres Lebens. Die Predigten der Bogoljubzen, welche heidnische Tendenzen und Nachlässigkeit dem ewigen Heil gegenüber anprangerten, wurden nicht überall mit Tränen der Reue aufgenommen, und es geschah, dass die Prediger selbst verprügelt und verjagt wurden, weil sie ihrer jeweiligen Gemeinde gegenüber überaus fordernd auftraten – der Protopope Awwakum war nicht allein mit seinem Schicksal. Trotzdem war einige Jahrzehnte später der Erfolg dieser Predigten nicht von der Hand zu weisen. Zum Beispiel wurde in den Konzilien von 1649-1651 beschlossen, in den Kirchen die „Einstimmigkeit“ einzuführen, das heißt, es wurde verboten, verschiedene liturgische Texte gleichzeitig zu singen oder zu beten, womit man bis dato den Gottesdienst signifikant verkürzt hatte. Es wurde eine mündliche, lebendige Predigt in den Kirchen verordnet; die Tätigkeit der kirchlichen Druckereien wurde intensiviert.

Die Intensität des geistlichen Lebens dieser Zeit erinnert an die Glanzzeit des Oströmischen Reiches, als dieses zum ersten christlichen Weltreich wurde. Nach Berichten von Zeitgenossen gab es damals nur im Moskauer Reich solch häufige und lang dauernde Gottesdienste. Erzdiakon Paulos von Aleppo, der im Gefolge seines Vaters, des Patriarchen von Antiochia zum Großen Konzil 1666/67 nach Moskau reiste, beschreibt in seinen Reiseerinnerungen die Frömmigkeit der Russen (hier speziell die Karwoche des Jahres 1666) folgendermaßen:

„Wir waren vor Müdigkeit kaum bei Bewusstsein, und unsere Beine gaben nach. Gott möge uns beistehen, diese Woche zu Ende zu bringen! Scheinbar sind ihre Beine aus Eisen, und im Land der Russen gibt es keine andere Krankheit als die Gicht und nicht zu lindernde Schmerzen in den Beinen, und das angefangen bei den Zaren bis hin zu den Armen, - alles das wegen des unendlich langen Stehens in den Kirchen (…).

Wir starben fast vor Müdigkeit, die Beine waren taub vom pausenlosen Stehen vom frühen Morgen bis zum Abend. Aber der Frieden Gottes möge auf diesen Menschen ruhen, auf den Männern und Frauen, Kindern und Mädchen, für ihre Geduld, ihr Stehen, ihre Festigkeit von früh bis spät… Es sind Dinge, die der Verwunderung würdig sind! Welch wunderbarer Sitten und bemerkenswerter Tugenden sind wir inmitten dieses Volks Zeugen geworden! Welche Stärke wohnt in ihren Körpern, und wie eisern ihre Beine sind! Sie werden nicht müde und sie erschöpfen nicht. Möge Gott, der Höchste, ihr Dasein verlängern!“9

Das irdische Leben sollte, den Idealen der Bogoljubzen zufolge, eine immerwährende Liturgie sein, ähnlich wie jene, die ewig von den Engeln vor dem Angesicht Gottes gefeiert wird (vgl. Johannes-Offenbarung).

Zar Alexei I., der seit 1645 regierte, unterstützte die Sache der Bogoljubzen unter dem Klerus und an seinem Hof anfangs eifrig und führte selbst einen entsprechenden Lebenswandel: Er stand die ganzen langen Gottesdienste bis zum Ende durch, pilgerte, verzichtete auf jedwede Art von Belustigung und Schauspiel; montags, mittwochs und freitags aß und trank er aus asketischen Beweggründen nichts, widmete geistlichen Gesprächen mit den „Eiferern der Frömmigkeit“, die sich um den Beichtvater des Zaren – Stefan Wonifatjew – versammelten, viel Zeit.

