:chartophylax:

Das Bächlein

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

20. September 2019

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 5 Minuten

In früherer Jugend war Vater Timofej als Drucker tätig: Gedruckt hat er die großen Tageszeitungen des Landes. Eines Tages wurde oben, unter der Decke der Rotationsdruckhalle, ein neues Transparent angebracht: „Wir erhöhen unsere Produktion um 3 Prozent!“. Und zwar zu Ehren des Jahrestages der Sozialistischen Revolution. Timofej erkundigte sich beim Werksleiter, wie man denn die Produktion um drei Prozent erhöhen könne, wo doch die Auflage der Zeitung streng limitiert sei und eine jegliche Papierverschwendung zu Disziplinarstrafen und Lohnabzug führte. Der Werksleiter winkte nur ab: Lass mich damit in Ruhe, meinte er.

Eine Woche später kam eine neue Losung hinzu: „Erhöhung um 4 Prozent!“, und das aus Anlass entweder eines Parteitages oder eines Gewerkschaftskongresses. Timofej fragte wieder nach, und wieder bekam er die gleiche Abfuhr.

Der dritte Aufruf, der im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Verbandes der Jugend erschien, führte bei dem jungen Mann endgültig zu Befremdung: Es kamen nämlich noch weitere drei Prozent hinzu, und in Summe ging es jetzt um ganze zehn Prozent. Er war ganz durcheinander: Wohin sollte man die Tonnen an überzähligen Zeitungen entsorgen?

Ihm wurde erklärt, dass es nichts zu entsorgen geben würde, keine einzige überzählige Zeitung würde gedruckt werden, aber es gelte, die „Anregungen von Oben“ zu unterstützen: Kaum versieht man sich’s, gewinnt man damit im „sozialistischen Wettbewerb“ und bekommt einen Wimpel als Auszeichnung. Reine Heuchelei und Pharisäertum also. Was, nach Meinung von Vater Timofej, mit der Zeit auch zum Zerfall des sozialistischen Vaterlandes geführt hat. Der junge Drucker allerdings wollte die damals allgemein gängige Politesse nicht begreifen.

Später, als er bereits am Priesterseminar studierte, machte er sich mit der Lebensbeschreibung des Rostower Metropoliten Arsenij bekannt; dieser war aufgrund seiner wagemutigen Auftritte gegenüber der Zarin Jekaterina bekannt, welche die Klöster des Landes ausplünderte. Er mochte diesen ungewöhnlichen Vladyka sofort. Nebenbei bemerkt fand sich für Timofej auch eine solche Jekaterina – Katka – und sie war die Komsomol-Sekretärin der Druckerei, und sie berief eines Tages eine Versammlung ein.

Katka, die Schriftsetzerin, hatte vor, Parteimitglied zu werden. Dafür hatte sie alle Voraussetzungen: Sie war eine Frau, war aus der Arbeiterklasse, war Mitglied im Komsomol – insofern war das der direkte Weg in die Partei, ohne, dass sich dabei irgendwelche Schwierigkeiten abzeichneten. Aber sie strebte nach etwas Erhabenem, nach etwas Großem, sie wollte Errungenschaften ideologischer Art erzielen. Also nahm sie sich Timofej vor. Er sei ja ein anständiger Mensch gewesen – hatte einen Tourismus-Club organisiert, Jugendliche auf Wanderungen geführt, ein Musikorchester geleitet, welches alle möglichen Festivitäten begleitete, und spielte dazu selbst noch leidlich gut Akkordeon, besonders Lieder aus Kriegszeiten – und auf einmal übt er an alledem Verrat. Sie bezichtigte ihn, stellte ihn von ihrer Tribüne herab bloß, und all ihr Reden hatte ganz großen Stil: Die ganze Zeit ging es um Moral und Ideale; er aber saß in einer der Reihen im Publikum und hörte sich all das an. Dann rief sie ihn direkt dazu auf, sich zu erheben, und fragte laut:

„Bist du denn allen Ernstes gegen die Linie des Zentralkomitees unserer Organisation?“

Der Jüngling zuckte mit den Schultern:

„Aber was soll ich machen, wo doch diese Linie der reinste Unsinn ist?“

„Das reicht, gib sofort deinen Komsomol-Mitgliedsausweis ab!“

Diesen Mitgliedsausweis hatte Timofej nicht bei sich, also schwieg er und wusste nicht, was nun zu tun sei.

