:chartophylax:

Der weibliche Charakterzug

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Nasch Sowremennik“ (Наш Современник) Nr. 11/2014.

Autor: Jaroslaw Schipow

19. Juni 2019

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Wir verbrachten ganze Tage auf Motorbooten auf der Suche nach Fisch, und trafen uns nur zum Mittag- und Abendessen. Meist waren sie etwas zu spät, aber nur dezent, ganz, ganz wenig.

Als erster betrat das Familienoberhaupt den Speiseraum: Ein stämmiger, betagter Mann. Ihm folgte seine Ehefrau, die, ganz im Einvernehmen mit ihm, von kleinem Wuchs, rüstig und ebenso silbrig-ergraut war. Hinter ihnen kamen: der Schwager, die Tochter, die Freundin der Tochter und schließlich der Ehemann der Freundin. Alle nacheinander wünschten mir einen guten Appetit und nahmen mit angemessener Haltung Platz. Die Alten aßen, ohne die Blicke zu heben, schweigend und konzentriert. Sie gebrauchten die Gabeln und die Löffel mit einem derartig einmütigen Einvernehmen, dass sie den letzten Schluck Tee gleichzeitig nahmen. Nachdem sie sich die Lippen mit einer Serviette abgetupft hatten, erhoben sie sich, wünschten den Verbleibenden einen guten Appetit oder eine gute Nacht und begaben sich in ihre Kajüte.

Beim Schwager klingelte unentwegt das Telefon, und es begann ein höchst interessantes Gespräch über die Feinheiten der Aufführung der Klavierstücke von Hummel, Frank, Hérold, Field und noch irgendwelcher weiterer Komponisten, von denen ich noch nie zuvor auch nur das Geringste gehört hatte.

Der Schwager versuchte die richtige Nuance zu bekommen, indem er einzelne Tonsätze vorsang und diese mehrmals wiederholte. Es hatte den Anschein, als sei er Pädagoge an einer renommierten Lehranstalt. Der dritte Mann war still, schweigsam und unauffällig. Dafür aber quasselten die Freundinnen ohne Unterlass.

Aus ihren Gesprächen konnte ich schließen, dass sich die Gesellschaft, wohl mit Ausnahme des Musikers, vom Leben in irgendeiner gesperrten Stadt her kannten. Vor einigen Jahren war der Vater – ganz offensichtlich eine angesehene Person – mit seiner Familie nach Moskau umgezogen, wo seine Tochter heiratete. Die Freundin verblieb am früheren Ort, und ihr Angetrauter beschäftigte sich dort auf irgendeine Weise mit Computern. Und hier waren sie zusammengekommen, um im Wolgadelta auf einem kleinen Motorboot, das aus einem Fahrgastschiff umgebaut worden war, Urlaub zu machen: Jetzt gab es auf dem Boot nämlich Kajüten. Die frischgebackene Moskauerin war unermüdlich dabei, sich nach gemeinsamen Bekannten zu erkundigen:

„Und wie geht es Tanja Romanowa?“

„Gut. Ihr Mann macht irgendwas mit Computern, und sie haben zwei Kinder.“

„Und Mila Dewjatkina?“

„Bei der kehrt so ein betagtes Mannsbild ein …“

„Ist es ein fester Freund?“

„Kann ich dir nicht sagen. Also, die Katja Suchotskaja hat da Probleme: Mal der eine, mal der andere, und dann wieder ein dritter – alles sinnlos, sie hat einfach kein Glück. Dabei ist sie doch ein schönes Frauenzimmer …“

„Ist sie nicht fülliger geworden?“

„Noch hält sie ihre Form – Größe sechsundvierzig.“

Diese Art von Gesprächen lief ohne Ausnahme zu jeder der Mahlzeiten: „Und Ninka?.. Und Lariska?.. Und Rajka?..“.

