:chartophylax:

Ein wenig Krim für den Tschuktschen

Eine Reportage über das nicht ausgebaute Russland.

Autor: Marina Achmedowa

23. September 2019

 Russland 
Lesezeit: ca. 35 Minuten

„Das können Sie da in Ihrem Moskau mal ausrichten – sie sollen Gesetze verabschieden, nach denen nicht nur Moskau leben kann”, sagt der Tierarzt Arkadij Makuschkin, eine der Hauptfiguren dieser Reportage aus den Dörfern rund um Anadyr, Russlands östlichstem Ort. Von hier aus hat man nur einen trüben Blick auf das Land, aber in gewisser Hinsicht ist er klarer als aus den Hauptstädten. Das Negative ist die Heuchelei der Quoten, die Idiotie der Gesetze, der mörderische Wodka und die Hochmütigkeit der Vorgesetzten. Das Positive ist der russische Gott, die russische Krim, die Direktheit der Mannsbilder und zumindest ein Hauch von Zivilisation. Eine Reportage über das nicht ausgebaute Russland.

»Ein wenig Krim für den Tschuktschen« ist eine Reportage von Marina Achmedowa und wurde am 23.09.2019 in der russischen Zeitschrift »Русский репортер« Nr. 17-18 (483) veröffentlicht. Fotos: Marina Achmedowa


Der russische Vorgesetzte

„Ich will auch auf die Krim”, sagt Jurez, der am Ufer sitzt und die Sohlen seiner Gummistiefel dem kalten Wasser der Bucht zugewandt hat. „Serafima, nimm mich mit auf die Krim!”

Die stämmige russische Frau, mit dem Gesicht dem Meer und dem Wind zugewandt, wirft ihre langen Haare zurück. Vom Ufer verläuft, im rechten Winkel ins Meer hinein, eine straff gespannte Leine, welche das Netz hält. Die fast wie eine Hauskatze großen Möwen kommen ganz nah an die Menschen und an das auf dem kalten Ufergeröll liegende, schwarze Schlauchboot heran.

„Die Krim ist doch jetzt russisch, Serafima” – Jurez schaut die Frau ergeben an.

„Warum auch nicht?”, bricht sie ihr Schweigen. „Warum soll ich nicht losmachen? Im kommenden Jahr mache ich los und fahre. Aber so viel Fisch hast du noch nicht gefangen, Jurez.”

Die Frau kehrt vom Wasser ab und geht den steilen Pfad zu einem Balok aus Holz hinauf. Das Geröllufer endet in einer hügeligen Anhöhe, die mit hartem, langsam gelb werdenden Gras bewachsen ist. Auf dieser Anhöhe stehen in Reihe Baloks, die aus den erstbesten Materialien zusammengezimmert sind – aus rostigen Blechen, Sperrholz, Plastik. Hinter ihnen beginnt Anadyr, die Hauptstadt von Tschukotka.

Ungefähr zwanzig Meter von Jurez entfernt steht eine Frau in einem Anzug aus Gummi knietief im Wasser. Mit einer Hand hebt sie einen Strick hoch, der parallel zu Jurez’ Strick verläuft, holt so das Netz nach oben und greift mit der anderen nach einem zappelnden, silbrigen Fisch ins Wasser. Der Hundslachs schlägt mit der Schwanzflosse auf die Wasseroberfläche, so dass sich eine Vielzahl von ideal linierten Kreiswellen auf dem milchig-hellblauen Wasser ausbreiten, deren größte fast bis an den Strick von Jurez heranrollt. Die Frau hält den Fisch am Schwanz fest und befreit seine Flossen aus dem Netz. Senkt ihn ins Wasser, damit er nicht zappelt. Im Wasser beruhigt sich der Fisch, und nachdem die Frau ihn aus dem Netz befreit hat, trägt sie ihn aus dem Wasser heraus, und er, der Fisch, spreizt seine Kiemen, lässt seine Augen aus den Höhlen quellen und sperrt seinen Rachen auf.

Jurez lässt seine Hand sinken und berührt das Geröll – es ist immer kalt, vom Wasser des Golfs von Anadyr gekühlt, in dem sich das Wasser der Beringsee mit den Wassern des Stillen Ozeans vermischt.

„Jurez!“, ruft eine Männerstimme aus der Richtung, in der gerade Serafima den Hang hinaufgestiegen ist.

Jurez dreht seinen Kopf, das Gesicht mit den ausgeprägten Backenknochen und den Schlitzaugen erblickt den Sprecher.

„Nix?“, fragt der Mann.

„Nix, Matwej!“, antwortet Jurez.

„Unser Netz steht so!“ – Matwej schneidet mit der Handkante die Luft. „Man müsste es aber so aufbauen!“ – er schneidet die Luft mit einer Bewegung, die sich durch nichts von der vorangehenden unterscheidet.

„Muss mal Gewichte dranmachen!“, ruft Jurez.

„Wo ist Lera?“, fragt Matwej.

„Woher soll ich wissen, wo Lera ist!“, antwortet Jurez mit seinem genervten Bass.

Er erhebt sich und schleppt das schwarze Schlauchboot in Richtung Wasser. An seinem Saum hat es eine schmutziggraue Färbung, aber zum Horizont hin, hinter dem sich nebelige Hügel erheben, bekommt es einen silbernen Ton, wie die Schuppen eines von Frauenhand gefangenen Fischs.

„Auf der Krim ist das Wasser warm“, sagt Jurez, als er schwerfällig in das Boot klettert. „Auf der Krim kann man baden. Hier kann man nicht baden. Serafima hat mir versprochen zu zeigen, wie man im Schwarzen Meer Krebse fängt. Nach Moskau will ich nicht. Ich will auf die russische Krim.“

Nachdem er bis ungefähr in die Mitte der Meerenge gepaddelt ist, hebt Jurez das Netz mit fünf Fingern aus dem Wasser. Er beugt sich zur Wasseroberfläche, so dass das Boot Schlagseite bekommt. Das Netz durchrieselt Jurez’ Finger und zieht sich in Kaskaden von Maschen in das vor Sonnenuntergang glänzende Wasser. Das Netz ist leer.

„Verdammt“, sagt Jurez und richtet sein vom Trinken aufgedunsenes Gesicht gen Himmel.

