:chartophylax:

Die westliche Peripherie

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

27. Juli 2016

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Im Frühjahr ist es bereits hell, wenn die Nachtschicht zu Ende ist. Bis man sich da die Hände mit Kerosin gewaschen und sich umgezogen hat, steht die Sonne schon über dem Wagankowski-Wäldchen. Ihr warmes Licht erhellt erst den ungestrichenen Bretterzaun, dann berührt sie die an diesem Zaun geparkten Fahrzeuge und fällt schließlich auf die steinhart getrampelte Erde des Hofs der Werkstatt. Der bittere Geruch von Pappeln, von gelben Huflattichblüten und dem Staub von der Eisenbahnböschung liegt in der Luft.

Serjoga hatte es nicht eilig, und selbst wenn er es eilig hätte – er hatte keine Kraft mehr. Nachdem er auf das Dach einer „Emka“1 gestiegen war, schlief er ein. Auf dem breiten Dach des nebenan stehenden „Horch“ wäre es natürlich etwas bequemer gewesen – dort konnte man sich ausstrecken und sich von einer Seite auf die andere wälzen, aber der „Horch“ war rosafarben, während die „Emka“ schwarz war – und die wurde im Sonnenlicht schneller warm.

Auf der anderen Seite des Zauns, ganz nah, polterten die Züge, die Lokomotiven heulten und pfiffen, aber Serjoga hörte all das nicht; er konnte es gar nicht hören, so müde war er.

Er erwachte in der Mittagsstunde von leisen, an diesem Ort aber sehr ungewöhnlichen Klängen: Jemand spielte Ziehharmonika. Es war Landin, der Wächter, der, an die Stoßstange eines „Studebaker“ gelehnt, zerstreut den „Amurwellen“-Walzer spielte. Serjoga glitt über das Heck von seiner Lagerstatt herunter.

„Wo sind denn die ganzen Leute?“

Landin hörte mit dem Spielen auf.

„Die sind zur Kundgebung, zu den Eisenbahnern“, antwortete er und blickte in die Ferne.

„Wieso, was ist denn los?“

„Der Krieg ist zu Ende“, erklärte Landin und schaute Serjoga verwundert an.

„Was, ganz zu Ende?“

„Ganz zu Ende.“

„Überall?“

„Scheint so“; der Wächter zuckte mit den Schultern.

Serjoga rieb sich schlaftrunken die Augen, gähnte und begann zu grübeln.

„Weißt du was?“, bat Landin, „Kannst du mir einen Gefallen tun? Baue mir doch eine behelfsweise Krücke zusammen; siehst du, ich kann mich ja kaum von der Stelle bewegen.“

„Du hattest doch eine?“

„Ja, aber die habe ich heute aus lauter Freude an dem Eisending kaputtgemacht.“

In einer Ecke des Hofs, direkt neben dem „Tiger“ ohne Turm, lagen die Bruchteile von Landins Krücke herum. Dieser „Tiger“ war einmal zusammen mit unserer Panzertechnik hierher geraten, als die Werkstätten noch Panzerfahrzeuge reparierten. Inzwischen nutze man seine ebenen Flächen zur Ausrichtung von Eisenteilen, die Laufrollen dienten dem Biegen von Stangen und Rohren.

Sie nahmen Maß, und dabei kam heraus, dass die Krücke etwas größer sein musste als Serjoga groß war. Er begab sich in die Tischlerei und brachte alsbald eine nicht sehr schöne, aber umso stabilere Stütze für Landin mit.

„Die Kanten kannst du mit einem Messer abhobeln.“

„Kein Thema!“ – Landin ergriff erfreut die Krücke. „Genau, was ich brauche!“

Serjoga wäre gleich da geblieben – er hatte ohnehin wieder Nachtschicht – aber er hatte Hunger, also musste er sich nach Hause begeben.

An der Choroschewka-Straße begannen gerade Kriegsgefangene mit einem Bau: Sie hoben Gruben für Fundamente aus, sägten Bretter und entluden Lastkraftwagen voller Ziegelsteine.

„Hey!“, rief ihn ein bekannter Deutscher, der einmal in Serjogas Werkstatt gearbeitet hatte.

