:chartophylax:

Die Opfergabe

Wie man dem Übel durch Arglosigkeit begegnet.

Autor: Alexej Lisnjak

12. November 2014

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 9 Minuten

Ein Opfer für den Herrn ist die größte denkbare Tugend der Welt. Jemand opfert aus Liebe zu Gott seine Zeit, ein anderer, wie die Witwe im Evangelium, sein ganzes Auskommen, damit der Name des Allerhöchsten in dem Tempel gesungen wird, in dessen Wand auch ihr Steinchen eingearbeitet ist. Selten schon sind solche Fälle, wenn die Menschen aus grenzenloser Liebe zum Schöpfer ihr Wohlergehen, ja, ihr Leben opfern. Opfergaben gibt es eben verschiedene. Allen Opfernden werde das Paradies und eine glückselige Ewigkeit zuteil!

Wie jede Kirche, die in den Jahren der gottlosen Staatsmacht von den Werktätigen ausgeraubt worden ist, benötigt auch unsere, der Erscheinung des Herrn geweihte Kirche, jegliche Opfergaben. Einst hatte sie zwei Altäre, zwei Priester und einen Diakon, einen riesengroßen Hof mitsamt Schule und Garten, eine hohe Mauer aus Ziegelsteinen und ein Baptisterium; nun jedoch steht sie vollkommen abgewetzt inmitten eines großen Fleckens Ödland.

Die große, fünfzigtausend Einwohner zählende Siedlung ist in unseren Tagen nicht gerade reich an begabten Handwerkern. Die einstigen Steinmetze, Putzer und Maler sucht man vergeblich. Wie heilsam für die Seele ist es, an einer solchen Gemeinde Kirchenvorsteher zu sein! Eignest du dir, sagen wir, das Handwerk eines Kunstmalers an – und schon hat die halb zerstörte Kirche wieder Fresken an den Bogengewölben. Meisterst du das Tischlerhandwerk – und schon ist die Ikonostase fertig. Bis dahin lernst du auch das Verputzen und den Umgang mit der Maurerkelle, und da bekommt die Kirche auch schon ihren blendend weißen Fassadenschmuck und wird von einem ornamentierten Ziegelsteinzaun umgeben. Wenn sich natürlich ein Spender findet, welcher der Kirche ein wenig Ziegelstein überlässt als Buße für seine Sünden. Und wie wunderbar ist es, einen Spender und Asketen zu sehen, der einem der wenigen, die sich um die Dorfgemeinde kümmern – nämlich dem Gemeindepriester –, mit seiner Hilfe zur Seite steht!

Genau so freute auch ich mich, als sich an einem sonnigen Sommertag zu den beiden Maurern und Putzern – nämlich dem Gemeindepriester und dem Messdiener Alexej Semjonowitsch – ein dritter Helfer gesellte. Sergej berichtete davon, wie und wo er gearbeitet hat, von den größten Baustellen des Landes, an denen er beteiligt war, und von seinen übrigen Errungenschaften als Arbeiter. Seine Erzählung ergab sich sehr bildreich. „Ja …“, seufzte Semjonitsch. „Ein Meister aller Dinge. So einen Helfer brauchen wir schon lange“. Wir vereinbarten einen Preis für den versprochenen Putz. Der Kirchenvorsteher (also ich) begab sich an eine für ihn ganz übliche Aufgabe, nämlich ans Beschaffen von Geld, um Sergej damit zu bezahlen, der Messdiener aber sollte vom kommenden Tag an beim neuen Putzer als Hilfskraft fungieren. So begeistert gingen alle ihrer Wege zur Nachtruhe. Der Messdiener zu sich nach Hause, Sergej aber bekam ein kleines Haushaltskämmerlein im Vorbau der Kirche zur Unterkunft. Soll er sich dort einrichten. Das Wichtigste für einen solchen Meister ist ja, dass er alles bei der Hand hat. Man muss nicht mit dem Bus fahren und x-mal umsteigen. Man steht auf, betet, frühstückt, und los geht es, wie man sagt: Diene Gott mit zerknirschtem Geist und erfahrenen Händen. Da sind sie, die Säcke mit Zement, gleich im Nachbarraum, und da ist Sand, vor dem Eingang in die Kirche, und dort, nur zwei Schritte entfernt, eine Quelle kalten Wassers für den Mörtel – eine glänzende Wasserzapfsäule, die der Kirche gespendet wurde. Das Gerüst ist bereits errichtet, die Maurerkelle und der nagelneue Spachtel strahlen in der Sonne, als seien sie aus Platin. An die Arbeit!