Dieser Wonifatjew-Kreis etablierte sich zu einem gewissen höfischen Zentrum der kirchlichen Leitung, durch welchen die „von unten“ ausgehende, häufig von Gemeindepriestern initiierte, Bewegung der „geistlichen Gesundung“ des Volkes in die Tat umgesetzt wurde. Zu der Zeit, als Nikon nach Moskau kam, gehörten diesem Kreis außer dem Zaren und dessen Beichtvater auch bereits der Bojar Rtischew und der Protopope Ioann Neronow an; zwei Jahre später stieß auch der Protopope Awwakum dazu. Alle fanden sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort und waren erfüllt von der Hoffnung auf große Veränderungen.

1652 wird Nikon Patriarch. Die Bogoljubzen triumphierten – ihr Freund und Mitstreiter bekam die reale Möglichkeit, das orthodoxe Reich, das Dritte Rom, welches nicht untergehen sollte, aufzubauen und zu festigen. Der Zar unterstützte Nikon und galt in diesen Jahren als sein Freund. Diese Freundschaft war, Zeitgenossen zufolge, überaus herzlich und galt für viele als ein gutes Vorzeichen für die Zukunft Russlands. Im Jahre 1655 hieß es im in diesem Jahr gedruckten Liturgikon10 im Vorwort, es seien die „zwei großen Gaben“, die „weise Zweiheit“, die „Gott zur Führung und für die Sorge um Sein Volk erwählt“ hat. Eine solche, aus der byzantinischen Tradition geerbte, „doppelköpfige“ Führung des Reiches, die „Symphonie“ zwischen Kirche und Staat, rief auch keinesfalls den Protest des Zaren hervor.

Der Bruch

In einem Sendschreiben des Patriarchen aus dem Jahre 1653 mit dem Titel „Unterweisung des Patriarchen Nikon an den geheiligten Klerus und die Altardiener“, das an alle Gemeinden versandt wurde, wurde es fortan verboten, sich mit zwei Fingern zu bekreuzigen und, in bestimmten Teilen des Gebets des hl. Ephraim des Syrers, sollten nur mehr „in den Kirchen Verbeugungen bis zum Gürtel“ anstelle der „Metanien auf Knien“ verrichtet werden.

Danach folgte der Druck von liturgischen Büchern mit Veränderungen in den Gebetstexten, den Exklamationen und der Ordnung der Göttlichen Liturgie und anderer Gottesdienste in Anlehnung an aktuelle griechische Vorlagen. Diese energischen und rigorosen Maßnahmen des Patriarchen trafen auf den verzweifelten Widerstand seiner vormaligen Freunde und der gesamten Bewegung der Bogoljubzen.

Hierbei ging es, wie es scheint, nicht nur und nicht so sehr darum, dass das Kirchenvolk zu solch großen Änderungen nicht bereit war. Ganz im Gegenteil, gerade die Jahrzehnte vor dem Patriarchentum des Nikon waren erfüllt von der Erwartung des „Königtums des Heiligen Geistes”, das in der „Erzählung vom weißen Klobuk” prophezeit wurde. Allerdings hat es das nationale Selbstbewusstsein, welches bis hin zur Idee vom Dritten Rom reichte, nicht verkraften können, dass plötzlich die Grundsäulen der orthodoxen Wahrheit insofern erschüttert wurden, dass die russische Kirche die Rolle eines nachlässigen Schülers einnehmen sollte, der sich von den Griechen und Lateinern belehren lassen musste.

Möglicherweise ist das der Grund, weshalb die Verfügungen des Patriarchen Nikon als so schmerzhaft empfunden worden sind. Die gefestigte Ordnung brach in kurzer Zeit zusammen, und der Mythos von der ewigen Wahrheit der russischen Orthodoxie und der exklusiven Rolle der Rus als Hüterin dieser Wahrheit schien gefährdet zu sein.