Ein paar Mann kamen heran, grüßten zurückhaltend und wollten wissen, ob Serjoga schon vom Kriegsende gehört hatte; gleich darauf teilten sie ihm mit sichtlicher Freude mit, dass sie endlich einen der Ihren ausfindig gemacht hätten, der bei Moskau gekämpft hat. Sie verwiesen auf einen betagten Offizier.

„Naro-Fominsk“, sagte Serjoga und schaute dem Kriegsgefangenen fragend in die Augen.

„Ja, ja!“ – der Deutsche nickte.

„Kamenka“, präzisierte Sergej und wiederholte: „Dorf Kamenka, am Nara-Fluss.“

„Ja, ja!“ – Der Deutsche ging in die Hocke und begann, mit einem Holzscheit auf der Erde eine Karte zu skizzieren. Er zeigte darauf, wo damals ihr Truppenteil stand, wo sich die Artillerie und die Panzer befunden haben.

Serjoga war mit allen Details einverstanden, ließ sich dem Deutschen gegenüber in die Hocke nieder und zeigte ihm, auf welchem Weg er mit einem Aufklärungstrupp ins Hinterland der Deutschen vorgedrungen war. Der Offizier wies mit dem Finger mal auf die Karte, mal auf Serjoga und sprach hastig und – seltsamerweise, als hätte er einen alten Waffengefährten getroffen – mit offenkundiger Freude in deutscher Sprache mit den Seinen.

Ein Geleitposten, der offensichtlich zu jung war, um den Krieg mitgemacht zu haben, kam herbei. Die Deutschen entschuldigten sich für die Arbeitsunterbrechung, und die unter ihnen, welche Russisch konnten, versuchten, ihm die Situation zu schildern.

„Ist das wahr, Junge?“, fragte der Posten Serjoga. „Wie alt warst du denn?“

„Einen Zehner.“

„Mannomann! Zeig doch mal deine Medaille! Oder hast du dir keine verdient?“

„Die ist zu Hause“, antwortete Sergej müde. „Vielleicht ein andermal.“

Die Deutschen interessierten sich dafür, warum Serjoga an einem solchen Tag nicht lustig sei und nicht feierte – ob bei ihm denn an dem Tag, an dem der Krieg endlich zu Ende war, nicht alles „charascho“ wäre.

„Es ist schon alles soweit gut“, seufzte Serjoga. „Nur …“ – er musterte sie mit trübem Blick – „Besser wär’s, es hätte gar keinen Krieg gegeben.“

In diesem Augenblick erklang von der anderen Straßenseite ein durch ein Schallrohr verstärkter, kehliger Anschnauzer. Die Deutschen gingen sofort auseinander und ergriffen ihre Hacken und Spaten.

„Das ist deren Chef“, grinste der Posten geringschätzig. „Ein unheimlich fieser Typ – lässt sich die Leute nicht einmal gepflegt unterhalten!“

Zum Abschied gab er Serjoga die Hand …

Zwischen den Baracken und inmitten der überall zum Trocknen aufgehängten Wäsche feierten die Leute: Auf einem Hocker stand ein plärrendes Koffergrammophon, und ansonsten gab es Weiber, Weiber, Weiber und vielleicht ein halbes Dutzend Mannsbilder. Einer von ihnen war ein Flieger – mit allerlei Orden und Medaillen geschmückt, hatte er noch beide Arme und Beine – wo hatte man denn so einen noch auftreiben können? Alle anderen waren Versehrte: Dem einen steckte einer der Ärmel in der Hosentasche, dem anderen ragte ein Stück Holz aus der Stiefelhose, und einer ganz ohne Beine auf einem Leiterwagen war auch dabei. Dieser stieß sich mit Holzscheiten ab und sprang so herum – so tanzte er, während die Räder seines Wägelchens immer wieder mit Gepolter auf dem Boden aufschlugen und die Achslager beängstigend laut knarrten; sein Gesicht war vor Schmerz bereits gerötet.

Es näherte sich eine „Douglas“ im Landeanflug. Sie wippte von einem Flügel auf den anderen und rauschte direkt über den Köpfen der Menschen hinweg, so dass sich die an den Leinen trocknende Wäsche überschlug und um die Leinen verdrehte. Die Weiber drohten dem Flugzeug fäusteschüttelnd hinterher, aber es verschwand bereits hinter dem Zaun des zentralen Flughafens.