Frau fängt Ketalachs

Der russische Gott

Wie eine Luftspiegelung aus sich über dem Wasser verdichtenden Schatten erscheint ein weißes Schlauchboot, in dem außer einem Mann noch ein kleines Kind in grell rosafarbener Jacke sitzt. Eine Frau in Jeans und schwarzer Jacke nimmt das Kind vom Ufer aus entgegen, schafft es zu den schwarzen Felsblöcken und lässt sich dort auf einer alten Untersuchungsliege nieder, die sich mit ihren rostigen Füßen in den Kies eingegraben hat.

„Der Hundslachs hätte noch vier Tage lang herumziehen müssen“, sagt die tschuktschische Frau, deren Name Ada ist. „Aber er zieht nicht. Man sagt, der Buckellachs ist losgezogen und hat den Weg hierher versperrt, deshalb kann der Hundslachs nicht bis zu uns gelangen. Mein Mann kann Fisch wirklich schmackhaft zubereiten, und Kaviar essen wir an Feiertagen. Wir fangen den Fisch nach Quote. Mein Mann hat eine Quote – er ist Tschuktsche. Ich nehme mir auch meine Quote, auch ich bin Tschuktsche. Aber in diesem Jahr haben wir nur eine kleine Quote bekommen – meine beiden älteren Söhne haben sie mitgezählt, aber Violetta nicht.“ – Sie lässt das Mädchen in der rosafarbenen Jacke auf ihrem Schoß sanft hüpfen. „Sie ist erst ein Jahr und sieben Monate alt. Vielleicht haben sie sie deswegen nicht mitgezählt? Ich bin ja selbst aus Janrakynnot, da ist es schöner als in Anadyr, und der Fisch lässt sich auch besser fangen. Da gibt es Büsche und Flüsschen, ich mag die Natur dort, da gibt es auch Pilze, Hasen und Rebhühner.“

Am Ufer flackern hie und da die orangefarbenen Lichter der Fischerlagerfeuer auf. Mischlingshunde laufen herum, die Möwen sind in Bewegung.

„Mir gefällt übrigens euer Gott besser“, sagt Ada, während sie in die dunkler werdende Ferne über das Meer schaut. „Meine Eltern glauben jetzt auch an euren Gott. Früher glaubten sie an unsere Geister. Sie baten mich, die Geister zu füttern. Ich ging dann immer hinter den Ofen – da lebte ein Geist – sprach einige Worte auf Tschuktschisch; ich kann mich heute noch an diese Worte erinnern, aber ich möchte sie nicht wiederholen. Hinter dem Ofen lag ein Stein, die Mutter und die Großmutter kochten Fisch, wir setzten uns zu Tisch, die Großmutter nahm ein paar Krümel von allem und sandte mich hinter den Ofen zu diesem Stein, damit ich dort den Geist füttere, so dass wir immer Fisch im Haus haben würden. Aber nun glaube ich an euren Gott, er heißt Jesus Christus.“

„Denn ich habe die Geister gesehen und weiß, dass es sie gibt. Sie sind furchteinflößend, solche zeigt man nicht einmal in den Horrorfilmen. Der Geist schaute mich die ganze Zeit von hinter dem Ofen hervor an, und auch ich schaute ihn an, besonders des nachts. Ich weckte dann immer meinen Bruder und fragte ihn: ›Siehst du ihn auch?‹ Und er antwortete: ›Ja, ich sehe ihn. Beachte ihn nicht, schlafe. Das sind unsere Geister, sie beschützen uns‹. Ich aber dachte: ›Wie kann er mich beschützen, wo er mich doch mit solch einer Bosheit anschaut? Er muss doch Gutes bringen, wenn er gut ist. Aber er bringt nichts als das Böse‹.“

„Die Eltern tranken viel, Oma und Opa tranken auch. Ich fürchtete mich, und es war mir unangenehm. Da dachte ich – wenn unsere Geister böse sind, dann müsste es ja auch irgendwo einen guten Geist geben. Dann kamen Missionare in unser Dorf, sie erzählten uns von eurem Gott, und ich habe sofort an ihn geglaubt. Aber die Großmutter weckte mich trotzdem immer weiter um sechs Uhr morgens und sagte mir, ich solle den Ufergeist füttern gehen, damit wir Fisch haben. Ich weinte, denn wenn ich sie fütterte, sah ich sie überall – in den Jarangen sah ich sie, hinter dem Ofen sah ich sie, und wenn die Rentiere geschlachtet wurden und man mit ihrem Fleisch die Geister fütterte, sah ich sie wieder.“

Ada und ihre Tochter Violetta

„Doch wenn die Rentiere geschlachtet worden sind, beginnen die Menschen zu trinken. Die Feste begannen schön, endeten aber unschön. Ich sah die Geister in den Gesichtern der Leute, wenn diese betrunken geworden waren, – das waren schon nicht mehr sie, sie veränderten sich, und in ihren Gesichtern und in ihren Taten traten die Geister hervor. Ich wurde gekränkt, ich hatte Angst. Mama und Papa tranken. Oma und Opa tranken. Und wäre da nicht der russische Gott gewesen, würde es mich jetzt vielleicht gar nicht mehr geben. Mit sechzehn war ich selbst das erste Mal sehr betrunken. Erst zwang man mich zu trinken, dann wollte ich es selbst. Jetzt trinke ich selten, denn ich habe Kinder.“

„Ich habe zu eurem Gott gebetet, dass er mir Kinder gebe, und dann wurde mir Artjomka geboren. Ich sagte: ›Gott, wenn es dein Wille ist, dann schenke mir ein Kind‹. Später betete ich wieder – ich sagte dieselben Worte, und mir wurde Wanka geboren. Und danach betete ich wieder und sprach: ›Gott, wenn es dein Wille ist, dann gib mir ein Töchterchen‹. Aber Gott hat mir lange Zeit kein Töchterchen geschenkt. Und dann begann mein Mann auch zu beten – er ging in die Kirche und sagte: ›Gott, ach, wolltest du uns doch bald ein Töchterchen geben‹.“

„Ich wurde schwanger, und da sagte mein Mann: ›Ei, Gott, lass es ein Töchterchen sein. Ich habe ja schon zwei Söhnchen‹. Dann wurde uns ein Töchterchen geboren. Mein Mann fischt wieder, eine andere Arbeit gibt es ja nicht. Er bittet Gott nicht um Arbeit, denn der hat uns ja schon ein Töchterchen geschenkt, nun ist’s genug gebeten... Ei, Töchterchen, schau doch, was für eine Schönheit hier geflogen kommt“ – Ada zeigt auf eine Möwe, die die beiden mit einem Auge anstarrt. „Nun beten meine Kinder auch zu eurem Gott, wenn ihnen eine Leistungskontrolle bevorsteht und sie sich Sorgen machen, dass sie das nicht schaffen. Sie beten, und euer Gott regelt das alles.“

„Nur Fisch gibt er uns heute nicht. Und gestern hat er keinen gegeben. Ohne Fisch können wir ja nicht leben. Jetzt im Herbst können wir uns Gemüse erlauben, solange der Schiffsverkehr noch preiswert ist. Aber im Winter geht das nicht. Im Winter kaufen wir einmal im Monat Äpfel, damit die Kinder welche essen können. Tomaten können wir nicht kaufen. Möhren nehmen wir, und Zwiebeln. Wenn es aber keine Arbeit gibt, dann nehmen wir auch keine Möhren und keine Zwiebeln.“

Nachdem sie mir, der Unbekannten, fast alles über sich erzählt hatte, erhebt sich Ada von der alten Untersuchungsliege und geht zu ihrem Mann, der gerade eben das Netz abgebaut hat.

