:chartophylax:

Der Schuldner

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

14. Mai 2016

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 16 Minuten

Andrej Srkjabnew – ein beflissener Schüler der Orakel der jüngsten Zeit – war davon überzeugt, dass der Mensch nicht nur denkt, sondern auch lenkt, und nicht einmal der Krieg konnte diese Überzeugung seinem geschorenen Kopf austreiben.

„Ljuba“, schrieb er im Sommer fünfundvierzig an seine Frau, „wie ich es versprochen habe, kehre ich nun heil und unversehrt zurück.“

Da wurde der erfolgreiche Kämpfer aber in die Mandschurei kommandiert, wo er noch vor Beginn der Kampfhandlungen auf eine Mine lief – der Tod nahm ihn ohne zu zögern in seine wartenden Arme.

„Trottel!“, sagte die alte Marusja, als sie die Todesbenachrichtigung gelesen hatte. „Da hat er sich selbst hinversprochen!“ – Sie behauptete nämlich, dass er einzig aufgrund seines Briefes ums Leben gekommen sei. „Ist das denn vorstellbar? Den immer lauernden Tod so zu verleugnen!? Ein wahrer Fünfjahrplan-Trottel!“

„Waru-u-um denn ‚Fünfjahrplan‘?“, schluchzte Ljuba.

„Weil er Pläne gemacht hat wie im Fünfjahrplan: so-und-so viel Saatgut, so-und-so viel Kartoffeln, dann-und-dann wird gesät, dann-und-dann geerntet … Trottel!“

„Kein Trot-t-tel!“, war Ljuba verärgert. „Er war … im … immerhin beim Materialnachweis!“

„Was denn, als gäbe es keine Trottel beim Materialnachweis! Ein Trottel, wie er im Buche steht! Ein ordentliches Mannsbild hat wenigstens irgendeine Fertigkeit: Der eine ist, sagen wir, ein Schreiner, ein anderer Schmied, der dritte ist Hirte … Nur die ganz und gar Nutzlosen sind beim Materialnachweis … Was hast du nur an ihm gefunden?“

„Die Keulenhose-e-en!“, heulte die frischgebackene Witwe los. „Mit Di-a-go-nalbindung …“

„Du bist ja genauso eine Närrin“, seufzte die Mutter. „Was kann man schon von einer wie dir erwarten? Ach, Andrjuscha, Andrju-schenka!.. Was sollen wir jetzt ohne dich anstellen?..“ – und beide Frauen heulten unisono weiter.

Das beste Mittel gegen Kummer ist neuer Kummer: Kaum waren genug Tränen geflossen, da erzitterte die Erde, und ein donnerndes Echo verbreitete sich in den nahen Wäldern – es war der zwölfjährige Petka Skrjabnew, der sich mit Sprengladungen aufgemacht hatte, Döbel zu erbeuten. Petka hatte auch früher schon mit Sprengstoff Fisch geholt, Ljuba hat nicht zu sehr mit ihm darüber geschimpft – etwas essen musste man ja … außerdem gab es immer nur ganz sachte Explosionen, nicht sehr beängstigend. Diesmal aber war die Explosion fürchterlich: Sie erschütterte Ljuba buchstäblich, so dass sie sehr erschrak.

„Da hat er wohl ein neues Lager entdeckt – mit großen Bonben“, schloss die alte Marusja. „Hoffentlich hat’s ihn jetzt nicht mit erwischt …“

Petka war aber noch nicht an der Reihe, mehr noch, nach dieser Aktion gab es sogar etwas Fisch für sie – der Fisch wurde durch die Explosion zusammen mit der Flussbiegung hinaus aufs Feld geworfen.

„Hier, folgendes“, sagte die alte Marusja ihrer Tochter. „Solange er sich hier noch nicht selbst in die Luft gesprengt hat und seinem Vater folgt, mach dich auf zu Natalka – schau, sie ruft dich ja schon so lange zu sich, bestimmt seit zweiundvierzig …“

Auf diese Weise geriet Petka Skrjabnew nach Moskau.

Tante Natalja, die in der Offizierskantine der Kavallerieschule angestellt war, versorgte Ljuba ebenso mit einer Anstellung und einigte sich mit jemandem über eine Wohnstatt – zwei Kojen in einer Baracke.

