:chartophylax:

Der Atheist

Die Dicken, die Dünnen, die Gerechten und die Sünder - sogar die Atheisten, auch die liebt der Herr.

Autor: Alexej Lisnjak

07. November 2014

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 4 Minuten

Ich erhole mich. Vor mir der See, der sich bis hinter den Horizont zieht. Die Angel halte ich in meiner Hand. Die Luft ist frisch nach einem Pilzregen. Ich betrachte den erstarrten Schwimmer. Wie herrlich! Mitunter jagt ein leichter Wind ein Kräuseln über das Wasser, und wieder wird es still. Bald ist Sonnenuntergang. Heute werde ich ihn unbedingt abwarten. Dieses Schauspiel ist weit interessanter als Dutzende von Schwimmern. Das Glück besteht ja auch nicht im Fisch – nicht jeden Tag, ach! Was heißt hier Tag! – nicht jeden Sommer ergibt sich ein Abend für die Angelei. Der rostige Haken an meiner Angel wird inzwischen wohl schon leer und glatt geleckt sein, dass er glänzt.

Dieser Ausflug an den See war für mich zu einer einfachen, lang erwarteten Begegnung mit der Natur geworden, welche der Schöpfer uns, den ungeratenen Menschen, einst geschenkt hat.

Es tut gut, ab und zu für ein Stündchen den Trubel und die Sorgen sein zu lassen, innezuhalten, sich in der Gegend umzuschauen und den Wald, den See, den Himmel zu sehen. Darüber nachzudenken, wie schnell das Leben inmitten dieser Pracht, die hier so zum Greifen nahe ist, vorübereilt. Wie wunderbar es ist, sich von den endlosen Sorgen um den Wiederaufbau der durch das getaufte Volk ausgeraubten Kirche zu erholen. Von den Ziegeln, dem Kalk, dem Mörtel oder eher vom Mangel an selbigen Dingen.

Gut und nützlich ist es wohl, sich mit seinen Gedanken in die Natur zurückzuziehen, allerdings war mir dieses Glück heute nicht beschieden. Rechts von mir tunkt der leitende Agrarwirt unserer Sowchose seine Angeln und Grundangeln in das Wasser – er ist eine in ihrer Mittelmäßigkeit geradezu einzigartige Person. Schon eine halbe Stunde lang versucht er lautstark und wacker, einen Streit mit mir vom Zaun zu brechen – eine gewisse atheistische Polemik, die wohl dazu dienen soll, sein Image als Possenreißer und Spaßvogel unter seinen Anglernachbarn aufrechtzuerhalten.

„Was sind denn die Popen? Genau solche Menschen wie alle anderen!“, erklingt sein unverdrossener Monolog über dem Wasser. „Trinken und tanzen bestimmt genau wie alle anderen“. Für eine kurze Zeit verstummt er und schaut sich triumphierend unter den ihm zuzwinkernden Anglern um.

„Sie, Batjuschka, haben ja nun auch beschlossen, sich ein paar Fischlein, dingens … Nachher kommen Sie heim und zur Fischsuppe kippen Sie sich ein wenig Selbstgebrannten hinter die Binde, hach!“

Die Nachbarn wiehern, und der Redner fährt fort:

„Und ausgerechnet ich soll den Popen glauben? Alles Märchen! Bei euch Popen ist alles eine Sünde – dieses darf man nicht, und jenes auch nicht! Vielleicht liebe ich aber das Leben? Vielleicht bin ich überhaupt Atheist, und vielleicht gibt es gar keinen Gott?!“

Damit war meine Erholung auch schon verdorben. Es scheint ja, als würde wir unsere Schwimmer mit gleichen Augen betrachten, dabei sehen wir aber vollkommen unterschiedliche Dinge. Bisher war es mir noch gelungen, das Gefasel des Agrarwirts an mir vorüberrauschen zu lassen, aber alles hat seine Grenzen. Ich holte die Angel aus dem Wasser und begann damit, meine Sachen zusammenzusuchen.

„Und Sie“, sagte ich, „Grigorij Michajlitsch, sind aber flott wieder auf die Beine gekommen. Ich weiß noch, vor einem Jahr, als Ihre Frau mich rief, damit ich Ihnen, dem Schwerkranken, das Sakrament der Krankensalbung spende, da haben wir uns noch ganz anders unterhalten. Ich weiß noch, wie Sie nach der ersten Salbung plötzlich einen schmerzhaften Stich im Bereich Ihrer Leber verspürten, da ging das ›Herr, vergib, erbarme Dich‹ gar nicht mehr von Ihrer Zunge herunter. Und nun sind Sie sogar schon Atheist geworden“.

Das Publikum runzelte die Stirnen und betrachtete schweigend die reglosen Schwimmer, ich aber wickelte meine einzige Angel zusammen, legte sie in den Kofferraum zu dem leeren Fischnetz und setzte mich, den staubigen Feldweg entlang, in Bewegung. Rechter Hand lag der See, links der Wald. Hoch oben im Himmel jagte ein Übungsdüsenjäger den anderen, aber es war ihnen nicht gegeben, das ruhige Dröhnen des Motors oder das Abendlied der Schnepfen zu übertönen. Ziesel huschten über den Weg, ein jeder für sich. Einer ist ganz klein und dürr, ein anderer größer, fetter. Sie liebt der Herr, er gibt ihnen Nahrung und günstige Witterung. Und auch uns liebt Er. Alle gleichermaßen – die Dicken, die Dünnen, die Gerechten und die Sünder. Sogar die Atheisten, auch die liebt Er.


Erschienen in: „Saschas Philosophie“ (Сашина философия), Verlag des Sretenski-Klosters, Moskau 2014.