Baloks an der tschuktschischen Küste

Das russische Kinderheim

Der Morgen bricht über Anadyr herein. In der Zeit, als Roman Abramowitsch hier Gouverneur war, wurden die Häuser in verschiedenen Farben angestrichen, damit die Bewohner der Stadt nicht aufgrund der winterlichen Farblosigkeit und der langen Schneestürme in Depression verfallen. In Anadyr gibt es keine Bäume. Die Fläche der Stadt beträgt zwanzig Quadratkilometer; von einem Ende zum anderen braucht man zu Fuß nur zwanzig Minuten. In der Stadt leben fünfzehntausend Menschen, und die gehen jetzt ohne Eile auf die Arbeit. Die Läden öffnen. Im Supermarkt in der Nähe der Stadtverwaltung kann man ein halbes Kilo roten Kaviar für anderthalbtausend Rubel kaufen, Bananen kosten siebenhundert Rubel, Gurken sechshundertfünfundachtzig. Im Winter, wenn die Schifffahrt ruht, kosten sie noch mehr, und der Preis für einen Kopf Weißkohl steigt bis auf achthundert Rubel.

Jurez, ein Bein übers andere geschlagen, sitzt auf einer Bank neben einem Balok. Matwej kommt aus dem Balok heraus.

„Wo ist Lera?“, fragt er.

„Woher soll ich wissen, wo Lera ist!“, antwortet Jurez.

„Du bist es doch, der sie vertrieben hat, Jurez!“ – aus dem Balok heraus dringt Serafimas Stimme. „Du warst es doch selbst, der sie zum Arbeiten hergebracht hat. Du selbst hast sie doch so gelobt. Wozu hast du sie denn dann hergebracht?“

„Ich dachte, sie wäre gut!“, antwortet Jurez zornig. „Als sie am Ufer hin und her ging, Arbeit suchte, dachte ich, dass sie arbeiten wird. Nun aber baue ich das Netz auf, ich bin es, der das Geschirr wäscht, alles mache ich! Und Lera sitzt einfach nur herum!“

„Du, Jurez, hast sie angeschrien, da bekam sie es mit der Angst zu tun und ist fortgegangen“, fährt Serafima fort. „Nun wirst du allein die Arbeit von Zweien machen.“

„Aber wozu hat sie denn dem Fisch die Augen ausgesaugt?“, brummt Jurez. „Wie viele Weibchen haben wir denn gefangen, konnte sie nicht denen die Augen aussaugen? Warum hat sie die bei den Fischköpfen ausgesaugt, die Matwej bei den Männchen abgeschnitten und sie gewaschen hat, um sie einzupökeln?“

„Ich hatte sie auch extra fein säuberlich geschnitten“, wirft Matwej gekränkt ein. „So große Männchen waren das. Dachte mir, die pökele ich ein und nehme die im Winter für den Salat – das wäre herrlich geworden.“

„Und ich sehe, wie sie so mit dem Finger durch die Kiemen die Augen rauszieht. Ich sage ihr: ›He, was machst du?!‹ Und da sagt sie: ›Ich will die Augen!‹ Und ich: ›Ach, du...‹“ – Jurez schwingt seine schwere Hand, als würde er etwas auf die imaginäre Lera werfen wollen.

„Jurez, du hast dir ja schon am Morgen einen zur Brust genommen! Pass auf, wenn du säufst statt zu arbeiten, dann nehme ich dich nicht mit auf die Krim. Wir fahren mit Matwej im Frühjahr zu Verwandten, und dich nehmen wir nicht mit“, sagt Serafima.

„Aber ich werde arbeiten!“, antwortet Jurez. „Ich verdiene mir das Geld, lege es aufs Sparbuch und werde mit dir und Matwej auf die Krim fahren.“

Am Ufer flackern hie und da die orangefarbenen Lichter der Fischerlagerfeuer auf.

Er zieht sich das Gummi-Overall und die Gummistiefel über und begibt sich den abschüssigen Pfad hinab zum Boot. Stößt das Boot vom Ufer ab, springt hinein und paddelt an der Schnur entlang. Greift ins Wasser, hebt das Netz heraus – es ist leer.

„Die Fische sind auch schlau“, sagt Jurez. „Sie wissen, wohin sie zum Laichen gehen müssen. Können sich selbst aus den Netzen befreien, wenn ich sie herausziehe. Schon fünf Tage lang hole ich keinen Fisch heraus. Ich will auf die Krim. Serafima ist in Simferopol geboren. Sie sagte, dort sei die Luft warm, wie bei uns im Balok, und das Wasser des Meeres ist heiß wie bei uns aus dem Wasserhahn. Matwej sagt, wenn man ein Netz dort aufbaut, dann hat man auch Fisch. Und ich habe das Netz am Morgen aufgebaut – kein Fisch da. Andere Menschen holen ihren Fisch aus den Netzen, und ich habe seit fünf Tagen keinen Fisch. Ich bin da aber nicht knausrig: Heute haben sie welchen, und morgen ich...“