„Da kommt ihr schon unter: Er ist ja nur ein Hänfling, fast wie eine Wanze, und du bist auch nicht eben rundlich. Später sehen wir weiter, vielleicht fährt jemand weg, oder jemand stirbt, so dass noch eine Koje frei wird.“

In jener Zeit waren kriminelle Gepflogenheiten weit verbreitet. Es ist eine gewisse Gesetzmäßigkeit, dass die Nöte eines Volks guter Nährboden für Wölfe, Krähen und Diebe sind.

Die Halbstarken und sonstigen kleinen Fische sammelten sich zu Cliquen, die untereinander aus allerlei unsinnigen Gründen verfeindet waren, mitunter auch vollkommen ohne jeden Grund: Die „Sokolniki“ kämpften gegen „Ismajlowo“, die „Roscha“ gegen die „Presnja“ …

Die Naivlinge, die an diesen Auseinandersetzungen teilnahmen, hatten keine Ahnung davon, dass ihnen innerhalb der höchst komplexen Alchimie der Verbrecherwelt die Rolle eines Lösungsmittels zukam, in welchem sich die künftigen Halsabschneider herauskristallisieren sollten.

An den Ufern der Tarakanowka schaltete und waltete eine Clique, die sich „Choroschewka“ nannte. Ihr Häuptling war Walerka Bakschejew, den man nur „Bak“ rief. Er war ungefähr siebzehn Jahre alt und alles an ihm war, wie es sich gehörte: eine Zahnkrone aus Metall, die Mundstückzigarette im Mundwinkel, eine tief in die Augen gezogene Mütze, „glei, Drecksack“, „ich mach dich Messer“ und so weiter. Als Bleibe diente Walerka eine Erdhütte, die in den Hang der Erdschlucht gegraben worden war, an deren Grund denn auch die Tarakanowka dahinfloss. Diese Erdhütten kamen im Sommer des Jahres einundvierzig auf, und zwar nach einem nächtlichen Bombenangriff, der das am Stadtrand gelegene Siedlungsviertel in Flammen aufgehen ließ. Später baute man die Baracken in der Gegend wieder auf, die Erdhütten nutze man aber als Kühlkeller weiter.

Eines Tages schleppte man Petka gewaltsam zu Bak. Das Verhör war eingehend und dauerte eine halbe Ewigkeit. Als er den Neuling schließlich hinausgeleitete, befahl Bak den Seinen: „Lasst den in Ruhe.“

Ein ganzes Jahr lang ließ ein jedermann Petka „in Ruhe“. Er ging zur Schule, spielte Kriegsspiele, und im Winter rodelte er mithilfe eines „Rutschers“: Schlitten gab es damals nicht, man bog sich einfach aus dicken Stahltrossen ein Gefährt zurecht, auf dessen Kufen hintereinander bis zu fünf Leute Platz fanden.

Auch größere Schlägereien hat Petka miterlebt: zum Beispiel „Sokol“ gegen „Choroschewka“, oder „Tuschino“ gegen „Choroschewka“. Zu diesen Ereignissen rotteten sich auf jeder der Seiten um die sechzig-siebzig Leute zusammen und schlugen sich auf dem Grund der Erdschlucht die Nasen blutig. Normalerweise blieb es bei leichten Verletzungen – einer Unmenge an kaputtgeschlagenen Nasen oder leichten Schnittwunden, aber mitunter kam es auch zu bedrohlicherem Blutvergießen.

Im Herbst wurde ein Gefangenentransporter die Schlucht hinabgestürzt; dabei kam ein Milizionär ums Leben. Im Winter wurden zweien von der „Choroschewka“ die Schädel eingeschlagen.

