:chartophylax:

Als ich aus Berlin zurückkehrte

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

18. Mai 2014

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 6 Minuten

Als der Krieg begann, wurde Boris einem wichtigen Kommandeur als Offiziersbursche beigeordnet. Saschka musste man noch niemandem beiordnen – seine Jahre waren noch zu jung. Er aber lief unvermittelt fort. Im Ort sagte man, dass der Priester, mit dessen Sohn Saschka befreundet war, an allem schuld sei. Nach dem Motto, er habe sie zu Hause besucht, verdarb immer weiter, so dass er schließlich diese Dummheit beging und nun an vorderster Front im Krieg kämpft.

Er war ein Possenreißer, ein Spaßmacher, ein bisschen auch ein Chaot, und genau solche schätzt man in den Schützengräben. Tatsächlich musste er für diese seine Qualitäten auch einmal leiden. Als er einmal, um Meldung zu machen, zum Stab kam, beschloss Saschka, vor dem Rückweg eine Mütze voll Schlaf zu nehmen – der Tag war heiß, und der Kämpfer war ermattet. Kaum, dass er es sich im Schatten eines Baumes bequem gemacht hatte, kam auch schon ein Offizier heran: „Brüderchen, du kommst doch von den vordersten Linien?.. Was gibt es da bei euch Neues?.. Was denn, gar nichts?.. Schade … Wir Reporter sitzen hier schon den zweiten Tag ganz ohne irgendwelche Neuigkeiten herum – es gibt nichts, was wir an die Redaktion schicken könnten, und unsere Vorgesetzten schimpfen schon mit uns.“ – Zu der Zeit herrschte im Verlauf der gesamten Front tatsächlich so etwas wie Stillstand. Saschka schlief ein, wurde aber bald wieder geweckt: Es kam noch ein Reporter. Kurz darauf noch ein dritter. Dem ruhmreichen Krieger wurde es langweilig, mit ihnen zu reden, und er brummte aus Spaß: „Wir haben von Brock gefangen genommen.“ Der dritte lief davon. Dann kamen noch irgendwelche Leute, vielleicht waren es auch wieder der erste und der zweite, fragten nach, und Saschka antwortete aus dem Halbschlaf, ohne die Augen zu öffnen: „Ja, gefangen genommen … von Brock, ja.“ Da stürzten die Reporter zur Verbindungsstelle, telefonierten mit Moskau, und dort wurde die Nachricht geprüft; das Ergebnis war, dass es sich um Desinformation handele. Nun schon wurde Saschka richtig geweckt: Es kamen zwei Soldaten mit Maschinenpistolen. Diesmal musste er bei der Abteilung für militärische Gegenaufklärung Rede und Antwort stehen. Er konnte aber nichts weiter hervorbringen als: „Sie haben mich nicht schlafen lassen.“ – „Was soll ich nun mit dir tun?“, fragte der Nachrichtenoffizier. „Schicken Sie mich nach Hause, Genosse Major, ich meine, zurück an die Front“, bat Saschka. „Schon wieder Späßchen? Ich werde dich zurückschicken, aber erst wirst du das Scheißhaus auf Hochglanz polieren; diese Reporter haben uns dort alles verdreckt.“ „Gestatten Sie, den Befehl auszuführen, Genosse Major?“ – „Führe ihn aus. Danach erstattest du mir Bericht – ich werde es kontrollieren.“

Aus Saschkas Sicht verlief der Krieg für ihn hervorragend: Nur drei Verwundungen, und auch die waren nur leicht; er schaffte es damit nicht einmal in die Lazarette im Hinterland. Weder mit dem verbundenen Brustkorb, noch mit dem am Hals aufgehängten Arm oder mit der Krücke gelangte er je weiter weg als bis zum Sanitätsbataillon. Er verdiente sich zwei Tapferkeitsmedaillen, je eine „Für die Befreiung“ und „Für die Einnahme“ gewisser Städte und kritzelte die Bezeichnung seines Armeeverbands direkt auf den Reichstag.

Boris hatte einen gänzlich anderen Kampf zu kämpfen: Immer an der Seite des Generals, in den warmen Stabsquartieren, und was seine Auszeichnungen angeht, so waren sie zahllos. Aber auch Boris wurde verwundet. Eine ärgerliche Verwundung – ganz am Ende des Krieges. Als ihre Panzerkolonne in die nächste tschechische Stadt einrückte und Boris neben seinem General obenauf dem Panzer saß, schon dazu bereit, die Blumensträuße zu fangen, die man ihnen entgegenwarf – denn so war es bisher immer – eröffnete jemand das Feuer. Der Kommandeur verschwand sogleich in der Luke, Boris tauchte kopfüber hinterher, allerdings waren die Taschen seiner Stiefelhosen mit irgendwelchen Kriegstrophäen vollgestopft; er blieb stecken, und zwar so, dass die untere Hälfte seines Leibs samt der zappelnden Beine aus dem Turm des Panzers ragte. Die Kugel des Feindes traf an einer Stelle, an der die Verwundung doppelt unangenehm war. Boris bekam einen Orden, den er noch nicht hatte, und wurde nach Hause entlassen. Er nutzte die Kommunikationsmittel des Stabsquartiers, um seinen jüngeren Bruder ausfindig zu machen, und so verabredeten sie sich, gemeinsam in die Heimat zurückzukehren.