„Die Geister bitte ich nicht darum, dass ich Fisch bekomme – das alles hängt vom Menschen ab. Ich glaube nicht an die Geister. Die Tschuktschen, die glauben an Geister. Die Tschuktschen essen die Augen der Fische. Ich bin ein Tschuktsche, und ich esse keine Augen und glaube nicht an die Geister. An Gott glaube ich auch nicht. Ich bin Waise. Meine Mutter brachte mich an einem Flussufer zur Welt und starb. Wir waren in der Tundra. Meine Tante leistete Geburtshilfe. Wo der Vater ist, das weiß ich nicht. Die Tante hat mich großgezogen. Ich habe den Braunbären gesehen und ich habe den Eisbären gesehen. Ich sage dir ehrlich, ich habe den Vielfraß gesehen, den Lux gesehen, den Hermelin, so einen kleinen, gesehen. Ich sage dir ehrlich, in unserem Dorf ist doch die Tschuktschensee, und ich habe gesehen, wie ein Eisbär auf einer Eisscholle paddelt. Paddelt so ganz normal, taucht sogar. Er paddelt mit der Tatze, holt sich Rotlachs heraus. Er ist bei uns der Herr im Haus. Je nachdem, was für einen Menschen er angreift. Wenn der Mensch ein Feigling ist, dann fällt der Bär über ihn her. Wenn der Mensch kein Feigling ist, dann greift er ihn nicht an. Wenn der Bär einen mutigen Menschen sieht, dann geht er gleich weg, aufs Meer. Wenn ich einen Bären sehe, dann gehe ich gleich auf ihn zu mit dem Speer. Sein Fell ist nicht dick, man kann es durchstechen.“

„Der Vielfraß aber, der ist pfiffig. Wenn er dir hinterherkommt, dann bleibe nicht stehen, hörst du? Wenn du anhältst und umfällst, dann wirst du schon nicht mehr aufstehen. Du bist doch kein Dummerchen? Höre auf mich! Mit dem Stock kannst du ihn nicht erstechen, denn du wirst ermattet sein. Und umfallen wirst du, weil du ermattet bist, du wirst nicht einmal deinen Arm heben können. Der Vielfraß wird erst etwas abseits hinter dir her gehen.“

„Er ist wie der Braunbär, nur klein. Den Vielfraß kann man nicht essen, er ist ein Aasfresser. Er frisst den Menschen – erst die Fersen, dann den Bauch, dann den Kopf. Schau doch: Wenn der Mensch viel läuft, dann schwitzen ihm die Fersen. Dann schwitzt der Bauch, dann der Kopf. Sie stinken, und der Vielfraß frisst sie zuerst wegen des Geruchs. Wenn du also durch die Tundra gehst, bleibe ja nicht stehen. Hörst du?“

„Weißt du, wo ich außer auf Tschukotka gewesen bin? In Magadan war ich. Da, wenn man von der Stadt Magadan aus links fährt, ist in ungefähr siebzig Kilometern eine Strafkolonie – eine für Männer und eine für Frauen. Da habe ich vier Jahre gesessen. Dafür, dass ich mich für eine Frau eingesetzt habe. Ich kam gerade erst aus der Armee zurück – ich habe in Abchasien gedient. Da sehe ich, wie ein Mannsbild eine Frau an den Haaren zerrt... Woher sollte ich denn wissen, dass das seine Ehefrau ist? Sie hat dann Anzeige gegen mich erstattet und geschrieben, dass ich ihm die Finger und die Hände gebrochen habe. Dann saß ich noch in Komsomolsk-am-Amur – da ist die achte Strafkolonie, da in der Nähe bauen sie Flugzeuge. Wir haben einfach in Gesellschaft getrunken, und da habe ich einfach einen Mann und eine Frau mit einer Pfanne auf den Kopf geschlagen. Keine Angst, ich schlage dich nicht mit dem Paddel... Ich bin ein friedlicher Mensch.“

„Hörst du? Sei tapfer – bleib nicht stehen und fürchte dich nicht. Warst du eigentlich auf der Krim? Übrigens arbeite ich gerade für Matwej. Der hat mich angeheuert. Er bezahlt mich für die Arbeit in Wodka. Seine Frau Serafima gibt mir ab und an Geld, das lege und lege ich mir aufs Sparbuch. Ich spare für die Krim. Weißt du, wo ich noch gern hin wollte? Als ich Kind war, wollte ich nur zur Tante. Als ich fünf Jahre alt war, hat man mich von meiner Tante fortgenommen und ins Kinderheim gesteckt. Egal, ob man Tante oder Onkel hatte – Tschuktschenkinder wurden immer mitgenommen. Ich bin aus dem Kinderheim fortgelaufen und ging zu Fuß. Bin stehen geblieben. Bin nicht ans Ziel gekommen. Nun möchte ich auf die Krim.“

„Nix?!“, ruft Matwej, als das Boot am Ufer anlegt.

„Nix!“, antwortet Jurez.

Der tschuktschische Tod

Das Motorboot kommt aus der Bucht heraus. Zieht langsam an den Hafenkränen vorüber. Matwej hält das Steuer, steuert das Boot weiter nach rechts – in Richtung des Flusses Anadyr. Auf der Bank sitzt die schläfrige Serafima und hält einen leeren Mayonnaiseeimer an ihren Bauch gedrückt.

„Matwej, was sollen wir tun, wenn sie heute wieder, wenn wir zurück sind, im Hausaufgang herumliegt?“, gähnt Serafima.

„Weiß ich nicht“, sagt Matwej und wendet sich vom Steuer ab.

„Vorgestern, als wir den Hausaufgang betraten, da lag da so eine Mestizin herum, nackt“, sagt Serafima. „Also, man sah schon, dass sie eine halbe Tschuktschin ist – sie hat mehr oder weniger große Augen. Um die dreißig. Irgendwer rief sie wohl zu sich, dann hat man sie trunken gemacht und sie fortgeworfen. Herrje, diese Mannsbilder – Hurenböcke sind das“, sagt sie, und Matwej ignoriert ihre Worte. „Gestern, als wir aus dem Balok zurückkehrten, da lag sie immer noch, betrunken. Hat den ganzen Hausaufgang vollgepisst. Dabei dürften sie, die Tschuktschen, überhaupt nicht trinken. Sie haben keine Immunität gegen den Alkohol! Aber trotzdem trinken alle.“

Kantschalan

„Das Volk der Tschuktschen ist ein nordisches“, sagt Matwej. „Sie hatten nie Alkohol.“

„Bis wir ihnen welchen brachten“, wirft Serafima ein.