Diese hitzigen Ereignisse zogen Petka immer magisch an; jedes Mal, wenn etwas passierte, war er nicht weit von dem Ereignis entfernt. Und da er in den allgemeinen Trubel eintauchte, kam er zu Offenbarungen, die einem unbeteiligten Blick in der Regel verborgen blieben. Er wusste, dass der unpässliche Milizionär in aller Stille vom Abschnittsbevollmächtigten Awerkin umgebracht worden war: Awerkin, von Gestalt ein Hüne, hielt ihn unter irgendeinem Vorwand am Fahrzeug auf und streckte ihn mit einem Faustschlag auf den Hinterkopf nieder. Da kam Bakschejew hinzu; sie hoben die Leiche zu zweit in die Kabine, dann rannte Awerkin zum Ort der Schlägerei, wo sich die mit dem Transporter an diesem Ort angekommene Gruppe bereits in voller Fahrt bei der Unterbindung der Störung der öffentlichen Ordnung befand. Bak pfiff, die „Choroschewskis“ warfen sogleich ihre Knüppel hin und eilten nach oben. Als ungefähr zwanzig Mann beisammen waren, schoben sie das Fahrzeug mit vereinten Kräften in den Abgrund. Unten überschlug es sich, fing an zu brennen und explodierte.

Ein anderes Mal sah Petka, als er den Verlauf einer Schlägerei von der Kommandohöhe aus betrachtete, wie aus der unweit gelegenen „Stabs“-Erdhütte Bak und … der Chef der feindlichen Clique heraustraten. Sie wankten, reichten einander die Hand und gingen auseinander.

„Aus Filzstoff!“, rief Bakschejew ihm hinterher.

Ohne in seinem Lauf innezuhalten, wandte der Fremdling sich einen Augenblick lang um und nickte beruhigend. Das war die Zeit, zu der die beiden „Choroschewski“-Leute umgekommen sind; der eine der beiden war in einen Halbmantel aus Filz gekleidet, der andere trug eine Art Helm, der aus dem gleichen Material genäht war. Die beiden wurden auf dem Wagankowo-Friedhof bestattet, und zwar mit einem Pomp, der zu diesen Zeiten unüblich war: Es gab ein Blasorchester, Kränze aus echten Blumen – und das, obwohl es Winter war … Die Hinterbliebenen waren besonders vom Mitgefühl der Friedhofsverwaltung angetan, denn diese übernahm sämtliche Kosten für die Bestattung, die Grabsteine und Einzäunungen.

Petka konnte sich denken, dass es für diese Vorfälle gewisse geheime Gründe gab, deren Sinn er aber, so sehr er sich auch mühte, nicht begreifen konnte.

Im Sommer nahm Bak sich endlich auch Petka vor. „Hattest du nicht gesagt, dass im Wald bei eurem Dorf …“ Kurz, er bekam einen Geheimauftrag. „Wenn das funzt, wirst du Kohle haben.“

Natürlich brauchte Petka „Kohle“. Nicht für sich: Er wollte seiner Mutter ein Paar Sandalen mit Keilabsatz kaufen. Denn die Weiber in der Baracke höhnten schon: „Die Ljubka läuft die ganze Zeit in ihren Kunstlederstiefeln herum – völlig klar, dass kein einziger Kavalier sie zum Tanz auffordert.“

Am Morgen des abgemachten Tages hielt ein Dreitonner auf der Brücke über die Tarakanowka. Petka sprang eilends – wie Bak ihm geboten hatte – auf die Pritsche und versteckte sich im Stroh; das Fahrzeug fuhr an.

Sie brachten einen ganzen Wagenkasten voll mit Sprengstoff zurück nach Moskau.

Ljuba weinte und flehte ihren Sohn an, er möge die Sünde fliehen, aber die Geldscheine nahm sie und kaufte sich dafür Sandalen.

Durch diese Fahrt kam Petka zu einem solchen Ansehen, dass er eine Woche später zum Wache schieben berufen wurde und ganze Tage über an den Toren des Wagankowo-Friedhofs in Gesellschaft eines beinlosen Bettlers verbrachte. Manchmal schickte der Beinlose ihn los, damit er irgendeinem Bürger hinterherspionierte. Petka versteckte sich hinter Grabsteinen und Bäumen, beobachtete seine Zielperson und gab dem Krüppel danach Bericht.

In diesen Jahren standen mitten auf dem Wagankowo-Friedhof noch Wohnhäuser – eine doppelgeschossige Baracke für die Friedhofsarbeiter und ein kleines Anwesen, das der Friedhofswächter bewohnte. Mitunter versammelten sich hier die Großmeister der vaterländischen Verbrecherwelt, und bei diesen Gelegenheiten wurden weitläufig Wachen postiert. Auch jetzt war ein landesweit bekannter und einflussreicher Mafioso auf dem Friedhof zu Gast.