Zwischen Patriarch Nikon und den Bogoljubzen kam es zum Bruch und hernach zu heftigen Auseinandersetzungen. Mit derselben Hingabe, mit der sie vorher die gemeinsamen Ideen verteidigten, stritten sie nun gegeneinander. Diese zweifellos charismatischen Persönlichkeiten erwiesen sich als gleich stark, aber – wie es den Anschein hatte – nahmen sie gegensätzliche Positionen ein. Die historischen Figuren des Protopopen Awwakum und die des Patriarchen Nikon hinterließen im russischen gesellschaftlichen Bewusstsein eine deutliche Spur, und bis heute stellt man sich die Frage: Wer hatte recht?

Es ist bekannt, dass die neuen Übersetzungen der liturgischen Schriften, die in der Zeit des Patriarchen Nikon angefertigt wurden, von griechischen Originalen erfolgten, die – unter dem Einfluss des Türkenjochs – in Venedig gedruckt worden sind, also bei den „ketzerischen Lateinern“. In etwa Gleiches gilt hinsichtlich der Rituale und deren Formen, wie beispielsweise der Sitte des griechischen Klerus, das Haar lang zu tragen. Bei den Griechen (in Byzanz) war langes Haar ein Symbol weltlicher Macht; unter dem Türkenjoch bekamen die Patriarchen vom Sultan die Rolle eines „Ethnarchen“, der für die Griechen im Reich verantwortlich war, und damit die weltliche Macht, die durch lange Haartracht symbolisiert wurde. Auch der Klerus in Russland trug nun seit den Zeiten des Patriarchen Nikon ungeschnittene, das heißt lange Haare. Solche rein äußerlichen Faktoren waren dazu imstande, die Bogoljubzen nachhaltig zu kränken und richteten sich gegen ihre Überzeugung, die „russische Version“ der Orthodoxie nehme eine herausragende Rolle ein, was deren Reinheit und Exklusivität anbelangt.

Metropolit Makarij11 argumentiert, dass in der Auseinandersetzung zwischen Nikon und Awwakum der Patriarch rein formell „recht“ hatte: Es könne keine Rede von dessen Eigenmächtigkeit sein, denn alle Reformen, angefangen mit der „Verfügung über das Bekreuzigen mit drei Fingern“ bis hin zur Revision der liturgischen Schriften wurden dem Bischofskonzil zur Approbation vorgestellt, bevor sie rechtskräftig wurden. Gleiches gilt für das Anathema gegen die Schismatiker12. Wer ist es also, dem gegenüber Awwakum und seine Gefolgsleute Ungehorsam leistete? Letztlich wäre dies also die Kirche und ihre Hierarchie. Alles Übel lag aber möglicherweise darin, dass – wie Erzpriester Georgi Florowskij feststellt – „das Geheimnis Nikons in seinem Temperament“13 zu suchen ist.

Eine Konfrontation?

Metropolit Makarij bemerkt14 allerdings gleichzeitig, dass Patriarch Nikon durchaus nicht daran ging, die „alten Rituale“ abzuschaffen, sondern sie für ebenso würdig befand wie die „neuen“, er habe nicht verboten, danach Gottesdienst zu feiern, und wird zitiert mit „beide sind gut“. Der Kampf galt allerdings denen, welche die revidierten liturgischen Schriften als einen Bruch mit der kirchlichen Tradition verdammten, also mit denen, welche die „alten Rituale“ zu einem unausgesprochenen Dogma erhöhten. Es scheint, als habe Russland noch 300 Jahre vor dem Westen seine Version eines römisch-katholischen „Lefebvre“-Schismas durchlitten.

Awwakum seinerseits widerstand nicht so sehr der Person des Patriarchen Nikon, als vielmehr Teilen seines kirchlichen Wirkens. Obschon er seinen Gönnern, die seine Rückkehr aus der Verbannung nach Moskau ermöglichten, wohl Dank schuldig war, verliefen die Wege Awwakums und die seiner Gönner unterschiedlich: Diese kämpften gegen die Person des Nikon, Awwakum aber kämpfte lediglich gegen Nikons kirchliche Reformen.