„Nicht wir, sondern die Amerikaner“, korrigiert Matwej sie. „Tschuktschen dürfen überhaupt nicht trinken.“

„Aber sie alle trinken.“

„Ja, alle“, bestätigt Matwej. „Na, also siebzig Prozent trinken mit Sicherheit. Die Frauen trinken noch viel öfter als die Männer.“

„Erinnerst du dich an Lena?“, fragt Serafima. „Wir hatten sie auch am Ufer aufgelesen, wie Jurez. Sie war auch obdachlos. Wir brachten sie nach Hause, badeten sie. Ich habe sie schlafen gelegt. Und hörte dann die ganze Nacht – scharr, scharr. In der Zeit hatten wir mit Matwej Maische angesetzt. Und die hat sie in der Nacht komplett ausgeschlürft! Und fragt noch: ›Was sind denn das da für Beeren?‹ Matwej hatte nämlich Rosinen mit reingetan.“

„Man muss einfach eine Weile hier leben, um zu sehen, wie sehr auf Tschukotka getrunken wird“, sagt Serafima. „In Kantschala trinken sie auch. Schrecklich trinken sie da.“

„Die Tschuktschen sterben aus“, sagt Matwej. „Also, wir Russen saufen und haben aber ein Gespür für Maß – wenn man nicht mehr trinken kann. Aber die Tschuktschen spüren das nicht. Wenn Jurez trinkt, dann läuft er ein paar Tage lang betrunken herum. In Kantschala trinken um die fünfzig Prozent. Ich bin ja immer bei den Brigaden der Rentierzüchter in der Tundra unterwegs. In deren Siedlungen geht das so: Die eine Hälfte legt sich ins Zeug und trinkt ein halbes Jahr nicht, sondern arbeitet in der Brigade. Die andere Hälfte säuft. Nach einem halben Jahr verliert das Präparat seine Wirkung, dann beginnt die erste Hälfte mit dem Saufen, und die andere Hälfte kniet sich rein und arbeitet. Die Russen trinken auch, aber verfallen nicht dem Suff. Und die Tschuktschen wird es bald nicht mehr geben. Ach was, Marina, schau mich doch nicht so an... Das ist die Wahrheit. Das – ist die Wahrheit.“

„Das ist die Wahrheit“, wiederholt Serafima.

Das Boot rast auf seinen Gummikissen über den Anadyr, immer nahe am Ufer entlang, das fein säuberlich mit blankem, trockenen grauen Geröll gesäumt ist. Das andere Ufer kann man nicht sehen – der Fluss ist hier acht Kilometer breit und es scheint, dass das »Kissen« über die Glätte eines uferlosen Sees gleitet. Ein Sonnenstrahl sticht wie ein angespitzter Stock durch die offene Luke. Serafima schläft ein, ohne von ihrem Eimer abzulassen, und erwacht erst nach einer Stunde schweigsamer Fahrt entlang des menschenleeren Ufers, hinter dem sich die blasse Tundra erstreckt.

„Ich gehe in die Pilze“, sagt Serafima und erhebt sich.

„Gehen Sie nicht zu weit rein“, sagt Matwej, als er vom Steuer ablässt. „Kann sein, dass der Bär sich mit Beeren vollgefressen hat und dort in den Büschen herumliegt.“

Serafima misst Matwej mit einem auf Bärenart schweren Blick und klettert schwerfällig aus dem »Kissen«, springt ans Ufer. Sie geht an Seen vorüber und tritt auf ein Land, das von farblosen Unebenheiten wellig ist. Die Erde ist weich und gestattet es, bis zu den Knöcheln darin zu versinken. Und doch fühlt sich das Innere der Erde in diesem Teil der Welt, der vom Nordpolarmeer und dem Stillen Ozean, der Beringsee und der Tschuktschensee umspült wird, unter den Füßen kalt, erkaltend an, so dass sie nicht dazu in der Lage ist, der Natur Farben zu verleihen. Serafima lässt sich flach auf die Buckel fallen. Ihr weißer Eimer fällt neben ihr nieder. Serafima liegt da und schaut in den blassen Himmel. Unter Serafimas Händen gibt es blaue Moorbeeren, rote Heidelbeeren, schwarze Krähenbeeren, gelbes und grünes Moos. Und wenn man genau hinsieht, ist die Erde der Tundra nicht blass, nicht arm und nicht karg. Wenn man genau hinsieht, dann sieht man, dass es eine liebende Erde ist: Irgendwie hat sie es schließlich geschafft, aus dem Permafrost heraus diese kalten Säfte zu sammeln, um Mensch, Himmel und Vögel damit zu erfreuen.

„Ich will auf die Krim“, spricht Serafima. „Ich habe es satt, hier zu frieren. Meine Eltern haben mich, als ich ein Kind war, aus Simferopol fortgebracht. Sie kamen hierher, auf der Suche nach dem langen Rubel... Und hier sind sie auch geblieben.“

In Kantschalan parken Geländefahrzeuge auf Ketten, die aussehen wie Panzer.

Das russische Gesetz

Vom Anadyr steuert das »Kissen« auf das Flüsschen Kantschalan, und Matwej wird schwermütig – beim Übergang in den anderen Fluss hat er aus der angebrochenen Wodkaflasche getrunken, und nun liegt diese leer zu seinen Füßen herum.

„Frage dort mal, ob bei denen der Laden heute geöffnet hat“, bittet er mich, als wir in der Siedlung Kantschalan anlegen und er dabei den Bauch des »Kissens« sanft auf dem schwarzen, hie und da von zartgrünen Riedbuckeln unterbrochenen Dreck des Ufers aufsitzen lässt.

Zu beiden Seiten stehen geländegängige Fahrzeuge auf Ketten, die an Panzerfahrzeuge erinnern. Es heißt, in diese Siedlung werden Moskauer Abgeordnete und Beamte gebracht, wo man ihnen die kleinen Einzelhäuser demonstriert, die man hier unter Abramowitsch anstelle der Baracken errichtet hat, um ihnen so weiszumachen, dass alle tschuktschischen Dörfer florieren und so ähnlich aussehen wie Kantschalan. Endlich kommt ein Mann um die Straßenbiegung gelaufen.

„Entschuldigen Sie, hat der Laden geöffnet?“, frage ich ihn.

„Nun schon nicht mehr“, antwortet er. „Brot werden Sie heute keins mehr kaufen können. Aber Wodka könnte man auftreiben. Ich lebe erst seit einem halben Jahr hier“, erzählt er mir, und nicht zum ersten Mal überkommt mich das Gefühl: Die Menschen erzählen so schnell und so bereitwillig über sich selbst, als gebe ihnen die Luft auf Tschukotka den Willen ein, offen und redselig zu sein. „Ich komme vom Altai“, fährt der Mann fort. „Meine Familie habe ich vor kurzem hergebracht. Ich arbeite hier als Tierarzt. Die Rentierzüchter sind jetzt in die Tundra gegangen, und ich bin mit den Schweinen hier geblieben.“

„Sind Sie eigentlich glücklich?“, frage ich ihn.

