Etwas nicht Wiedergutzumachendes
Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Nasch Sowremennik“ (Наш Современник) Nr. 11/2014.
Autor: Jaroslaw Schipow
05. Oktober 2015
Russland KurzgeschichteLesezeit: ca. 7 Minuten
Es war ein Jahr, in dem die Cholera wütete. Die Schauspielerin wurde krank. Man musste deswegen die Planung der Dreharbeiten ändern. Man versandte Telegramme an die Schauspieler, die sich gerade noch im Urlaub befanden. Eines der Telegramme allerdings brachte die Post zurück: „Unbekannte Adresse“. Der Regisseur sagte: „Ohne diesen Menschen wird nichts aus dem Film. Wir müssen den suchen“. Wir arbeiteten da gerade in Lettland, zu suchen aber hatten wir in Litauen. Die litauischen Schauspieler, die bei den Dreharbeiten zugegen waren, bezeichneten die Adresse ebenfalls als offensichtlichen Unsinn, konnten sich allerdings daran erinnern, dass der für unser Werk so notwendige Mann normalerweise irgendwo in der Nähe von Kaunas Urlaub macht. Auf einem einsamen Gehöft. Bei einem See. Seine Landsleute wussten nichts, was über diese Angaben hinausginge. Also fragte der Regisseur mich:
„Findest du den?“
Das fragte er mich durchaus nicht aufgrund eines großen Vertrauens, sondern weil ich für ihn so wenig Wert besaß; ich war einfacher Arbeiter im Filmteam, und die sowjetische Kinematographie konnte leicht ohne mich auskommen.
„Ich versuche es.“
„Wieviel Geld brauchst du?“
„Fünfzig Rubel.“
Er sagte, dass das nicht genügen würde, und gab mir sechzig – das war zu den damaligen Zeiten der Mindestlohn. So wurde ich auch bei den Dreharbeiten bezahlt.
Bis Kaunas kam ich ohne Schwierigkeiten. Am Busbahnhof sah ich einen Liniennetzplan der dortigen Linienbusse – dort war ein See eingezeichnet, aber es gab keine Buslinien, die dahin fuhren – sie drehten allesamt in irgendwelche anderen Richtungen ab. Ich löste ein Ticket bis zu einer dieser Abbiegungen, hielt der Kassiererin das Telegramm mit der falschen Adresse hin, worauf sie nur mit den Schultern zuckte.
Wir kamen bis zu einer kleineren Ortschaft, und ich stieg auf dem Hauptplatz aus – doch wohin nun? Es war menschenleer und es gab niemanden, den man hätte fragen können … Aus den offenen Pforten einer katholischen Kirche quoll Orgelmusik: Es erklang Bach. Und ausgerechnet diese seine Invention hatte ich seinerzeit in der Musikschule selbst gespielt. Hier fehlte allerdings eine Note – ein Fis. Ich betrat die Kirche: Über dem Eingang gab es eine kleine Empore, und dort befand sich, allem Anschein nach, das Musikinstrument. Schon bald wurde ich bemerkt, und die Musik verstummte. Der Interpret erhob sich – es handelte sich um einen Jüngling in meinem Alter. Er sagte etwas auf Litauisch. Da ich das nicht verstand, breitete ich ratlos meine Arme aus.
„Was wollen Sie?“ – der Musiker wechselte in die russische Sprache.
„Wo ist denn das Fis?“, fragte ich ihn.
„Es gibt kein Fis“, antwortete er und seufzte.
„Es ist nicht gut ohne Fis.“
„Ja, das ist schlecht“, war er einverstanden. „Wollen wir einmal gemeinsam nachsehen?“
Ich erklomm die Stufen der engen Treppe. Gemeinsam waren wir wagemutiger und zerlegten die Orgel, soweit das möglich war: Eines der Ventile war durch einen ausgetrockneten Mäusekadaver verklemmt.
„Sieht ja ganz so aus“, sagte ich, „als sei Ihre Kirche nicht eben reich.“
„Wie sollte sie auch …“
Er erzählte, dass er am Konservatorium studierte und in den Ferien zu seinen Eltern gefahren war, und die Gelegenheit nutzen wollte, sich etwas Geld zu verdienen, jedoch zahlte man ihm nur sehr wenig. Ich erzählte ihm meinerseits, wo ich studiere, wo ich den ganzen Sommer über untergekommen war und wie viel man mir zahlt. Bei dieser Gelegenheit zeigte ich ihm auch das unglückselige Telegramm. Da sagte der Junge:
„Wir müssen mal den Pfarrer fragen – der kennt hier alles“, und nach diesen Worten ging er fort.
Ich aber setzte mich an das Musikinstrument, pumpte mit den Pedalen Luft auf, schlug einen Akkord an und erstarrte vor Begeisterung – so reich und räumlich war der Klang. Ich sah mir die Noten an – es handelte sich um das Repertoire des Organisten – erschloss mir vom Notenblatt aus einige unkomplizierte Kompositionen, und ging dann daran, einfach alles zu spielen, was mir in den Kopf kam. Für mich vollkommen unerwartet beeindruckte besonders der Orgelklang russischer Lieder: beispielsweise wurde aus der „Zarten Eberesche“1 ein regelrechter Choral. Der Musiker brachte frohe Botschaft: Das Wort, mit dem in der Adresse auf dem Telegramm ein Bezirk bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit die Bezeichnung eines Gestüts, das sich zwanzig Kilometer von hier entfernt befand. Die Worte freilich, mit denen in der Adresse die Poststelle und das Gehöft bezeichnet wurden, blieben einstweilen ein Rätsel.