Das Hauptmotiv für den gegenseitigen Ungemach war also anderswo zu suchen. Die „weise Zweiheit”, die Freundschaft zwischen dem Zaren und dem Patriarchen, zerbrach daran, dass sie dem Druck der jeweiligen persönlichen Ambitionen und der Intrigen am Hofe nicht gewachsen war. In dem Moment, als die Zuneigung des Zaren sich in Feindseligkeit wandelte, die vormalige Größe und das Wohlergehen durch Verfolgung und Mühsal abgelöst wurde, rebellierte Nikon, der inzwischen seine Kathedra verlassen hatte, gegen die staatliche Gewalt und ähnelt im Stil seiner Polemik erstaunlicherweise seinem ehemaligen Freund, dem Protopopen Awwakum; selbst die Ideologie und gar die Terminologie des Nikon weisen erstaunliche Ähnlichkeit mit denen der „Altritualisten“ auf.

„Das Priestertum steht höher als das Königtum”, und das Nikon zufolge kraft dessen, dass es höhere Aufgaben und Rechte hat; so argumentiert er in seiner Antwort auf den Dialog zwischen dem Bojaren Streschnjow und Paisios Ligarides, dem Metropoliten von Gaza15. Den Aufruf zum Widerstand gegen die Verordnung des Zaren von 1649 über die Schaffung des „Klosteramts“ erweitert er zu einem Kampfaufruf gegen den Staat selbst bis hin zum Martyrium:

„Ebenso auch heute, wollte sich jemand ermannen und zum Schutze des heiligen Evangeliums, der Gebote Christi und der heiligen Apostel, sowie der Kanones der heiligen Väter aufbegehren, und gleich den ersten Märtyrern nicht nur den Richter16 nicht anhören, sondern ihn dazu noch anspeien und seine Verordnungen verdammen, ebenso sein Gesetz17, und er bei den Amtsleuten dessen Kraft und die Erinnerung daran vernichtet, herausreißt, bespeit und zertrampelt, wahrlich, ein solcher sündigt nicht gegen das Heil und gleicht den ersten Märtyrern.“

Der ehemalige Patriarch glaubt von sich ebenso wie die „Altritualisten”, er verteidige die „heiligen und göttlichen Kanones“, er sieht im Staat das Reich des Antichristen und selbst in der Kirche die „Hure“ aus der Johannesoffenbarung:

„...wenn heute die Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe, die Archimandriten, Äbte, Priester und Diakone und die übrigen Kirchendiener, entgegen dem göttlichen Gesetz das Gericht des Zaren und übriger weltlicher Menschen anrufen, so sind die Metropoliten es nicht mehr würdig, Metropoliten genannt zu werden, ebenso auch die Erzbischöfe, bis hin zu den Geringsten. … In der Kathedrale18 gibt es keinen Gesang mehr19 Und die Kirche ist zu einer Spelunke, oder zu einer Höhle geworden. Deshalb ist sie nun verwaist. Und wenn es einen neuen Patriarchen geben wird, so wird sie zur Hure.“

Genau die gleiche Art Dialektik sieht man bei Awwakum und seinen Gefolgsleuten in ihrer Polemik gegen die „Nikonianer“.

Schluss

Awwakum sah einen Verrat an der Orthodoxie in der Änderung der Rituale, Nikon in einer Einmischung des Staates in kirchliche Angelegenheiten, selbst wenn dies nicht die Glaubenslehre betraf. Tatsächlich widerstanden die beiden nicht so sehr einander, wie sehr sie beide gegen eine sich abzeichnende Emanzipation des Staates von seiner geistlichen Grundlage, der Kirche, stritten, also gegen die Säkularisierung der Gesellschaft, gegen den aus ihrer Sicht unmöglichen Fall des „Dritten Rom“:

„Das Gespür sagte ihm (Nikon - R.B.) richtig, dass mit den neuen Ordnungen und der Ideologie eines neuen, säkularisierten Staates, die Epoche eines erst nur „laizistischen“, säkularen, und später allerdings eines direkt antireligiösen und gar gottlosen Geistes beginnt, der letztlich seit der Zeit Peters I. über Russland hereinbrach. Durch dieses Gespür geleitet und an Kleinigkeiten verhaftet, charakterisiert Nikon in tragischer Weise die Autoren der Verordnung von 1649 über die Schaffung des Klosteramtes.”20

Sowohl der eine, als auch der andere hielten an Scheingründen für ihren Ungehorsam fest und nahmen diese zum Vorwand für ihre ungestümen gegenseitigen Anschuldigungen. Beide wurden durch ein und dasselbe Konzil von 1666 verurteilt. Im Falle von Awwakum wurde dies direkt als Verurteilung wegen Widerstands gegen den Zaren formuliert, im Falle von Nikon handelte es sich um eine Verurteilung wegen des eigenmächtigen Verlassens der Kathedra, allerdings zeigt die ausführliche „Anklage des Patriarchen Nikon“ aus der Feder Alexanders, des Bischofs von Wjatka, welche dieser 1662 beim Zaren einreichte, dass hinter der Verurteilung des Nikon eigentlich der gleiche Grund zu suchen ist wie bei der Verurteilung des Awwakum:

„Ihn selbst richtest du, ebenso die hochgeweihten Metropoliten, die Erzbischöfe und Bischöfe, die Archimandriten und Äbte, die Klöster, die geweihten Ältesten und den ganzen kirchlichen Klerus. … Und nun wagt er (Nikon - R.B.) es zu schreiben und dich einen Verfolger und ein Raubtier zu nennen, und tritt dabei den Kanon 84 der Canones apostolorum mit Füßen, der folgendermaßen lautet: Wenn jemand dem Herrscher zu Unrecht Misshelligkeit bereitet, so, wenn er ein Bischof oder sonstiger Kirchendiener ist, soll er ausgeschlossen werden. (…) Petrus, der höchste unter den Aposteln, gebietet, den Kaiser zu ehren. Und ebenso schreibt der göttliche Apostel Paulus: Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht übel reden (Apg. 23:5). Und er gebietet es, für den Herrscher zu beten und für alle, die in der Macht sind. Der Kirche oder dem Herrschenden Misshellkigkeiten zu bereiten ist in allem verboten.”21

Beide, Awwakum und Nikon, wandten sich auf jeweils ihre Weise gegen die „Enthauptung“ des zweiköpfigen Adlers der Symphonie zwischen Kirche und Staat: Ersterer sah den Fall des geistlichen Haupts in der „Missachtung der Tradition“, letzterer kämpfte gegen die Vereinnahmung des geistlichen Haupts durch das weltliche. Auch wenn diese Symphonie meist nur – auch in Byzanz – ein unerreichtes Ideal war, so waren doch beide, Nikon und Awwakum, ausgesprochene Idealisten, die im Verlauf einer langen Zeit beide versucht haben, dieses Ideal zu verwirklichen.

Beide Schicksale hatten einen ähnlichen Anfang, und ebenso ähnlich endeten sie: in der Verbannung und Exkommunikation (im Falle Awwakums) und im Ausschluss aus dem priesterlichen und kirchlichen Dienst (im Falle Nikons).

Erschienen in: "CRISIS" Ausgabe 2 (Herbst 2022)

Quellen und Literatur

Makarij (Bulgakow, Metropolit). „Geschichte der Russischen Kirche“, Buch 5, Bd. 10

Kartaschow A.W. „Die Ideologie des Patriarchen Nikon“ (aus: Kartaschow, „Geschichte der Russischen Kirche“)

Aleksander, Bischof von Wjatka. „Anklage gegen den Patriarchen Nikon“, Veröffentlichung von D. F. Polesnew

Titowa A. „Patriarch Nikon, oder zur Frage nach der Vorsehung Gottes und der Demut des Menschen“

Schuscherin, Iwan. „Nachricht von der Geburt, der Erziehung und vom Leben des heiligsten Patriarchen Nikon“