Sie fuhren mit einem Sonderzug, in einem wunderbar ausgestatteten Waggon und in eigenem Abteil. Saschka lud die Offiziere ein und feierte mit ihnen, erzählte ohne Unterlass Geschichten und Witze, Boris aber lag derweil bäuchlings auf der oberen Liege und hatte Mühe, die ihm immer wieder dargebotenen Schnapsgläser zu leeren. Als alle gegangen waren und Saschka auf seine Liege fiel, um zu schlafen, begann Boris damit anzugeben, er führe einen ganzen Waggon voller Zeugs mit. Er ließ seinen Kopf herabhängen und redete über Schlösser und Paläste, in denen sein General untergekommen war, über wertvolle Museumsexponate, antiquarische Waffen, Standuhren, und versprach Saschka, ihm etwas davon abzugeben … Der jüngere Bruder interessierte sich allerdings gar nicht dafür und begann zu schnarchen.

Am andern Tag wurde die Siegesfeier fortgesetzt: Ganz wie tags zuvor saßen die Offiziere am Tisch, und genauso lag auch Boris wieder auf der oberen Liege. Er hatte nichts gegen Gäste einzuwenden – die Gäste waren ihm beim Heruntersteigen behilflich, sobald sich bei ihm eine solche Notwendigkeit ergab. Und dann, als Saschka das Abteil gerade verlassen hatte, sprachen die Offiziere plötzlich von Gerüchten, der Zug solle inspiziert werden – in Brest oder irgendeinem anderen Ort. Es hieß, die Leute vom Geheimdienst filzen gerade jetzt alles, was sich Richtung Heimat bewegt, und ein General habe schon die Sterne seiner Schulterstücke verloren, für nichts weiter als einen Pullmanwagen voller Trophäen.

Boris bat darum, dass man ihm beim Heruntersteigen helfe, und machte sich dann langsam auf in Richtung des letzten Waggons. Er war lange fort – um die zwei Stunden, so dass ihn jedermann schon vergessen hatte. Er kehrte vollkommen abgekämpft zurück und hielt zwei kleine Säbel in den Händen. Diese Säbel steckte er unter den Tisch, der Verwundete wurde auf die obere Liege gehievt und alles ging weiter seiner Wege. In der Nacht begann der wieder von oben herabgehängte Kopf zu weinen: Alle Bahnwärter hier habe er für den Rest ihres Daseins versorgt. Der jüngere Bruder ließ keinerlei Mitgefühl erkennen und begann wieder zu schnarchen.

In Brest aber gab es keinerlei Kontrollen.

Boris wollte sich erschießen. Die Offiziere schafften es, ihm die Ehrenwaffe zu entwenden und versteckten sie unten – zum Glück konnte der Verwundete nicht selbständig hinabsteigen.

Kurz, die kleinen Säbel und die Standuhr, welche er aufgrund der Schmerzen in den hinteren Muskeln nicht aus dem letzten Waggon zu schieben imstande war, schafften es bis ans Ziel.

Nach dem Krieg gerieten beide Brüder nach Moskau: Saschka als Busfahrer, Boris als Wirtschaftsmann in ein Ministerium. Am siebzigsten Geburtstag des älteren Bruders schwelgten sie in Erinnerungen an den Krieg und kamen dabei schließlich von ihrer Rückkehr in dem Sonderzug zu sprechen; Saschka ließ wie beiläufig fallen, dass er es gewesen ist, der damals das Gerücht von der Kontrolle in Brest gestreut habe. Boris schaute ihn lange und verständnislos an und sagte dann:

„Warum?“

„Du hast mich doch nicht schlafen lassen: Kaum, dass ich die Augen zumachte, redetest du haufenweise Unsinn zusammen.“

„Von wegen ›Unsinn‹, das war ein ganzes Vermögen!“

„Ach, zum Geier damit!“, erwiderte Saschka und gähnte.

Und da ergoss sich allerlei zorniges Wehklagen über ihn.

Saschka aber hörte sich all das nicht lange an und sagte: „Ich will ’ne Runde pennen“, und fuhr nach Hause.