Mitunter sahen sie sich bei den gemeinsamen Erinnerungen einem erhöhten Schwierigkeitsgrad ausgesetzt:

„Und kannst du dich an die erinnern: Bis zur siebenten Klasse war sie bei uns, und dann ist sie an eine andere Schule gewechselt? Ich habe vergessen, wie die hieß …“

„Meinst du die, welche in der ersten Klasse eine hellblaue Schleife trug?“

„Nicht hellblau, sondern türkis.“

„Na gut, türkis, so mit großen Karos, ja?.. Ljubascha Tichonowa. Dem Familiennamen des Mannes nach nun Penkowa. Sie sind inzwischen geschieden – er trank unheimlich viel. Nun zieht sie allein einen Sohnemann groß.“

Einmal ging die Ehefrau des Musikanten daran zu erzählen, wie sie nach Österreich gereist sind, um dort verschiedene bemerkenswerte Interpreten zu erleben.

„Littest du nicht unter Nostalgie?“, interessierte sich die Freundin.

Und da klinkte sich erstmals der Familienvater in das Gespräch ein:

„Nostalgie, meine Damen, ist ein männlicher Charakterzug“, sagte er, ohne seinen Blick von der Fischfrikadelle zu heben.

„Und was ist dann unserer?“, fragte die Tochter kindlich kokett.

„Eurer ist – heiraten.“

„Ist das alles?“

„Heiraten, heiraten und heiraten, ansonsten seid ihr wie herrenlose Hündchen.“

„Und Kinder kriegen?“, schaltete sich die Freundin hinzu.

„Das ist eine gute Sache, aber zuerst – heiraten.“

„Manche Frauen behaupten, dass es ihnen auch ohne Ehemänner ganz gut geht“, fuhr die Freundin fort.

„Sie lügen oder sie sind nicht gesund.“

Seine Frau reagierte in keiner Weise auf das, was vor sich ging – sie zuckte nicht einmal mit einer Braue. Nachdem sie das Abendessen gewohnt im selben Augenblick abgeschlossen hatten, wünschten sie allen eine gute Nacht und gingen, ohne die Blicke zu heben, von dannen.

Der Kapitän des Motorschiffs war mein alter Freund – ich kannte ihn schon, als er noch jung war, als er ein Tragflügelboot steuerte. Ich fragte ihn nach dieser Gesellschaft.

„Der Vater ist Akademiemitglied“, sagte der Kapitän, „im Bereich der nuklearen Wissenschaften. Der fährt schon seit vielen Jahren in diese Gegenden hier – unsere Männer kennen ihn. Sie sagen, dass er früher nur auf der Breschnew-Basis Quartier bezog und zusammen mit dem Wachmann geangelt hat, nun aber braucht niemand mehr diese Wissenschaftler.“

„Und warum“, fragte ich, „ist er denn so verschlossen, und seine Frau schweigt überhaupt vollkommen?“

„Die alte Garde – sie sind das Leben in Geheimhaltung gewohnt. Was mich betrifft, ist es eine wunderbare Gesellschaft: Sie betrinken sich nicht, machen keinen Unsinn, springen nicht vom Schiff ins Wasser … Ich habe dir doch versprochen, dass es anständige Leute sind!.. Was die Angelei angeht, das ist klar, da sind sie nicht alle … Der akademische Vater, ist klar, der ist Profi. Seine Frau angelt nicht, ist aber immer an seiner Seite: Er hat Zipperlein ohne Ende, und sie ist Ärztin und hat unablässig ein Auge auf ihn. Kaum missfällt ihr etwas, steckt sie ihm sofort irgendeine Tablette zu oder verpasst ihm eine Spritze. Und wenn es ihm gelingt, etwas zu fangen, dann freut sie sich wie ein Kind. Fünfzig Jahre zusammen, kannst du dir das vorstellen? Er macht die Weiber rund, dass es nur so raucht, aber sie – nie im Leben, er erhebt nicht einmal seine Stimme gegen sie. Das Schwiegersöhnchen ist ein passabler Angler, ist mit Begeisterung dabei, obwohl er ständig mit seinem Telefon nervt. Die Tochter kann das auch – der Vater hat sie von Kindheit an darauf angespitzt. Und das dritte Paar ist zu gar nichts zu gebrauchen. Der Mann ist einmal mitgekommen – es hat ihm nicht gefallen, und nun sitzt er ständig am Computer. Seine Frau schimpft schon: Ihr geht dieser Computer auch zu Hause schon gegen den Strich, sie möchte angeln. Willst du sie vielleicht mal mitnehmen?.. Sie haben irgendeine Spinnangel dabei – soll sie die einwerfen. Und sie kann dir den Blinker auf die Sehne fädeln – du kannst doch bestimmt nicht mehr so gut sehen. Da könntet ihr morgen in der Frühe angeln; wir würden die Boote festmachen und so fünf Kilometer flussabwärts fahren – irgendwo muss es doch Stör geben.“