Die Mutter war im Wohnzimmer. Sie saß am Tisch; auf dem Tisch stand eine Flasche Wein, daneben lag die von Sergej erkämpfte Medaille.

„Wen erwartest du?“, fragte Serjoga, da er plötzlich der Meinung war, dass die Mutter komplett übergeschnappt sei und wieder auf Vaters Heimkehr wartete, obwohl sie gemeinsam noch vierundvierzig dessen Grab gefunden hatten.

„Dich“, antwortete die Mutter. Sie erhob sich und ging zu ihm heran. „Wenn du nicht wärst, o, wenn du nicht wärst …“, sagte sie und begann zu weinen. „Ich weiß auch nicht..“, und rief plötzlich mit lauter Stimme: „Serjoscha!“, drückte ihn sich zitternd an die Brust.

Serjoga wartete geduldig darauf, bis das Geheul abebbte und die entkräfteten Arme ihn wieder freigaben.

„Komm schon, Mutter, was hast du denn? Ist doch alles in Ordnung!“

„Ja, ja“, nickte sie. „Natürlich. Setz dich doch, setz dich. Ich werfe den Kocher an und mache den Brei warm, dann können wir Mittag essen und ein wenig feiern; setz dich doch!“, sagte sie und begab sich in die Küche.

Serjoga setzte sich an den Tisch. Er musste hungrig schlucken, als er das Essen sah: ein Kanten Brot, gekochte Mohrrüben, Soja-Konfekt und eine Handvoll Trockenfrüchte. In seinem Bauch begann es zu rumoren, zu blubbern und zu knurren, aber er fühlte sich trotzdem gut und war schläfrig.

Es klopfte am Fenster; es war sein Freund Saschka. Serjoga musste aufstehen und das Klappfensterchen aufmachen.

„Was willst du denn?“

„Hast du schon gehört?“

„Ja, klar, ich habe es schon gehört, das wissen doch schon alle!“

„Die Plötzen beißen!“

„Wie bitte?“, flüstert Serjoga verdattert.

„In der Tarakanowka2 beißt die Plötze – mein Ablöser hat heute am Morgen dreißig Stück herausgeholt, also, beeile dich! Zwei Haken habe ich, auch Zwirn, Korken finden wir irgendwo, Wurm können wir an der Kavallerieschule ausbuddeln und die Angeln schneiden wir uns am Ufer. Bis Einbruch der Dunkelheit können wir einiges schaffen, und dann, mal sehen, bleiben wir vielleicht auch noch über Nacht, machen uns ein Feuerchen …“

„Über Nacht kann ich nicht, ich muss nachts arbeiten.“

„Wieso das denn?“, wunderte sich Saschka. „Bei uns im Fliegerwerk haben alle freibekommen.“

„Ach, hör’ auf anzugeben: ›im Fliegerwerk‹, ›im Fliegerwerk‹ … Wir haben den ganzen Krieg über Panzer repariert – das ist auch nicht gerade Kikifax. Außerdem kann es schon sein, dass wir auch freibekommen haben – ich weiß es nur nicht. Als ich wegging, war keiner da, nur der Wächter … Aber darum geht’s ja auch nicht. Die Mutter lässt mich bestimmt nicht weg – sie ist in der Küche, daran komme ich nicht unbemerkt vorbei …“

„Na dann durch’s Fenster!“

„Durch das Klappfensterchen passe ich nicht, und die Fensterrahmen sind verklebt.“

„Dann mach sie auf, es wird jetzt ohnehin wieder warm sein!“

„Stimmt, hast eigentlich recht.“

Serjoga lauschte, ob die Mutter nicht gerade käme, zerschnitt daraufhin behände die Papierstreifen, mit denen die Fensterrahmen verklebt waren, öffnete das Fenster und sprang hinaus.

„Sind’s große Plötzen?“

„Naja, die Leute sagen, es sind schon ordentliche!“

Sie eilten im Laufschritt zur Tarakanowka.


  1. volkstümliche Bezeichnung für den GAZ-M1, einen zwischen 1936 und 1943 in der Sowjetunion produzierten Pkw. – Verm. d. Ü. 

  2. kleiner Zufluss des Moskwa-Flusses im nordwestlichen Stadtgebiet Moskaus. – Verm. d. Ü.