Zum Abschied sagte er mir:
„Der Pfarrer lebt direkt hier nebenan, die Fenster stehen offen …“
Da sagte ich ihm:
„Verzeih mir, mein Freund!“
„Ach, alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Es gibt da ein Lied, das ihm sehr gefällt. Er sagt, er mag es seit seiner Kindheit. Eigentlich stammt er aus Petersburg, er ist einer von den russischen Litauern. Würdest du es spielen? Da war irgendwas mit einem hundertjährigen Baum, aber was für ein Baum, das habe ich vergessen …“
Ich ging im Geiste die mir bekannten Bäume durch und versuchte, einen hundertjährigen darunter zu finden, und schließlich ließ er sich auffinden:
„Die ›Hundertjährige Linde‹?“
„Ja, genau! Spiel es!“
Die Linde, so muss ich sagen, klang nicht weniger grandios als die Eberesche. Der Organist wiederholte die Melodie dieses alten Liedes nach mir, und damit nahmen wir Abschied voneinander.
Das Gestüt musste ich mithilfe von Mitfahrgelegenheiten suchen. Zuerst handelte es dabei sich um einen Motorroller, dann um ein Motorrad, danach um den Radtraktor des Gestüts und am Ende des Wegs um ein Fahrrad, auf dessen Stange mich ein kleiner Junge durch ein Kiefernwäldchen zu dem verborgenen Gehöft brachte. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass man statt der Poststelle den Namen eines hiesigen Flüsschens in die Adresse des Telegramms eingetragen hatte, dafür aber hatte man dort die Bezeichnung des Gehöfts korrekt angegeben – doch wer von außerhalb dieser unmittelbaren Gegend sollte die denn kennen?
Die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, welche von einem vom Lauf der Zeit schwarz gewordenen Bretterzaun umgeben waren, bildeten ein Quadrat. Ich schob die Zaunpforte auf und fand mich auf einem weitläufigen Hof. Ich mutmaßte, bei welcher der Türen es sich wohl um den Eingang ins Wohngebäude handelte, und klopfte. Es gab keine Antwort. Ich betrat also das Haus und fragte:
„Jemand da?“
„Ja, ja“, hörte ich eine krächzende, erkältete Stimme.
So begann die Bekanntschaft mit dem Mann, ohne den unser Film nicht stattfinden würde. Er stellte mich auch gleich durch das offene Fenster seiner Frau vor: Diese sammelte dreißig Meter vom Haus entfernt Pilze. Dann gruben wir nach Regenwürmern, ich bekam Angeln, ein Boot, und paddelte auf die Mitte des großen Sees, um in dem kristallklaren Wasser Fische zu fangen. Das Abendbrot wurde entsprechend reichhaltig: Die Hausherrin briet sowohl eine Menge an Rotkappen, als auch an Barschen.
Ich fragte sie nach dieser rätselhaften Adresse. Sie konnten lange Zeit nicht begreifen, wie diese zustande gekommen war, kamen allerdings schließlich auf Folgendem überein: Der Regisseur bekam einen Zettel in die Hand, der für einen befreundeten Schauspieler bestimmt war, welcher mit dem Auto hier vorbeikommen wollte. Und zur Orientierung waren darauf das Gestüt und das Flüsschen vermerkt.
„Es hat sich ja nun herausgestellt, dass diese Sache durchaus wiedergutzumachen gewesen ist“, sagte die Ehefrau freundlich.
„Wie im Übrigen alles und immer“, schloss ihr Ehemann.
„Nein“, erwiderte sie unerwartet streng, „nicht immer: Nämlich nur, solange jemand für uns betet.“
Meine Dienstreise war also glücklich und erfolgreich verlaufen, und zehn Rubel konnte ich sparen und dem Regisseur zurückgeben. Im Winter war das Theater, in dem dieser Schauspieler auftrat, auf Gastspielen in Moskau. Wir trafen uns nach der Vorstellung, erinnerten uns an die Rotkappen, die Barsche, und an das Telegramm: „Ich habe denen doch die Postanschrift dagelassen! Aber beim Kino wird immer wieder alles durcheinandergebracht“, lachte er. „Im Übrigen ist es so, wie meine Frau sagt: ›Diese Sache ist durchaus wiedergutzumachen‹.“
„Solange jemand für uns betet“, ergänzte sie.
Einige Jahre später erfuhr ich, dass niemand mehr für ihn beten kann.
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gemeint das russ. Volkslied „Zarte Eberesche“ („Что стоишь, качаясь, тонкая рябина“), nach einem Gedicht von Iwan Surikow (1841-1880): „Was stehst du, zarte Eberesche, schwankend wie im Tanz, deine Zweige neigend bis zur Erde ganz?..“ – Verm. d. Ü. ↩