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Haferkekse

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

16. Januar 2017

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Es kommt vor, dass die gewöhnlichsten Phrasen, aus nichtigen Gründen geäußert, zu regelrechten Lehrsätzen werden. Was zählt, ist der Augenblick, in dem diese simplen und an sich womöglich uninteressanten Phrasen fallen. Wenn der Moment passt, so können selbst noch so gewöhnliche Worte, die wir mehrmals täglich aussprechen, eine besondere Bedeutung gewinnen und zu gewissen, mehr oder weniger gehaltvollen, Überlegungen veranlassen. Was nun die Passgenauigkeit des Augenblicks angeht, so stellt das ein Rätsel dar und lässt sich nicht auf die Schnelle erklären. Das ist dann eben, wie es sich gerade ergibt …

Eines Tages, an einem zweiten Februar, begingen wir bei Vater Archimandrit den Jahrestag der Schlacht von Stalingrad, bei der dieser auf überaus heldenhafte Art und Weise beteiligt gewesen ist. Der Batjuschka war dafür bekannt, dass er sich gegenüber äußerst streng war, allen anderen Menschen aber mit einem unendlichen Wohlwollen begegnete. Er war bereits von allerlei Krankheiten geplagt, so dass er seine Zelle nur noch sehr selten verließ, und wenn, dann nur ab und an, um zum Gottesdienst zu gehen: er betete mit allen, empfing die Kommunion … Er lebte also, so kann man sagen, in Klausur und im fortwährenden Gebet. Den Jahrestag der Schlacht von Stalingrad beging er aber unablässig. Und ein jeder, der dessen gedachte, was genau am zweiten Februar neunzehnhundertdreiundvierzig passiert war, konnte bei ihm einkehren. Die Gedenkfeier lief in genauer Übereinstimmung mit der Tradition ab, deren Anfang, wie wir wussten, noch damals an der Front gelegt worden war. Ein jeder bekam zwei verbeulte Aluminiumdeckel von Thermosbehältern: einen mit nicht gerade hundert, aber doch mit den an der Front üblichen fünfzig Gramm Wodka, in dem anderen eine eigens zubereitete Zukost: grüne Erbsen im eigenen Saft, vermischt mit in kleine Würfel geschnittener Salzgurke. Wir tranken aus dem ersten Deckel „Auf den Sieg!“, stärkten uns mit der kulinarischen Spezialität, und dann war das Festmahl auch schon vorüber. Der Hausherr der Zelle beteiligte sich aufgrund seiner gewöhnlichen Neigung zur Askese nicht daran. Dieses Mal aber enthielt sich außerdem noch ein junger Messdiener, der mit einem der Priester mitgekommen war: Er wies das Angebot in strengem Ton zurück und betrachtete alles mit sichtbarer Verurteilung.

Vater Archimandrit mochte es nicht, vom Krieg zu erzählen:

„Was gibt es denn da zu erzählen? Wir greifen an, wir ziehen uns zurück, wir graben uns ein. Wir greifen wieder an. Der eine kommt um, ein anderer wird verwundet. Ersterer wird beerdigt, letzterer ins Lazarett geschafft. Ein anderer kam um, und ich wurde verwundet. Er wurde beerdigt, und ich wurde ins Lazarett geschafft. Man flickte mich zusammen, und wieder von Neuem: Wir greifen an, wir ziehen uns zurück, wir graben uns ein. Der Krieg ist eine langweilige Sache“, sagte er und lächelte.

Üblicherweise verliefen solche Begegnungen mit Gesprächen über allerlei kirchliche Neuigkeiten: wo wurde was gebaut, wen hat man im Dienst wohin versetzt und so weiter, aber diesmal fragte uns der Batjuschka, ob denn von uns schon einmal jemand in Stalingrad gewesen sei. Es stellte sich heraus, dass außer mir niemand dort gewesen war.

„Zu welchen Zeiten war das denn?“, fragte er. „Bestimmt, als die Stadt bereits wieder Wolgograd hieß?“

„In den frühen Fünfzigern“, sage ich. „Es war das waschechte Stalingrad.“

Er, der die Stadt seit Februar dreiundvierzig nicht gesehen hatte, fand das so interessant, dass er von mir eine vollständige Beschreibung forderte.

