:chartophylax:

Die Unüberwindliche und Legendäre

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

16. August 2019

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 6 Minuten

Nachts schneite es, und die MG-Schützen sagten, als sie die Pilotenkanzel erklommen:

„Der Schnee ist eigens zu Ihrem Besuch gefallen: Von oben sieht man im Neuschnee jetzt nicht nur die Spuren von Menschen, sondern jede, die man will – selbst die von Hasen.“

Etwas später, bereits an Bord des Hubschraubers, redete der dürre Oberst auf mich ein – versuchte dabei, das Geheul der Turbinen zu übertönen – und meinte, er habe die Taufe bisher immer wieder verschoben, darauf gewartet, bis er „reif ist und es einsieht“, und hier auf einmal habe er verstanden, dass es damit eilt und sie unverzüglich stattfinden müsse.

Unverzüglich ging es aber nicht: Wir – das ist ein Pulk aus Militärs und Zivilen – standen im Frachtraum eines Mi-6-Transporthubschraubers und hielten uns aneinander fest, wenn das Vehikel in eine Kurve ging.

Unter uns glitt das Vorgebirge mit seinen verlassenen Stellungen dahin: Auf jeder Anhöhe sah man ein MG-Nest, zu dem Kommunikationswege führten. Etwas später sah man Batterien aus eingegrabenen Haubitzen und Selbstfahrlafetten, und schließlich wies der Oberst nach unten und brüllte:

„Urus-Martan!“

Wir landeten am Ortsrand, bei einem alten Garten. Einige der Passagiere verließen den Hubschrauber, die übrigen flogen weiter.

„Meine Frau hat mir so oft gesagt: Lass dich taufen, lass dich taufen!“, knüpfte der Oberst an das zuvor Gesagte an. „Wir haben ja auch eine Kirche in der Nachbarschaft. Ich habe das aber immer irgendwie … beispielsweise sagte sie mir: ›Du hast doch beispielsweise auch der Heimat einen Eid geleistet?.. Das Volk kleidet und nährt dich, und du erfüllst ihm gegenüber deine Soldatenpflicht. Die Taufe‹, meinte sie, ›ist ein Eid auf Treue zu Gott. Ab diesem Moment wirst du nicht einfach nur ein Krieger, sondern ein Krieger Christi sein‹ …“

„Sie haben eine weise Frau.“

„Sie ist ansonsten eine ganz gewöhnliche Frau, was aber den Glauben betrifft, ja, da weiß sie ganz genau, was Sache ist.“

Wir hatten den gleichen Weg, aber er hatte es eilig und lief voran. Ich ging am mit Panzerfahrzeugen zugeparkten Garten entlang und wurde plötzlich angerufen:

„Vater, wie hat es dich denn hierher verschlagen?“

Die Sonne war inzwischen über die Berge gestiegen und blendete mich, so dass ich die Gesichter der Soldaten, die hoch oben auf den Panzern saßen, nicht erkennen konnte.

„Es gab eine Mitfahrgelegenheit“, sagte ich, „und so hat es mich hierher verschlagen.“

Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab und ging ein wenig zur Seite, um die Männer betrachten zu können: Es waren zwei, einer vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, der andere war überhaupt noch ein Junge.

„Vater“, sagte der ältere der beiden. „Hast du vielleicht eine Minute Zeit?.. Was ich nämlich sagen wollte: Hier wird einem ziemlich schnell alles klar.“

Er knöpfte seinen Kragen auf und zeigte sein Taufkreuz, das mitsamt der Erkennungsmarke um seinen Hals hing.

Der Junge tat es ihm gleich.

„Und noch etwas, Vater“, ergänzte der Ältere und holte eine vierfach gefaltete Seite aus einem Schreibheft aus seiner Innentasche. „Das hier ist meine kugelsichere Weste.“

Er faltete das Papier auseinander: „Wer unter dem Schirm des Höchsten wohnt …“ – es war der neunzigste Psalm. Ich gab einem jeden der beiden ein Gebetsbuch, ein kleines im harten Einband.

„Genau, was wir brauchen“, sagte der Ältere. „Es passt in die Tasche und knickt dabei nicht. Aber wir haben nichts, was wir dir schenken könnten.“

„Doch, ich habe was.“ Der Jüngere griff auch in seine Innentasche und reichte mir ein Ärmelband der Luftlandetruppen.