Fast einen jeden Tag kam ein größerer Zivilbeamter vorbei, um mit ihm irgendwelche Verhandlungen zu führen. Er ließ seinen schwarzen ZIS1 am Markt stehen, kaufte einen kleinen Blumenstrauß und eilte zum Friedhof. Auf verschlungenen Wegen begab er sich in dessen entfernteste Ecke und blieb unterhalb eines altertümlichen Grabdenkmals stehen. Wenn es ringsherum ruhig war, tauchte bald der Mafiaboss neben ihm auf, und die Verhandlungen begannen. Petkas Aufgabe war simpel: Er sollte in einiger Entfernung in der Gegend herumlaufen und beim ersten Anzeichen von Gefahr Lärm schlagen. Die nahe gelegenen Zugangswege wurden von jungen Männern bewacht, die mit allen Dingen schnell bei der Hand waren und erst nach getaner Arbeit Fragen stellten. Nach einiger Zeit des Stillstandes begannen die beiden Gesprächspartner, auf der Friedhofsallee auf und ab zu schlendern. Einmal traf Petka aus purem Zufall direkt auf sie und konnte einen Gesprächsfetzen mithören.

„Ach, nur Unsinn“, teilte er seine Erfahrung mit dem Beinlosen. „Es ging nur um irgendeinen Kanal: Kanal hier, Kanal da …“

„Wenn ein Kanal gebaut wird, Bruder, dann gibt es immer eine Amnestie“, seufzte der Krüppel. „Und für eine Amnestie muss man zahlen – und zwar großes Geld.“

Petkas Zuverlässigkeit wurde belohnt, und zwar – ganz im Geiste der damaligen Zeiten – mit einer Ehrenwaffe. Er bekam eine „Walther“-Pistole.

Der weitere Verlauf seines Lebens war von diesem Augenblick an ziemlich vorhersagbar, aber die Umstände geruhten, einmal mehr anders zu entscheiden: Der mächtige Mafiaboss starb unvermittelt.

„Der hing an der Nadel“, erklärte der Versehrte und zwinkerte vielsagend. „Hat sich wohl das Falsche gestochen.“ Er zuckte mit den Schultern: „Sowas kommt vor …“

Man warf ihn in ein gerade frisch angelegtes Grab: es wurde wieder aufgebuddelt, der tote Mafiaboss landete auf einem fremden Sarg, und die Grabstelle wurde wieder mit Erde zugeschüttet.

In der Zeit, als sich in den Fluren des zweistöckigen Hauses die neue Macht etablierte, machte sich Petka von dannen – er wurde nicht gebraucht. Im Herbst begann er eine Ausbildung an der Handwerksschule, so dass ihm keine Zeit mehr für riskante Heldentaten blieb.

Dann irgendwann hatte die Mutter Onkel Wolodja bezirzt – durchaus auch mithilfe der hinterhältigen Sandalen mit Keilabsatz. Onkel Wolodja war Pferdeknecht an der Kavallerieschule.

„Was hast du nur an dem gefunden, Ljubka?!“ wunderten sich die Weiber. „Er ist alt und stinkt nach Pferdemist!“

„Aber er ist doch blond!“ sagte Ljuba.

Dieser Onkel Wolodja war es auch, der Petka an die Grenze seines irdischen Daseins brachte, obwohl er sich dessen selbst gar nicht bewusst wurde.

„Hier, dingens“, sagte Bakschejew einmal. „Weißt Bescheid wegen morgen?“

Petka wusste, dass am kommenden Tag wieder eine Schlägerei anberaumt war.

„Es wird Zeit für dich“, grinste Bak. „Du bist schon reif … wirst du dieses Jäckchen tragen?“

Petka nickte: Außer Mutters gesteppter Wattejacke hatte er gar nichts anzuziehen.

„Und diese Filzstiefel?.. Alles klar.“ – Bak ging seiner Wege.

Und da kam es Petka plötzlich klarer als Kloßbrühe in den Sinn, dass dies seinen Tod bedeutete.