Ich fuhr damals mit einem Dampfschiff über die Wolga – es war noch ein Raddampfer: In jenen Tagen gab es eine Menge dieser Art von Schiffen auf der Wolga, selbst die „Jachont“ war damals noch unterwegs – eine Reliquie mit Heckrad. Und die Schlepper waren fast allesamt Raddampfer: Die bekannten schwarz-orangenen, aufgrund der Schaufelräder unheimlich breiten Schiffe.

Stalingrad wurde in aller Eile wieder aufgebaut, eine Freitreppe zum Wolgaufer hinunter war bereits fertiggestellt, und hier und da erhoben sich Häuser über die Ruinen, es fuhr eine Straßenbahn. Wir erreichten den Mamajew-Hügel und stiegen den Hügel hinauf. Der ganze Hügel war mit grün gewordenen Patronenhülsen bedeckt. Ich sammelte eine Menge davon, mein Vater aber schaute und warf die von den deutschen Patronen wieder weg: „Wer weiß, vielleicht wurde mit den Kugeln dieser Hülsen einer von den unsrigen getötet“. Überall an den Seiten sah man Grabeshügel: hier mit einem blechernen Stern, dort mit einem Schildchen, mitunter auch ohne jedes Abzeichen. An manchen Stellen bleichten im grünen Gras Knochensplitter …

Ein anderer Batjuschka berichtete, dass einer seiner Verwandten – es war wohl der Onkel – nahe Stalingrad verwundet wurde und ein Bein verlor. Er bat alle, falls sie einmal in die Gegend kommen sollten, danach Ausschau zu halten – vielleicht findet es sich; seine Prothese hatte er gründlich satt.

Vater Archimandrit hörte sich all das mit respektvoller Dankbarkeit an, und betrachtete unsere Erzählungen wie Geschenke, wie eine nach Kräften dargebrachte Gabe zum Feiertag. Eine Gabe für Stalingrad.

Da erinnerte ich mich noch daran, was meine Mutter erzählt hatte: Bei einer Ausfahrt der Redaktion der „Komsomolka“1 kam sie kurz nach der Befreiung nach Stalingrad. Es hieß, für das Erscheinen der Zeitung zu sorgen und gleichzeitig für die Kinder da zu sein: In der Stadt gab es unerwartet viele Kinder – tausende von Kindern, die den Winter an der unmittelbaren Frontlinie auf rätselhafte Weise überlebt hatten. Als die Kinder den Sommer zuvor am Ufer versammelt wurden und man daran ging, sie ans andere Wolgaufer zu schaffen, hatten die Deutschen den überladenen Lastkahn, der mit einem roten Kreuz gekennzeichnet war, beflissentlich zerbombt. Dieses furchtbare Ereignis machte einen Strich durch den Rettungsplan und die versammelten Kinder zerstreuten sich in der ganzen Gegend. Nun wurden sie von überall her wieder eingesammelt, gespeist und medizinisch behandelt. Für die ganz kleinen gab es „Kindergärten“: Man suchte sich einfach einen halbwegs ebenen Ort inmitten der Ruinen, setzt um die zwanzig Kinder auf umgedrehte deutsche Stahlhelme, und über alledem wacht ein junges Kämpfermädchen mit Sturmgewehr. Sie ist Erzieherin, Leiterin, Hausmeisterin und Wachmann in einem. Am Tag brachten Soldaten Lebensmittel, und in der Nacht wurden die Kinder in einem nahegelegenen Keller untergebracht: dort gab es Matratzen, Decken und Kanonenofen.

Im Sommer veranstaltete man am andern Wolgaufer ein Pionierlager – die Kinder wohnten in großen Armeezelten. Zum Vergnügen und zur Gefechtsausbildung wurden immer wieder Kampfspiele veranstaltet. Irgendwie bemerkte man dabei, dass ein kleiner Junge sich von diesen Spielen fern hielt, so dass man ihn beschämte, indem man ihm Feigheit vorwarf. Als Antwort zeigte er halbherzig eine Tapferkeitsmedaille vor und sagte, dass er nicht mit einem Holzgewehr herumrennen wolle, wenn es aber sein müsse, so könne er sowohl die Verteidigung, als auch einen Angriff organisieren. Das berichtete man dem Militäranleiter, einem Kriegsversehrten. Der kam herbei, unterhielt sich mit dem Jungen und gebot, diesen nicht mehr zu behelligen: „Das ist einer von uns, ein Frontjunge“ – sah dabei aber sichtlich alarmiert aus. In der folgenden Nacht schlichen sich die beiden Frontkameraden auf Späherart aus dem Lager heraus, und der Junge gab sein Geheimversteck preis; bis zum Morgen versenkten sie Pistolen, Handgranaten und Munition – Dinge, mit denen der Junge wohl entweder die Verteidigung, oder aber einen Angriff organisieren wollte – im Fluss.

