Auch das geht vorüber
Der ewig junggebliebene Schriftsteller stellt unvermittelt fest, dass früher alles besser war.
Autor: Eduard Limonow
25. August 2012
Russland GesellschaftLesezeit: ca. 5 Minuten
Ich werde jetzt einmal ein bisschen herumnölen. Nein, da habe ich mich nicht präzise ausgedrückt: Ich werde nicht nölen, sondern ich werde, wie ein alter Klassiker, wie irgend so ein Chateaubriand in seinen »Mémoires d'Outre-Tombe«, ein wenig nostalgisch über die alten Zeiten schwadronieren.
Diejenigen Menschen, Männer und Frauen, mit denen ich einmal mein Leben begann (geboren bin ich 1943, und um 1950 herum war ich zu eigenem Bewusstsein gelangt und begann damit, mir die Welt zu betrachten), gibt es nicht mehr. Die, welche, als ich sie kennenlernte, erwachsen waren, sind längst ausgestorben.
Die Mannsbilder waren unwahrscheinliche Machos. Grobe, mächtige, mit ausdrucksstarken, ledrigen Gesichtern, wie bei den zornigen Heiligen in Pasolinis Film „Das Evangelium nach Matthäus“. Ein letzter Gebrechlicher krächzt zwar noch mitunter mal von unten aus seinem gefederten Rollstuhl heraus - und verätzt einem dabei das Gesicht mit dem Dunst von Fusel. Aber damals hatten die Mannsbilder allesamt Gesichter wie durchtriebene Häftlinge. Sogar die Beamten wiesen keine Spur von Glanz auf, sie alle waren wie unbehauene, wandelnde Materie, alle trugen wie schwere Kartoffeln in ihren Hosen- und Jackettaschen.
Und in den Frauen war alles weibisch. Heutzutage gibt es in den Frauen nicht so viel Weibisches. Jetzt dominiert in den Frauen entweder das Männliche oder das Mädchenhafte, oder überhaupt das Geschlechtslose. In jenen Zeiten nach dem Krieg war jede Frau ein Weib.
Und sie verstanden es zu weinen. Jetzt haben sie das Weinen verlernt, weil sie keinerlei echte Gefühle mehr haben. Jetzt weinen sie höchstens noch so, wie sie es bei den Schauspielerinnen in den Serien gesehen haben, damals aber weinten die Weiber von ganzem Herzen, von vollen Brüsten, von ihren verwaisten Intimbereichen, wenn ihnen das Mannsbild weggestorben war.
Auch rochen die Leute damals, das heißt, sie hatten einen Duft. Die Sanitäranlagen in den kommunalen Wohnhäusern waren spärlich gesät, recht unbrauchbar und mickrig. Dafür rochen die Menschen nach Herzenslust und stark. Besonders dufteten die Frauen, die das durch Parfüm zu übertönen suchten, doch der natürliche Geruch kam durch. Die Mannsbilder rochen nach Tabak, nach Wodka oder Cognac, je nachdem, was ihr sozialer Status und ihr Auskommen hergab. Die Militärs rochen nach Stiefelwichse und dazu ein ganz klein wenig nach geschmierten Waffen.
Anzüge und Mäntel kaufte man sich damals einmal für das ganze Leben, Hosen wurden gestopft und geflickt. Ein Mensch mit einem Flicken am Knie oder am Ellenbogen sah nicht krass aus. Man flickte selbst die Schuhe im oberen Bereich. Ich selbst war so verklebt unterwegs. Die Kinder trugen die Kleidung ihrer Väter ab. Die Mutter trennte den Aufschlag von den Uniformhosen des Vaters ab, und ich trug sie dann, diese Hosen. Auch Töpfe flickte man, wir hatten zwei solche Töpfe, mit aufgeschweißten Metallflicken.
Alles gab es nicht in Fülle, dafür wurden die Dinge wertgeschätzt. An Spielzeug hatten die Kinder verschwindend wenig, dafür küssten sie ihre einzige, vollkommen zermürbte und beschädigte Puppe von oben bis unten ab. Jetzt haben meine Kinder viele Säcke mit Spielsachen, und deswegen haben sie auch kein Lieblingsspielzeug.
Man aß gierig. Man aß schlecht. Ich kann mich daran erinnern, dass wir nach dem Krieg noch ziemlich lange Bohnen mit Zwiebeln und Pflanzenöl aßen. Noch fünfundsechzig Jahre später kann ich mich an den wunderbaren Geschmack dieses Gerichts erinnern. Aber Brot gab es nur wenig.