Wer einmal in einem zentralrussischen Dorf den Aufgang der ersten Sterne am kühlen Abendhimmel beobachtet hat, der wird mich verstehen. Selbst das Fiepsen der seltenen, ewig hungrigen Blutsauger – der Mücken – kann angenehm sein, bedeutet es doch, dass ein weiterer schwerer und heißer Tag geschafft ist. Die Sorgen und Probleme verschwinden natürlich nicht, aber sie sind, wie alles jetzt, wie besänftigt. Irgendwo weit weg wird in der Diskothek getanzt, von dort erklingt dumpfes Dröhnen, das man aus irgendeinem Grund als Musik bezeichnet. Irgendwo scheppert ein Motorrad vorbei. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite des Zauns rumoren und grunzen die Ferkel in ihrem Koben; bestimmt werden sie von Alpträumen heimgesucht. Ein paar Hunde bellen müde. Ein träges Quaken ertönt aus der Richtung, in der das moderige Flüsschen dahinfließt. Alles befindet sich in einem Zustand des Halbschlafs, abgesehen von den gestreiften Kartoffelkäfern. Sie haben noch viel zu tun – ihnen steht die nächtliche Vernichtung der Kartoffeln bevor.

Ich sitze auf einer Bank im Garten. Es wird immer dunkler. Schon sieht man das Kuppelkreuz der Kirche nicht mehr, und der ferne Rand des Gemüsegartens verschwindet im Dunkel. Sogar die Streifen des Katers, der sich in der Nähe zusammengerollt hat, sind nicht mehr wahrzunehmen. Dafür leuchtet im Himmel plötzlich ein Raumschiff auf. Geradezu ruppig bewegt es sich an den Sternen vorbei, aber auch das Raumschiff verschwindet alsbald. Könnte man diesen einmaligen Abend doch nur verlängern, verweilen machen! Denn er ist ja so ungewöhnlich. Dieselbe Natur, dieselbe Umgebung wie gestern auch schon, aber jetzt … jetzt haben wir Sergej. Jetzt werden, so Gott will, die Putzarbeiten bis zum Fest der Entschlafung Mariæ vollendet sein und wir können das Gerüst abbauen, dessen wir schon ordentlich überdrüssig geworden sind, und auch die ganzen übrigen „Bretterbrücken“, wie sie hier genannt werden. Die Augen fallen vor Müdigkeit von allein zu, und es muss wohl schon im Traum sein, dass ich ein wunderbares und freudiges Bild vor mir sehe: Sergej sitzt oben auf dem Gerüst und ruft mit schallender Stimme: „Semjonitsch, den Mörtel!“. Semjonitsch eilt mit Eimern zwischen dem Betonmischer und dem erfahrenen Putzer hin und her, alles gelingt so gut wie damals, als unsere Urgroßväter noch Dreikäsehochs waren. Wie weise doch das Volk in seinen Sprichwörtern und Sinnsprüchen ist! Es wird nicht umsonst gesagt, dass es wunderbar ist, sich jedwede Naturkraft zu betrachten – wie das Wasser fließt, wie das Feuer brennt und wie jemand arbeitet. Wirklich wunderbar.

Ein gewöhnlicher Morgen: Gebet, Frühstück. Ich mache mich für die Kirche bereit und habe ein Vorgefühl der Freude. Den üblichen Weg entlang, wie jeden Tag, eile ich zur Kirche. Wie immer merken die Bewohner des Ortes beim Anblick eines Priesters in seinem Gewand auf, das Lächeln schwindet aus ihren Gesichtern und sie eilen schleunigst auf die gegenüberliegende Straßenseite. Aber heute deprimiert mich selbst diese Furcht der Leute davor, dass sie gebissen werden, nicht. Ich lächele allen zu. Ich habe gute Laune! Wie sehr auch die Dörfler sich bemüht haben, die Kirche samt der Kolchose auseinanderzunehmen, sie haben nichts erreicht. Die Kolchose ist zusammengefallen, aber die Kirche steht! Da schon erstrahlt über ihren geschundenen Wänden eine neue, verzinkte, und von einem Spender geschenkte Kuppel in der Sonne. Da ist auch schon das Gerüst darunter. Und darauf ein Arbeiter. Welche Liebe zur Arbeit! Die Uhr zeigt gerade einmal sieben Uhr dreißig, und er ist schon … welch ein Prachtkerl, welch ein …

Semjonitsch war der Prachtkerl. Er war, nachdem er Mörtel angerührt hat und es nicht abwarten konnte, dass Sergej kommt, aufs Gerüst geklettert und hatte schon einmal mit dem Putz angefangen.