„Das hatte ich mir eigentlich für die Entlassung aus dem Wehrdienst aufbewahrt“, sagte der Ältere achtungsvoll; „Ich wollte nach Hause kommen, wie es sich gehört: in voller Parademontur … Na, schreibe doch noch etwas drauf, zur Erinnerung für den Batjuschka …“

Als der Jüngere nun etwas mit dem Kuli auf das Ärmelband kritzelte, sagte der Ältere mir mit gedämpfter Stimme:

„Ich bin ja Fahrer und Soldat auf Zeit, er aber ist MG-Schütze und Wehrpflichtiger … mir geht es nur darum, ihn heil durchzubringen und seiner Mama zurückzubringen.“

Zur Erinnerung schrieben sie mir: „SAB“ – Selbständiges Aufklärungsbataillon – und die Nummer dieses Bataillons …

Später taufte ich in einem Zelt drei Soldaten, den Oberst, der eine weise Frau hatte, und einen weiteren Oberst, über dessen Frau – wie auch über ihn selbst – mir nichts bekannt war.

Währenddessen begann auf unserem Stellungsabschnitt geschäftiges Treiben: Die Geschütze und Raketenbatterien donnerten los, und unweit der Zelte landeten immerfort Hubschrauber, füllten ihren Munitionsvorrat auf und hoben wieder ab, um irgendwo zu bombardieren und zu beschießen …

Als wir im Verlauf der Taufe um das Taufbecken schritten – es handelte sich dabei um ein einfaches Becken, das man direkt neben einem Kanonenofen aufgestellt hatte – trat plötzlich vollkommene Stille ein: „Alle, die ihr in Christus hinein getauft wurdet, habt Christus angezogen, Halleluja“ – das Singen fiel plötzlich wunderbar leicht … ›Wie wundersam‹, dachte ich bei mir. ›Selbst die Kanonen schweigen.‹ – Das schwere MG gab zwar ab und zu eine Garbe ab, aber das diente wahrscheinlich einzig dazu, dass ich aufgrund des wundersamen Schweigens der Artillerie nicht plötzlich in Verblendung – anders gesagt: in geistlichen Selbstbetrug – verfalle.

Da flog der Hauptmann samt seiner Maschinenpistole herein:

„Müssen wir noch lange auf euch warten?“

Es hatte den Anschein, als bedürfe er dringend dieser getauften Krieger.

„Wir können für sie einspringen“, sagte einer der Taufpaten – auch er war ein Soldat.

Der Hauptmann schien erst in diesem Moment zu begreifen, was hier vor sich ging:

„Lasst gut sein, bleibt hier“, sagte er und verließ das Zelt.

Er wartete draußen vor dem Zelt auf uns und sagte: „Jetzt sind bei mir alle getauft.“ Ließ seine Leute antreten, und sie begaben sich in Richtung der Berge.

Es begann zu dämmern und damit wurde es Zeit für die Rückkehr.

Unterwegs wurde ich von einem gepanzerten Mannschaftstransporter eingeholt, der neben mir hielt.

„Batjuschka, Sie haben nicht zufällig ein kleines Kreuz dabei?“ – oben auf dem Panzer saß ein lustiger Jüngling.

„Was ist es denn, was dich so belustigt?“

„Na, wir haben einen Verwundeten ins Lazarett gebracht … er hat viel Blut verloren, seine Körpertemperatur ging schon gegen null. Der Doktor fragte ihn: ›Und, was ist mit dir?‹ – Dieser aber antwortete: ›Fasse ich mir an die Stirn, bin ich wohl eine Leiche, fühle ich aber den Puls, so scheine ich zu leben. Ich verstehe gar nichts mehr.‹ Wir haben fast die Trage fallen lassen …„

„Hat der Verwundete nun überlebt?“

„Klar, was soll ihm schon passieren? Da, schau, kommt eine ›Kuh‹ geflogen – also ein Mi-6. Wollten Sie da mitfliegen?“

Ich nickte und überreichte ihm eine kleine Tüte mit geweihten Taufkreuzen.

„Verteile die an die Jungs, die welche brauchen …“

„Dafür sehr großen Dank, Sie aber sollten sich beeilen, denn die Piloten mögen es nicht, des Nachts zu fliegen … Welchen Eindruck haben Sie überhaupt von hier?“

„Ach, ich habe seit meiner Kindheit und für mein ganzes Leben nur den einen Eindruck: die ›Unüberwindliche und Legendäre‹1…“

„Jaaa …“, machte der Lustige lang und nachdenklich. „Überwinden kann man uns vermutlich nicht … Aber verraten, das ginge …“

Der Hubschrauber flog ohne Innenbeleuchtung, ohne Bordlichter, und verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht.


  1. Titel eines Lieds über die Rote Armee, Text O. Kolytschew, Musik A. Aleksandrow; 1943. – Verm. d. Ü.