Damals verstand man es, Menschen zu beerdigen. Es kam vor, dass man den Leichnam offen auf einem Anderthalbtonner durch die ganze Stadt fuhr, so dass alle es sehen konnten. Starb ein großer Mensch, so liefen viele Menschen mit, starb ein kleiner, dann hinkte nur seine Familie dem Sarg hinterher, aber alles war offen, die Menschen konnten den Leichnam sehen und wurden dadurch an ihr eigenes sterbliches Wesen erinnert. Heutzutage wird der Tod verborgen, und das ist schade. Begräbnisse von Militärs waren dabei geradezu feurig von all dem roten Stoff.
Heute laufen ganz andere Menschen durch die Straßen der russischen Städte. Solche Gesichter wie nach dem Krieg gibt es gar nicht mehr. Damals waren das ehrliche und einfache Gesichter. Damals war man auf sein Gesicht stolz, heute verbirgt man sich hinter seinem Gesicht.
Die jungen Männer heute ähneln jungen Frauen, zum Glück nicht alle. Und in den jungen Frauen kommt das zum Vorschein, was man früher im Inneren zu verbergen pflegte. Viele Frauen sehen heute so aus, als hätten sie, nachdem sie aus dem Bett aufgesprungen sind, vergessen, sich anzuziehen.
Ein Teil der Passanten heute hat ein wunderliches Äußeres. Früher saßen solche in den Irrenhäusern, jetzt aber schreiten sie gelassen durch die Straßen. Die Kleidung ist inzwischen unanständig grell, und von der grellen Kleidung haben sich viele in Kinder verwandelt, denn sie denken wohl, sie seien Kinder. Würden zwei Völker, nämlich das von nach dem Krieg und das heutige, gleichzeitig auf ein und dieselbe Straße kommen, dann würde das Nachkriegsvolk das heutige schon allein für dessen unanständiges Äußeres vermöbeln. Und die Frauen und Mädchen würden sie dazu anhalten, sich anzuziehen.
Es ist schon klar, dass es bei den heutigen Russen eine Menge an Tugenden gibt, aber die beiden Völker würden einander einfach nicht verstehen. Die Urgroßväter und die Urenkel.
Irgendwie ziehen die Generationen schnell vorüber. Früher trugen die alten Frauen, auch die jungen, ja sogar die kleinen Mädchen Kleider. Heute ziehen sie sich sowas wenn, dann nur für den Kirchgang über, und stecken es dann wieder weg. Es ist schade, dass die Frauen keine Kopftücher mehr tragen. Es verlieh ihnen ein anmutsvolles, ehrliches Äußeres, eins, das einen berührt. Ich bin gegen alle möglichen pseudo-volkstümlichen Leibchenröcke und Kopfbedeckungen, aber ein einfaches Kopftuch auf einem Weib ergreift einem einfach das Herz. Die Kopftücher müsste man zurückbringen.
Die Männlichkeit wird den Mannsbildern üblicherweise durch Kriege zurückgegeben. Derjenige, der einen getöteten Freund begraben hat, erwirbt einen strengen, maskenhaften Gesichtsausdruck. Die Völker brauchen solche Prüfungen, um nicht zu verweiblichen und nicht in die Kindheit zurückzufallen.
Ich schätze, dass es ganze drei Völker waren, die einander zu meinen Lebzeiten abgelöst haben.
Die Nachkriegsgeneration. Die, welche ich allen vorziehe. Stolze und aller Stalins ganz ungeachtet knorrige Mannsbilder - Machos, Titanen, altrömische Helden. Denn die Sowjetunion war ja gewissermaßen unser Altes Rom.
Die Generation der Zeit des Stillstands. Schon verdorben – weder eine Kerze für den Herrgott, noch ein Schüreisen für den Teufel. Die Generation der Komödien – des Spotts über sich selbst und über die Nachkriegs-Titanen des Alten Rom.
Na, und dann noch die Generation, welche sich in den vergangenen zwanzig Jahren herangebildet hat. Sie halten sich für Kinder, sind entsprechend gekleidet und wollen sich die ganze Zeit nur chillen.
Und ich, wer bin ich? Ach, ich bin einfach nur ein sterblicher Herrgott, der sie alle beobachtet.
Quelle: Eduard Limonow, »Апология чукчей« („Apologie der Tschuktschen“, Essays und Erzählungen)