Das „Jäckchen“ machte plötzlich im Zusammenhang mit der Episode mit dem Halbmantel aus Filz Sinn, das Auftauchen von Onkel Wolodja mit der Rückkehr des Vaters eines der beiden Umgekommenen. Petkas Vorahnungen waren richtig – Bak mochte es nicht, wenn im Bekanntenkreis seiner Neulinge Männer auftauchten, die nicht der kriminellen Welt entstammten: Er musste fürchten, dass sie ihnen gegenüber zu viel erzählten und ihn kompromittierten; in undurchsichtigen Situationen versuchte er also immer, sie loszuwerden. Für alle Fälle … Freilich wurde der zweite Junge damals aus Versehen umgebracht: Sein Helm war einfach aus dem gleichen Material gemacht, wie der desjenigen, der das Opfer hätte werden sollen.

Was sollte er tun? Wo nach Schutz suchen?.. Der Milizionär Awerkin steckte mit Bakschejew unter einer Decke, in Wagankowo hatte die Macht gewechselt … Bei Onkel Wolodja, dem Pferdeknecht? Was konnte der schon tun? Angenommen, morgen konnte er ihn decken und beschützen, aber übermorgen auch noch? Und in fünf, sieben, zehn Tagen? Der Pferdeknecht war ja mal im Stall, mal in der Kaserne, Bak aber war immer in der Nähe. Es ging nicht, die Sache zu vereiteln. Also ging Petka hin.

In dem Augenblick, als die Fremdlinge, die Bak entsprechend instruiert hatte, daran gingen, ihn von der Menge der „Choroschewskis“ abzudrängen, zog er seine „Walther“ und schoss damit direkt vor sich … dann nochmal und ein weiteres Mal. Er traf niemanden – die Hand wurde bei jedem Schuss nach oben gerissen – aber der Kampf war sogleich beendet: Beide Seiten begaben sich panisch auf die Flucht. Petka kehrte allein zurück. Bakschejew, der am Eingang seiner Erdhütte stand, begleitete ihn mit stummem Blick. Die Schießerei kam für ihn vollkommen unerwartet, und nun galt es in Erfahrung zu bringen, wer genau den Kerl mit der Kanone versorgt hatte, um nicht zufällig gegen die Interessen irgendwelcher großen Leute zu handeln.

Kurz darauf kam eine Tussi in der Baracke vorbei, die niemand kannte, zerkratzte Ljuba das Gesicht, und damit war die Romanze mit dem geruchsintensiven Blonden auch schon beendet.

Drei Jahre waren vergangen. Petka absolvierte den gesamten Kursus der Wissenschaften und begab sich auf das Betätigungsfeld der Hausmeisterei, wurde Klempner; die Mutter kam als Straßenfegerin unter, und sie bekamen ein Zimmerchen im Souterrain. Ein neues Leben begann. Um fünf Uhr morgens ging es hinaus auf den Bürgersteig: den Schmutz wegkehren, Schnee schieben, Eis brechen. Petka ging seiner Mutter zur Hand und war den Rest des Tages unterwegs: hier war ein Heizkörper undicht, da ein Rohr verstopft … es war keine schlechte Kundschaft: Offiziere, Generäle, der Trainer einer Fußballmannschaft, ein Radrennfahrer, ein Minister, der Chauffeur eines legendären Feldherrn, zwei Schriftsteller …

Deren Kinder waren auch gut: Sie bauten Seifenkisten mit echten Kugellagern, spielten Fußball, im Winter bauten sie sich Eisbahnen, es gab keine kriminellen Cliquen. Die Tarakanowka, Wagankowo – all das versank in der Vergangenheit, obwohl es doch immer irgendwie präsent blieb. An den Abenden war wieder der Bürgersteig dran, wieder das Brech- und Schabeisen, die Schaufel, der Besen und das Kehrblech. Moskau wurde damals so sauber gehalten, dass der Asphalt selbst mitten im Winter in einem ganz und gar sommerlichen Zustand war.

Zur gebotenen Zeit absolvierte Petka den Wehrdienst, und zur gebotenen Zeit kehrte er zu den Kloschüsseln und Steigrohren zurück.

Da hatte die Mutter einen neuen Verehrer – einen ziemlich zerknitterten Alten.