„Gib ihn sofort ab!“, kreischte Katka noch einmal, und ihre Augen glänzten siegesgewiss.

Auf einmal ertönte es inmitten der eingetretenen Stille aus den Tiefen des Saals:

„Warst du es etwa, die ihm diesen Mitgliedsausweis besorgt hat?“

Alle Anwesenden wandten sich um: An der Eingangstür stand eine Gruppe verschmierter Druckereiarbeiter, die das Alter von Komsomolzen augenscheinlich längst hinter sich gelassen hatten. Die Versammlung war öffentlich, und sie waren dazugekommen, um ihrem Kameraden Rückendeckung zu geben. Die einzige Frau in dieser Truppe war es auch, die der Komsomol-Sekretärin so Paroli geboten hatte.

Katka hielt dagegen und fragte: „Wieso fragst du, hast du ihm den etwa besorgt?“

Das war ihrerseits sehr unvorsichtig: wie bekannt sein dürfte, ist die russische Sprache unendlich freigebig, was Doppeldeutigkeiten anbelangt.

Die Druckereiarbeiterin konterte nämlich wieder: „Und du? Ihm besorgt?“

Der Saal wurde regelrecht erschüttert. Das war kein Gelächter mehr, das war ein Geheul. Sooft und sobald die Menge zur Ruhe kam, hielt es jemand in der einen oder anderen Ecke nicht aus, und man hörte immer und immer wieder wörtliche Zitate der Fragen und Gegenfragen der beiden Druckereiarbeiterinnen, so dass der Saal darüber wieder von einem Tosen erfasst wurde. Timofej stand mittendrin, drehte sich mal zu der einen, mal zu der anderen um, und wartete geduldig ab, wie die Sache ausgehen würde. Die Leute, die inzwischen vor Lachen all ihre Tränen vergossen hatten, gingen bald auseinander.

Mit Katka ist wohl genau das passiert, was einem Heerführer widerfährt, der seine Krieger zum letzten Gefecht ruft, den Säbel in Richtung des Feindes schwingend auf weißem Pferd voranreitet und urplötzlich plump in den Dreck fällt.

Und obwohl die Versammlung in eine eitle Belustigung ausgeartet war, vermerkte man im Protokoll eine „einhellige Verurteilung“, und die Angelegenheit wurde dem Kreiskomitee überantwortet.

Wenige Tage später allerdings – es war gerade, als Timofej Schicht hatte – erschien auf den Titelseiten aller Zeitungen die Meldung, dass der Vorsitzende genau dieses Zentralkomitees, mit dessen Linie Timofej nicht einverstanden war, seines Amtes enthoben wurde. Die Drucker klopften ihm auf die Schultern, Katka versuchte sich einzukratzen und flüsterte: „Ich wusste ja nicht, dass du da oben deine Leute hast und das schon vorab wusstest; hättest mich ruhig vorwarnen können, dass ich mich nicht so blamiere.“ Aber Timofej hatte gar keine Beziehungen „nach oben“. Überhaupt wurde er in einem Kinderheim großgezogen …

Der Verlagsdirektor lud Timofej in sein Kabinett ein; gerade war der Freund des Direktors, ein Kosmonaut, zu Besuch. Diesem berichtete er über Timofejs Prinzipientreue, und der Kosmonaut – schon ein wenig durch Cognac vorgewärmt – hieß das gut:

„Genau solche Leute braucht es in der Partei – sie sind wie klare Bächlein, die sich in einen trüben Strom ergießen. Ich wäre auf der Stelle bereit, ihm eine Empfehlung zu geben.“

„Ein schwächliches Rinnsal wäre ich“, seufzte Timofej. Er bat darum, gehen zu dürfen – seine Arbeit wartete.

„Auf deine Gesundheit!“, sagte der Kosmonaut und hob sein Glas.

Seit diesen Zeiten suchte Timofej unentwegt und beharrlich, dem Wesen des Seins näherzukommen, um ganz ohne Falsch leben zu können.

So ist er schließlich auch zu Vater Timofej geworden.