„Lebensbeschreibung des Protopopen Awwakum“, Publikation auf www.russia.rin.ru

Hösch, Edgar: Die Idee der Translatio Imperii im Moskauer Russland, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/hoesche-2010-de

Fußnoten


  1. Über seine Frau wird vom Biographen Nikons (Iwan Schuscherin, sein Zellendiener) eher Negatives berichtet. Nach seinem Zeugnis war sie nicht fromm und ist in Wirklichkeit keine Nonne geworden. Trotzdem hat sich Patriarch Nikon später um ihr Auskommen gekümmert. 

  2. Da der Sohn von Patriarch Filaret, Michail Fjodorowitsch, damals Zar war, wundert es nicht, dass Filareteinen Patriarchen als seinen Nachfolger sehen wollte, welcher der Macht des Zaren nicht gefährlich werden konnte. 

  3. Z.B. die Bischöfe Pawel von Kolomna (auch ein Landsmann von Patriarch Nikon!) und Simeon von Tobolsk. 

  4. Eine bis dahin in russischen Kirchen verbreitete Unsitte, zur Verkürzung von Gottesdiensten mehrere Gebete, Psalmen usw. gleichzeitig zu lesen zu lassen. 

  5. So berichtet Awwakum selbst in seiner Autobiographie. 

  6. Mit den „Patriarchen des Ostens“ meint man gemeinhin die Patriarchen der Ortskirchen von Antiochia und Jerusalem. 

  7. Dazu Edgar Hösch in „Die Idee der Translatio Imperii im Moskauer Russland“: „Die Legende ist im Umfeld des Novgoroder Erzbischofs Gennadij (1410–1505) entstanden und schildert die Herkunft dieser besonderen Kopfbedeckung der Novgoroder Erzbischöfe, die später auch von den Moskauer Patriarchen getragen wurde. Demnach soll es sich um den Klobuk des Papstes Silvester I. (gest. 335) handeln, der in der Mitte des 14. Jahrhunderts von Rom an den Patriarchen Philotheos I. (1300–1376) in Konstantinopel überbracht wurde und der ihn nur widerwillig, einem Traumgesicht folgend, an den Novgoroder Erzbischof weiterreichte. Zur Begründung für die nächtliche Weisung wird auf die Glaubenstreue Russlands nach dem Abfall des alten Rom und auf die drohende Eroberung Konstantinopels durch die Türken verwiesen.“ (sic) 

  8. Deutsch in etwa: „die Gott liebenden“ 

  9. Erzdiakon Paulos von Aleppo, „Die Reisen des Makarius, Patriarch von Antiochia“, t. IX, Kap. XIV. 

  10. Messbuch 

  11. Metr. Makarij (Bulgakow), „Geschichte der russischen Kirche”, Buch 5, Bd. 10 

  12. Gemeint sind die Altritualisten, die „Raskolniki“. 

  13. Zit. nach: Titowa A., „Patriarch Nikon, oder zur Frage nach der Vorsehung Gottes und der Demut des Menschen“ 

  14. Metr. Makarij (Bulgakow), ibid. 

  15. Diese Anmerkung und weitere Zitate in diesem Absatz nach: Kartaschow, Geschichte der Russischen Kirche. „Die Ideologie des Patriarchen Nikon“. 

  16. Analog zu den Prozessen über die frühen Märtyrer im Römischen Reich gebraucht Nikon hier „Richter“ als Bezeichnung für den Zaren. 

  17. Gemeint ist die Verordnung über die Schaffung des „Klosteramts“ von 1649. 

  18. Gemeint ist die Uspenskij-Kathedrale in Moskau als Sitz des russischen Patriarchen. 

  19. D.h., es gibt keinen gültigen, gnadenerfüllten Gottesdienst mehr. 

  20. Kartaschow, ibid. 

  21. „Anklage gegen den Patriarchen Nikon“ des Bischofs Alexander von Wjatka, Art. 7.