„Gott zur Hilfe“, begrüßte ich ihn, als ich nach oben schaute.

„Gott vergeltʼs!“, ertönte es von oben herab.

„Wo ist denn unser emsiger Arbeiter?“, interessiere ich mich bei ihm.

„Er ruht sich aus, war gestern müde von der Reise, hat ein wenig über den Durst genommen.“

Nun, was sollʼs, das passiert jedermann einmal. Soll er sich ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Ich werde eine Fürbitte und ein Totengedenken halten, zu einer Beerdigung fahren und dann meinem fleißigen Helfer, dem Messdiener, zur Hand gehen.

Der heiße Julitag wurde schwer. Erst das Gebet in der Kirche mit zwei betagten Damen, später nicht enden wollende Eimer mit Sand, Wasser und Säcke mit Zement. Es war schon Abend, als Semjonitsch bereits nach Hause gegangen war und die säuberlich ausgewaschenen Werkzeuge unter der Holzleiter im Kirchturm funkelten, dass man aus der Nachbarsowchose zu mir kam. Da liege ein Mensch im Sterben, man solle ihm doch die Beichte abnehmen und ihm die Kommunion reichen.

Der Kranke brauchte tatsächlich ein Geleit, sein Zustand war sehr schlimm. Aber mehr war es ein schlimmer geistlicher Zustand als der Zustand seines alten, gelähmten Leibes. Die übliche Art einer späten und tragischen Beichte und Reue über sinnlos verschwendete Kräfte und Talent. Nach der Kommunion sprach er mit einer gewissen Erleichterung davon, wie gern er doch für seine Sünden Gott ein Opfer darbringen würde. Ob es sein Lebensunterhalt sei, seine Kleidung, seine Hände, ach, sein ganzes Leben. Nur war es eben eine zu späte Besinnung, der Herr ruft bereits zum Gericht und es lässt sich nichts mehr ändern. Das war es dann auch mit dem Opfer, das zu geben du nun heiß begehrst.

„Ein Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist“. Diese Worte des Propheten David habe ich auf meinem Rückweg zur Kirche im Kopf. Da ist sie schon, die Brücke über das moderige Flüsschen, da erscheint auch schon der von Baugerüsten umgebene Kirchturm. Im Geiste sehe ich das erst kürzlich gesehene Antlitz des Sterbenden vor mir. Nur ein wenig eher Reue zeigen, nur ein bisschen früher Gottes Gericht gedenken, und schon wäre noch einen Aufbauhelfer zu unserer nicht gerade zahlreichen Bruderschaft gestoßen. Da gäbe es das Opfer, den zerknirschten Geist und alles andere. In diesen Gedanken nähere ich mich der Kirche, gehe dort um die Ecke in Richtung der Eingangspforte …

Der vom Selbstgebrannten noch halb tote Sergej schnallte mit seinen trunkenen Händen gerade sehr konzentriert einen Sack Zement auf das Fahrrad eines der örtlichen Jungs. Ein Zementsack von denen, die der Kirche gehören. Als er meiner gewahr wurde, warf der Junge sein Fahrrad hin und suchte das Weite.

„Welch ein Glück, Serjoscha! Jemand hat uns einen Sack Zement als Opfergabe gebracht! Schnalle ihn schnell ab und schaffe ihn in die Kirche. Wohin ist denn der Spender verschwunden? Dem schulden wir großen Dank!..“

Bei diesen Worten betrachtete der „Arbeitsmann“ eingehend die Reihe der identischen Kirchenvorsteher, die sich vor ihm aufgebaut hatte. Alle sie hatten, wie es aussah, je zwei Brustkreuze, zwei Nasen und mindestens zwei Paar Augen. Serjoscha fokussierte mal mit dem linken, mal mit dem rechten Auge, blinzelte. Endlich machte er ›hick‹, in seiner Tasche blubberte es, und er schaffte es, seinen Blick scharf zu stellen. Als er mich allein vor sich sah, antwortete er bedeutungsschwer: „Ääj, jaaa … eine Opfergabe.“


Erschienen in: „Saschas Philosophie“ (Сашина философия), Verlag des Sretenski-Klosters, Moskau 2014.