„Der ist aber sehr unansehnlich, Mutter.“

„Dafür ist er Seemann, Petenka: ein schwarzer Dienstrock, Schlaghosen, und an der Seite trägt er“ – Ljuba rollte mit den Augen – „einen Säbel …“

„Einen Marinedolch. Na, dann ist’s ja klar …“

Inzwischen bemerkte Petka immer öfter, dass die Zeit seines Lebens irgendwie asynchron zu verlaufen begann. Während beispielsweise ein Fußballspiel im „Dynamo“-Stadion nach wie vor – ganz wie früher – fast eine Ewigkeit zu währen schien, so sprangen manche Monate, ja selbst Jahre mit der Kürze von Augenblicken an ihm vorüber: ein Jahr – und schon waren die Baracken verschwunden, an ihrer Stelle wurden Gebäude aus Stahlbeton errichtet; ein weiteres – und es blieben keine Spuren mehr von den Wohnhäusern auf dem Friedhof; ein drittes, ein fünftes … die Zeit rannte unaufhaltsam.

Die Großmutter gab es schon lange nicht mehr, auch die Mutter war gestorben, und auch der arglistige Bakschejew war irgendwo in den grenzenlosen Weiten des Vaterlandes verloren gegangen. Petka fand sich eine Frau, bekam Kinder, eine Wohnung und widmete sich mit unablässiger Beharrlichkeit der Zähmung der Moskauer Wasserleitungen.

Er ging auf die Fünfzig zu, die Kinder wurden erwachsen. Ein unerklärliches Gefühl begann, von Pjotr Andrejewitsch Besitz zu ergreifen. Erst war es kaum zu bemerken, aber es wurde immer stärker, bis zu dem Augenblick, als es seinen Verstand zu beunruhigen begann.

„Weißt du, was interessant ist …“, sagte Pjtor einmal mitten in der Nacht. „Wie viele Menschen meines Jahrgangs sind inzwischen schon gestorben!“

„Na und?“ – seine Frau verstand ihn nicht.

„Ich aber bin am Leben.“

„Das ist doch gut“, befand sie.

„Gut mag das ja sein, aber irgendwie schulde ich jemandem etwas.“

„Wieviel?“, fragte sie, plötzlich leicht alarmiert.

„Verstehst du … Schau, beispielsweise, als ich ein Kind war: Ich werfe eine Granate, und die Splitter surren und pfeifen durch die Luft, aber immer an mir vorbei. Einmal habe ich eine derartige Explosion veranstaltet, dass selbst der Flusslauf davon begradigt wurde … die Steine flogen von der Detonation nur so durch die Gegend: Sie trafen Bäume, die dadurch brachen, aber ich kam auch hier vollkommen ungeschoren davon. Dann die Sache mit der Clique, ich bin hineingeraten wie ein Fisch ins Netz. Und auf einmal tut sich direkt vor meiner Nase ein Loch in diesem Netz auf – und ich bin davongekommen. Dann hat ein Kerl dort mich mehr oder weniger zum Abschuss freigegeben – wieder ging es glimpflich aus. Und ich selbst? Ich habe aus einer Pistole geradezu auf Anschlag auf Leute gefeuert – aber daneben geschossen, und so bin ich nicht zum Mörder geworden … Was hat das alles denn zu bedeuten?“

„Was soll das denn heißen? Na … du hast Glück gehabt, das ist alles.“

„Eben, das ist es ja: Ich habe Glück gehabt. Aber irgendwem schulde ich doch was dafür?“

„Was schuldest du denn?“

„Na, wenigstens ein ›Dankeschön‹…“

„Und wem?“

„Ich weiß es nicht.“

Die Frau sog die Luft hörbar durch ihre Nasenlöcher ein.

„Ich habe nicht getrunken.“

„Gehst die ganze Zeit zu deinen Generälen, die stecken dich mit ihrem Altersschwachsinn an …“

„Was hat das denn damit …?! Ach!..“

„Dann lass mich mit diesem Krimskrams in Ruhe, schlafe lieber …“

„Das ist doch kein Krimskrams! Vielleicht ist es überhaupt das Wichtigste in meinem Leben!“

„Na, dann grübele darüber nach, aber störe mich nicht damit.“

„Ich werde grübeln.“

„Ganz richtig …“

Pjotr Andrejewitsch begann zu grübeln.


  1. eine Baureihe von Repräsentationswagen und Limousinen der Oberklasse, zwischen 1936 und 1958 in der Sowjetunion hergestellt – Verm. d. Ü.