„Ich weiß nicht...“ – er bleibt bei den Holzwegen stehen, die in der Siedlung mal nach hier, mal nach da verlaufen und unter denen die Heizleitungen verborgen sind. „Glauben Sie, ich könne nicht glücklich sein, wenn ich an einem solchen Ort lebe?“

„Doch, können Sie. Aber Sie können genauso gut auch sehr unglücklich sein. Das hängt davon ab, was Sie dazu veranlasst hat, vom Altai hierher zu ziehen.“

„Ich habe als Fernfahrer gearbeitet“, sagt er und schaut mir mit ernstem Blick in die Augen. „Iwan heiße ich. Aber davor habe ich als Tierarzt gearbeitet. Wissen Sie, was ich im Altai in meinem Beruf verdient habe? Neun siebenhundert! Glauben Sie, man könne von diesem Geld seine Familie ernähren? Also habe ich gekündigt und dann als Fahrer gearbeitet, fuhr die ganze Zeit, fast ohne je vom Steuer zu lassen. Bis zu dreißig Tausend Kilometer gerollt. Und verdient habe ich genau so viel, wie ich hier verdiene, wenn ich in meinem Beruf arbeite. Erst ging ich nach Pewek, habe mich mal mit den Umständen dort bekannt gemacht und begriffen: Meine Familie bringe ich nicht hierher. Aber das Leben hier ist nicht schwierig. Nur die Bären kommen ab und an vorbei und fügen dem Bestand großen Schaden zu. Sie vernichten die Jungtiere.“ „Und wenn Sie sich Geld zusammengespart haben, ziehen Sie wieder weg?”

„Vielleicht. Aber vielleicht entwickelt sich bei mir auch die für hier typische Krankheit. Es ist eine unheilbare seelische Krankheit – der Norden würde mich absorbieren, und ich werde ohne ihn nicht mehr können. Ich lese alle Nachrichten, ich bin im Bilde darüber, was im Land passiert. Bei euch da in Moskau gibt es irgendwelche Wirren. Ich sehe darin überhaupt keinen Sinn, denn jeder bei euch in Moskau kämpft nur für sich allein. Wir kümmern die herzlich wenig. Einen solchen Menschen aber, der das Volk hinter sich vereinen könnte, den gibt es noch nicht. Was ich von Nawalnyj halte? Ich halte von ihm weniger als gar nichts. Wer ist das überhaupt und aus welchem heiteren Himmel ist der denn plötzlich auf uns herabgefallen? Die Jugend, die fabuliert jetzt von Nawalnyj. Bei denen geht es nur um Nawalnyj und Sobtschak... Für uns aber, für die, die arbeiten, gibt es derzeit wahrscheinlich niemand anderen als nur Putin. Obwohl er für sein Land in den achtzehn Jahren viel zu wenig getan hat. Er hat nur die Außenpolitik auf Vordermann gebracht. Doch was geht im Land selbst vonstatten? Alle wollen sie in Moskau sitzen. Euer Moskau ist schon wie ein eigener Staat. Meckert bloß nicht herum, dass es euch dort in Moskau schlecht geht! Versucht mal, mit euch selbst zu beginnen – ändert eure Lebenseinstellung.”

Arkadij Makuschkin, der Tierarzt und früherer Bürgermeister des Dorfs, ist der angesehendste Einwohner von Kantschalan

„Was meinen Sie denn damit?”

„Ich meine damit, dass mir mein Leben nicht gefallen hat – ich habe also meine Lebenseinstellung ein klein wenig überdacht und kam hierher, um hier Geld zu verdienen. Der Laden ist da drüben. Dort gibt es noch eine Kirche. Und ein Denkmal, ein Denkmal für die Rentiere. In die Kirche werden Sie nicht hineinkommen, die ist geschlossen. Sie ist hier immer geschlossen. Aber Wodka werden Sie vielleicht noch kaufen können – von Privatleuten.”

„Der Laden ist geschlossen!” – ein gedrungener Mann mit weißer Schiebermütze kommt um die Wegbiegung geflogen. „Journalistin? Sehr gut! Ich wollte schon längst einmal einen Journalisten sprechen. Ich bin Burjate, Buddhist. Meine Frau kommt aus Makejewka. Wir leben hier seit dreiundsiebzig. Arkadij Makuschkin heiße ich. Habe als Leiter der Ortsverwaltung gearbeitet. Das staatliche Veterinärinstitut Omsk abgeschlossen. Die Moskauer Akademie für Veterinärmedizin, auch die abgeschlossen. Und das Technikum in Irkutsk. Seither bin ich in der Tundra – ich behandele die Rentiere. Ich habe auch bei Frauen schon Geburtshilfe geleistet, keine Sorge. Ein Veterinär in der Tundra muss ein Alleskönner sein! Sie als Journalistin aber, erklären Sie mir doch bitte – das wollte ich schon lange einmal fragen – auf wen sind denn eigentlich diese eure dümmlichen politischen Talkshows gemünzt? Sind die nur für Dumpfbacken?”

„Das Schlüsselwort hier ist »Show«”, wirft Iwan ein.

„Vor kurzem ist doch Kolokolzew hier gewesen. Ich habe mit ihm zusammengesessen und mit ihm gesprochen. Über Waffen habe ich mit ihm gesprochen. In unserer Brigade gibt es einfach keine Waffen! Sie wissen ja bestimmt, dass die Völker des Nordens gegenüber dem Alkoholismus anfällig sind. Ich selbst trinke schon seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr. Aber die weiteste Brigade steht, von hier aus gesehen, hundertachtzig Kilometer entfernt! Eine Brigade von Rentierzüchtern! Und in jeder Brigade muss es Waffen zum Schutz der Herde vor Bären, Wölfen und Vielfraßen geben. Ich kann Ihnen ja mal erzählen, dass wir in den Siebzigern dreißig Rentierzüchterbrigaden hatten, und jetzt nur acht. Und für diese acht Brigaden gibt es einen Karabiner. Finden Sie das nicht witzig? Ich auch nicht. Womit soll ich die Herde schützen? Wissen Sie, warum ich das nicht witzig finde?! Weil man in Moskau ein Gesetz verabschiedet hat: Wer schon einmal wegen Trunksucht in Behandlung war, dem darf man keine Waffe geben.”