Die bis zum Ende der Woche verbleibenden Tage war die Frau mit mir unterwegs. Der Fisch, den sie herausholte – ganz egal, ob’s ein kleiner oder ein großer war – versetzte sie jedes Mal in eine derartige Begeisterung, wie ich sie meinen langen Lebtag noch nicht gesehen habe. Mitunter legte ich sogar die Angelrute beiseite, denn es ist weit interessanter, den Ausbruch solch bedeutender Gefühle zu beobachten, als Rapfen und Barsche aus dem Wasser zu ziehen. Einmal ließ sie sogar, als würde sie mit sich selbst reden, folgendes fallen:

„Eigentlich hat der Alte recht: Für uns ist es das wichtigste zu heiraten, es ist fast schon einerlei, wen genau.“

Sie schwieg kurz und ergänzte:

„Ich habe schnell geheiratet und leide nun darunter: Wir sind einander vollkommen fremd. Aber zwei Kinder, so muss man sich eben bis zum Tod damit herumquälen.“

Mir schien es, dass die Ehe ihrer Freundin harmonischer wäre, und das sagte ich ihr auch.

„Ach, was sagen Sie da“, winkte sie ab. „Der Mann ist vollkommen in die klassische Musik vernarrt, und sie kann Klassik auf den Tod nicht ausstehen – gib ihr Jazz und Rock … Aber die erste Zeit ging sie mit ihm, um ihm zu gefallen, auf Konzerte, auch wenn sie das eigentlich zum Kotzen fand. Und so heirateten sie. Und zum Kotzen findet sie es immer noch, obwohl sie keine Konzerte mehr besucht.“

„Und die Eltern?“, fragte ich.

„Das ist was anderes. Ich kenne sie ja nun seit der Kindheit, und sie sind ein Leben lang ein Herz und eine Seele. Obwohl sie beide einen schwierigen Charakter haben. Es hat sich in den Menschen inzwischen etwas geändert. Ich habe das mal nachgefragt, und der Alte antwortete mir, dass es gar nicht so viel sei, das sich verändert hat. ›Früher‹, so sagte er, ›sang man: ‚In meiner kalten Erdhütte ist mir warm durch meine brennende Liebe‘, und nun singt man: ‚durch deine‘, und das ist auch schon der ganze Unterschied‹.“

Als die Angeltour vorüber war, brachte das Motorschiff uns in die urbane Realität zurück. Nach dem Check-in warteten wir auf das Boarding. Der Musiker stand am Fenster, ließ nicht von seinem Telefon und summte hin und wieder Bruchstücke von Melodien. Schöner Melodien, das heißt also, welcher aus dem neunzehnten Jahrhundert. Oder aus dem achtzehnten. Der Computerfachmann saß mit dem Notebook auf seinem Schoß und blickte angestrengt auf den Bildschirm. Die Eltern waren wie üblich beieinander und hielten ihre nachdenklichen Blicke gesenkt. Und die Freundinnen schwatzten und schwatzten, und man hörte nur: „Ist’s ein fester?.. Geschieden?.. Treffen sie sich oft?..“.