Am ersten September wurde die erste Schule wiedereröffnet: Die Instandsetzungsarbeiten waren erst am Morgen dieses Tages abgeschlossen, und es roch noch stark nach feuchtem Putz. Eine aus Moskau herbeigeschickte junge Lehrerin begann den Unterricht. Sie gratulierte allen feierlich zur Zerschlagung des deutsch-faschistischen Heers bei Stalingrad, zur Eröffnung der ersten Schule, zum Beginn des neuen Schuljahrs, und ging dann daran, die Namen der Schüler aufzurufen und sich nach deren Eltern zu erkundigen. Die Kinder antworteten: „Mein Vater ist im Krieg umgekommen, meine Mutter wurde nach Deutschland verschleppt … Mein Vater ist im Krieg umgekommen, meine Mutter kam bei einem Bombenangriff ums Leben … umgekommen … getötet … umgekommen …“ Die Lehrerin eilte auf den Flur hinaus, presste ihr Gesicht an den noch feuchten Putz und, nein, sie weinte nicht bloß, sondern heulte los, durchdringend und schrill. Die jungen Frauen, die dort bei der Tür standen die Wände verputzten, weinten auch. Da kamen die Schüler aus dem Klassenzimmer heraus und versuchten, sie zu trösten, und als das geschah, verfielen auch diese Frauen in ein Geheul, das so zu einer unglaublichen Stärke und Tonhöhe anschwoll. Die vollkommen entkräftete, mit Putz verschmierte Lehrerin sank zu Boden. Schließlich konnten die Kinder doch alle beruhigen, die Erwachsenen trockneten sich ihre Tränen, die Lehrerin wurde wieder saubergemacht und der Unterricht ging ungestört weiter. Das war so weit alles, was ich über Stalingrad erzählen konnte …

Wir tranken bereits Tee. An dieser Stelle erklangen dann die unbeschwerten Worte, die für die anwesenden Gäste – wohl mit Ausnahme des Ministranten – zu einem Lehrstück werden sollten. Es scheint ja, dass nach einer solchen Unterhaltung kaum leere Worte möglich waren … aber sieh mal einer an!

Der Batjuschka bot, wie immer an diesem Tag, seinen Gästen Haferkekse an – sie erinnerten ihn an irgendeine Sorte Dauerbrot aus Kriegstagen. Der strenge junge Mann sagte vorwurfsvoll:

„An Fastentagen esse ich das nicht“ – es war an einem Mittwoch oder Freitag.

„Warum?“, fragte der Hausherr zaghaft.

„Bei uns werden diese Kekse in Kartons verkauft, und auf diesen Kartons kann man lesen, dass es Eipulver unter den Zutaten gibt, und deswegen esse ich sie nicht.“

Der Batjuschka lächelte und sagte still:

„Bei uns werden sie in Tüten verkauft, und auf diesen Tüten kann man gar nichts lesen, also esse ich sie.“

Das sind sie, die simplen Worte.

Einige Tage später nahm Vater Archimandrit das große Mönchsschema an. Der Jüngling aber schloss das Priesterseminar mit Auszeichnung ab und wurde zum Priester geweiht. Er diente in der einen Gemeinde, dann in der anderen, in einer dritten, und ist inzwischen in seiner fünften oder sechsten Gemeinde: Er kam mit niemandem gut aus, belehrte ständig alle, und alles an ihm war so überaus aufs Äußerliche beschränkt …

Wir, die damaligen Gäste, bewirten uns bei Gelegenheit gern gegenseitig mit Haferkeksen und erinnern uns ein jedes Mal an die Worte, dass man „auf den Tüten gar nichts lesen kann, also esse ich sie“.


  1. „Komsomolskaja prawda“, Zeitung, erscheint seit 1925 – Verm. d. Ü.