:chartophylax:

Die einzige Sorge

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

24. Juli 2015

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 3 Minuten

Einer meiner Bekannten bekam Besuch von seiner Tante aus der Krim, welche darum bat, in das Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster begleitet zu werden. Zu dieser Zeit weilte ich in Moskau. Er rief mich zu sich, und wir machten uns gemeinsam auf den Weg. Kaum waren wir durch die Klosterpforten gegangen, brach die Tante in Tränen aus: Ich erfuhr, dass ihr Neffe gar nicht getauft sei, und das es folglich nicht möglich war, kirchlich für ihn zu beten.

„Seine älteren Schwestern sind getauft, aber als er geboren wurde, gab es den Batjuschka nicht mehr. Jeden Morgen bete ich für alle Verwandten, ich gedenke ihrer aller, habe auch jetzt die Zettel mit ihren Namen mit ins Kloster gebracht: Dort stehen alle Namen vermerkt bis auf seinen. Das ist meine einzige Sorge …“

Wir verehrten den heiligen Sergius, gaben die Namenszettel ab, standen den Gottesdienst durch. Die Frau wollte am nächsten Morgen an der Kommunion teilhaben, und die Mönche halfen uns dabei, sie eine Nacht lang bei irgendeiner Großmutter unterzubringen. Der ungetaufte Neffe und ich machten uns indes auf den Rückweg. Am kommenden Tag fuhr er wieder hin und brachte die fröhliche Pilgerin wieder zu sich zurück.

Es ging viel Zeit ins Land. Mein Bekannter legte eine gefährliche Unentschlossenheit in dieser für unser Dasein doch höchst wichtigen Frage an den Tag. Erst dachte er sich aus, dass er unbedingt nur von mir getauft werden wollte, aber da ich sehr weit weg von Moskau diente, wurde daraus nichts. Später versetzte man mich an eine Moskauer Kathedrale, die sich ganz unweit des Wohnorts meines Bekannten befand: Er tauchte kein einziges Mal bei den Gottesdiensten auf und ging überhaupt daran, mich zu meiden. Kirchliche Leute wissen ja ziemlich genau, wer es ist, der einen Menschen daran hindert, sich taufen zu lassen, zu beichten, die Kommunion zu empfangen – anders gesagt, in Gemeinschaft mit Gott zu treten: Teufelchen und böse Geister …

Einmal, als ich auf der Krim war, beschloss ich, die Pilgerfrau zu besuchen; zum Glück hatte ich mir auf wundersame Weise ihre Adresse gemerkt. Ich war mit Freunden von einer Kirche zur nächsten, von einem Kloster zum nächsten unterwegs, dabei machten wir einen Abstecher in das kleine Dorf. Die Leute dort wiesen mir ein Haus. Ich klopfte an der Pforte, bekam aber keine Antwort, doch hörte ich deutlich laute Männerstimmen. Ich begab mich in den Hof: Die Tür zum Haus stand sperrangelweit offen, und dort saß die deutlich gealterte Tante auf dem Bett, mit einem Evangelium in der Hand. Sie schlief. Aus dem Radioempfänger tönte in voller Lautstärke eine Debatte im ukrainischen Parlament, wobei dort die einen hastige Fragen auf Ukrainisch stellen, andere, ohne groß nachzudenken, sofort auf Russisch antworteten … Ich stellte das Radio ab, weckte die Tante, und wir unterhielten uns.

„Mir geht es gut“, sagte sie, „Gott sei Dank. Musste noch kein einziges Mal ohne Abendbrot zu Bett gehen. Ich habe nur eine einzige Sorge: Ich will, dass mein Neffe getauft wird … Bitte, helfen Sie mir, denn man weiß ja nie – stößt ihm etwas zu, dann wird nie jemand für ihn beten können … Er ist ja ein herzensguter Kerl, aus einer orthodoxen Familie, war sehr gut in der Schule, hat seinen Wehrdienst mit Bravour absolviert. Dann ging er den Weg des Komsomol – ein Unglück, natürlich – und die Leiter im Komsomol sind weit schlimmer als die in der Partei: Letztere müssen wenigstens für irgend etwas Verantwortung tragen, aber die … nur leeres Geschwätz. Von der Kreisleitung ging er zur Zeitung und hat sich bis nach Moskau hochgearbeitet.

Eigentlich stammen wir aus Kostroma, ich kam erst nach dem Krieg hierher – das hat sich eben so ergeben. Ich habe weder einen Ehemann, noch habe ich Kinder, überhaupt keine Verwandten außer meinen Neffen mehr – ich habe sie alle überlebt.

Ich kämpfe mich aus letzten Kräften durch: Ich warte darauf, bis er endlich getauft wird.

Dann werde ich zum Herrn sagen: ›Nun lässt Du, Herr, Deine Magd, wie Du gesagt hast, in Frieden scheiden‹, und ab zur ewigen Ruhe. Nur eine, nur diese einzige Sorge habe ich, glauben Sie mir …“

Ich glaubte es ihr.