„Und was soll ich denn tun? Denn ich zwinge sie ja dazu: ›Wenn ihr arbeiten wollte, dann fahrt und lasst euch wegen eurer Trunksucht behandeln!‹ Inzwischen haben alle in den Brigaden Bescheinigungen. Und sie bekommen keine Waffen mehr. Ich sage Kolokolzew so: ›Hör mal, warum zum Henker denken sich die Moskauer für mich, der ich auf Tschukotka bin, Gesetze aus? Irgendwelche Sängerinnen sitzen da in der Staatsduma, Schauspielerinnen, Turnerinnen... Gibt es auch nur einen Rentierzüchter?! Nein? Was soll ich denn da tun? Kündigen? Ich kann nicht Direktor der Brigaden sein, wenn es nur einen Karabiner gibt. Der Arbeitsgesetzgebung nach bin ich verpflichtet, den Leuten Karabiner auszuhändigen!”

„Und woher soll ich dir bitteschön Leute ohne diese Bescheinigungen hernehmen, wenn sie doch alle trinken?! Du, als Journalistin, sage mir doch bitte – die fünfte Brigade wurde im Frühjahr mit einem Mal von fünf Bären heimgesucht! Fünf! Wir haben sie mit Stöcken verscheucht. Haben Plastiktüten auf den Stöcken befestigt und sie damit in die Schnauzen gestoßen. Und Kolokolzew sagt mir: ›Damit befassen wir uns nicht‹. Und die Rosgwardija, weißt du, was die mir gesagt haben? ›Besprühen Sie den Bären aus einer Pfefferspraydose‹. Ich sagte denen so: ›Dummköpfe seid ihr, jok! Habt ihr jemals einen Bären, wenigstens aus solcher Nähe, wie von diesem bis zu diesem Haus, gesehen?!‹ In den fünfundvierzig Jahren hatte ich es einige Male mit Bären aus nächster Nähe zu tun. Aber ich war ja immer mit Karabiner unterwegs.”

„In den Achtzigern habe ich mal einen Bären erlegt, und der alte Tschuktsche hat da sehr mit mir geschimpft: ›Schieß nicht! Du hast diesen Sommer schon drei getötet. Man darf die nicht töten! Steh da und warte, bis er weggeht‹. Die alten Tschuktschen haben es überhaupt verboten zu töten, wenn es nicht unbedingt sein muss. Einmal, noch zu Sowjetzeiten, habe ich mal fünfundzwanzig Äschen für die Brigade aus zwölf Mann gefangen – da kam der Alte und nahm mir die Hälfte weg. Und sagte: ›Du hast der Natur Überzähliges weggenommen‹. Die sind so, dass sie eine Raupe, die zum Lagerfeuer hin kriecht, nehmen und woanders hin schieben. Später hat der Alte sich an Fliegenpilzen überfressen, lief blau an und starb.”

In Anadyr gibt es kein Haus, das höher als fünf Stockwerke wäre. Alle Häuser stehen auf Rammpfählen.

„Jetzt, ja, jetzt kommen fremde Ökologen zu uns und erzählen uns, wie man die Natur zu bewahren habe. Die Tschuktschen wussten das alles noch lange bevor es diese eure Ökologen gegeben hat... Nun ja, ich habe Bären getötet! Warum schimpfen Sie da? Sind Sie auch Ökologe? Dich will ich mal sehen, wenn der Bär sich vor dir auf seine Hinterläufe aufrichtet. Ich bin in der Taiga geboren, in Burjatien. Als sich das erste Mal ein Bär vor mir so aufbaute, dachte ich: Wo finde ich jetzt schnell einen Baum, auf den ich, wie in der Taiga, schnell klettern könnte? Auf Tschukotka gibt es aber keine Bäume. Das können Sie da in Ihrem Moskau mal ausrichten – die sollen solche Gesetze verabschieden, dass danach nicht nur Moskau leben kann. Wenn du Abgeordneter sein willst, komm erst hierher, arbeite hier ein wenig, lerne das Land kennen. Die Menschen hier sind ganz anders – selbst, wenn sie aus Moskau kommen, ändern sie sich. Wenn du einmal ohne ein Stück Brot im Schneesturm festgesteckt hast, dann wirst du eine ganz andere Lebenseinstellung bekommen. Die Leute hier teilen alles, was sie haben. Nun denken Sie bloß nicht, ich sei ein Dörfler. Ich habe Europa bereist. Nun reise ich durch Asien, die sagen, ich sehe denen ähnlich, erkennen mich als einen der ihren an – lieben mich geradezu abgöttisch. Aber ich, Arkadij Makuschkin, bin kein Chinese, ich bin ein russischer Mann. Schreiben Sie das auch so auf!“

„Wissen Sie, worum es mir leid tut? Dass die hiesige Jugend schon keinen blassen Schimmer mehr hat. Zu Sowjetzeiten gab es in jeder Brigade fünfzehn Kinder. Nun aber sind es auf acht Brigaden fünfzehn Kinder. Einmal haben sie die älteren unter den Burschen nach dem Unterricht geschickt, damit sie helfen, die trächtigen Tiere von der Herde zu trennen. Und die machen was? Treten sie mit Füßen, schieben sie. Ich sage: ›Jok! Was macht ihr denn? Die sind doch hochschwanger, kurz vor der Entbindung! Sie sind trächtig – jok! Habt ihr keinen Respekt vor den Schwangeren?!‹ Ich habe einem damals fast die Beine abgeschlagen dafür, dass er nach den Tieren trat. Ja, so einer bin ich! Ich wundere mich überhaupt über diese Einheitlichen Abschlussprüfungen! Ich bin mal in die Schule gekommen zum Biologieunterricht – ich habe keine Chance, nach diesen neuen Regeln die Prüfung zu bestehen! Ich, als Tierarzt! Und Medwedew, Sie denken wohl, der hat uns hier noch nie besucht? Doch, hat er. Ich stand da und sprach mit ihm, gerade so, wie ich jetzt mit Ihnen spreche. Und ich sage ihm – das war noch zweitausendacht: ›Dmitrij Anatoljewitsch, bei uns im Autonomen Kreis der Tschuktschen gibt es keine Eisenbahn. Nur Flugzeuge und Schiffe haben wir. Deshalb muss die Lieferung von Lebensmitteln nach Tschukotka auch so laufen wie zu Sowjetzeiten – und zwar für ein halbes Jahr im Voraus. Sie aber machen es so: Heute bringen Sie was her, und heute essen wir das auch auf. Morgen aber gibt es keine Lebensmittellieferungen, also müssen die Kinder trockene Kartoffeln essen. Es müsste aber so sein: Zucker, Mehl – auf Vorrat für anderthalb Jahre! Soll es doch auf Lager liegen. Wen stört es da? Mich stört es nicht‹. Er hat versprochen, sich darum zu kümmern. Wir warten drauf.“

Mein Gesprächspartner begleitet mich zum Laden. Der Laden hat geschlossen. Unterwegs zurück zum »Kissen« sagt Makuschkin:

„Mein Vater führte mich einmal in die Taiga und sagte: ›Suche dir einen hohen Baum aus. Umarme ihn, hebe deinen Blick Richtung Himmel, dann wirst du es verstehen‹. Ich habe es so gemacht, und es war, als würde aus meinem Kopf ein Baum direkt bis zum Kosmos ragen. Da wissen Sie mal, was ein Baum ist. Und fällen darf man ihn nur im Winter, wenn in ihm die Säfte erstarrt sind und es ihm nicht weh tut. Und damit er auf Schnee fällt, nicht auf das Unterholz. Nun aber brennt ja ganz Sibirien. Die Bäume tun einem leid. Ob ich wohl einfach mal in die Staatsduma komme und dort alle mit wüsten Flüchen bedenke?“

Matwej kehrt er auf einem großen, polternden Lastwagen zurück

Als Matwej hört, dass der Laden geschlossen hat, springt er ans Ufer, holt sein Telefon aus der Tasche und telefoniert mit irgendwem. Nach fünf Minuten gespannten Wartens kommen zwei Motorräder ans Ufer gefahren.

„Wie jetzt, alles ist geschlossen?“, fragt Matwej. „Wie?!“

Er schießt auf einem der Motorräder davon, nachdem er sich hinter einem der beiden Fahrer festgekrallt hat. Eine halbe Stunde später kehrt er auf einem großen, polternden Lastwagen zurück. Die erste Flasche Wodka bricht Matwej gemeinsam mit dessen Fahrer – einem russischen Mann mit großen Händen – und mit Serafima an. Erst danach macht sich das »Kissen« auf den Rückweg nach Anadyr.

Denkmal der Tschuktschen

Russen und Amerikaner

Der rosafarbene Sonnenuntergang berührt sanft das milchige Wasser der Meerenge. Von der Anhöhe aus, auf der das Balok von Matwej und Serafima steht, sieht man, wie die Möwen schwerfällig über dem Wasser fliegen. Wie der Weißwal seinen weißen Rücken zeigt. Und das Herz des Betrachters macht einen Sprung und dreht sich mit dem Weißwal – der sich an der Wasseroberfläche zeigt und wieder verschwindet. Von hier aus kann man sehen, wie eine Ringelrobbe auf dem Rücken schwimmt und dabei ihren neugierigen Kopf aus den Wellen herausstreckt. Und wie die Möwen sich in Ufernähe auf das Wasser niederlassen und in weißen Ringelreihen darüberziehen.

Jurez begibt sich hinunter zum Boot. Stößt vom Ufer ab. Die Netze sind leer – es gibt keinen Fisch. Nachdem er wieder zurückgekehrt ist, setzt er sich zu Tisch. Im Balok prasselt ein Ofen, und Jurez sagt: „Hier ist’s warm wie auf der Krim“. Serafima kredenzt gefrorene Maräne, eine Suppe mit Wildgans, mild gesalzenen Hundslachs und hausgemachte Nudeln aus einer riesigen, schweren Pfanne. Jurez greift nach dem Wodka.

„Geh nur nicht betrunken das Netz kontrollieren“, sagt ihm Matwej.

„Ich bin nüchtern“, antwortet Jurez.

„Jurez, du besitzt keine Immunität gegenüber dem Alkohol“ – Matwej kippt sich ein Glas hinter die Binde. „Wir trinken und werden nicht betrunken. Du aber bist dann zwei Tage lang betrunken.“

„Erstens“ – Jurez gießt sich ein – „wir Tschuktschen haben den Wodka nie gekannt.“

„Bis wir ihn euch gebracht haben“, wirft Serafima ein.

„Ihr nicht!“, entrüstet sich Jurez mit seinem Bass. „Die Amerikaner!“

„Ha, ha, ha!“ – Matwej muss lachen. „Ich finde es witzig, wenn sich unsere Beamten im Fernsehen hinstellen und sagen: ›In Tschukotka fehlt es an Rentierzüchtern! Man muss den Leuten dringend die Rentierzucht beibringen!‹ Und ich denke mir: Alter Schwede, da sitzen sie doch, die ganzen Rentierzüchter, in der »Raduga« (Geschäft im Zentrum von Anadyr – »RR«). Holt die doch einfach dort weg, setzt sie in einen Hubschrauber und werft sie in der Tundra ab – dort gibt es keinen Alkohol, da können sie nichts machen und werden arbeiten müssen. Ich habe Ihnen ja gesagt, ich war viel in der Tundra unterwegs und habe mal irgendwo als Sicherheitsingenieur angeheuert; da gab es so einen Buchhalter, ein ehemaliger Goldschürfer. Der hatte früher seine eigene Brigade, die haben eben Gold geschürft. Und der sagte mir immer: ›Alle Tschuktschen sind Schweine‹. Ich habe mir das eine Weile lang angehört und schließlich gesagt: ›Und die Russen, wenn die sich betrinken, sind wohl keine Schweine?‹“. Matwej gießt sich wieder ein. „Jedes Volk hat seine Schweine! Und es kommt vor, da kommt man in die Tundra in seine Brigade, betritt eine Jaranga. Und da sitzt eine ganz und gar reinliche Tschuktschen-Omi, und alles bei ihr ist blitzblank – der Emaillebecher und der Topf... Und eine Pilzsuppe hat sie da in diesem Topf. Warum sollten denn alle Tschuktschen Schweine sein? Die Russen, das sind Schweine. Wir haben ihnen den Wodka gebracht, und unsretwegen sterben sie nun aus.“

„Der Amerikaner wegen!“, ruft Jurez.

„Und wie kommt es, dass die Jugend in den Dörfern dem Suff verfällt?“, sagt Matwej. „Die haben nichts zu tun, es gibt keine Arbeit. Und so ist es in ganz Russland.“

„Und mir tun die Tschuktschen nicht leid“, sagt Jurez, der schnell und deutlich erkennbar betrunken wird, so dass sich sein Gesichtsausdruck verändert.

„Jurez! Wo ist Lera?!“, fragt Serafima. „Wozu hast du sie fortgejagt? Es ist ja schon kalt. Bestimmt wühlt sie wieder in den Müllkippen herum. Die kann einem leidtun!“

„Wo ist Lera!“, ruft Jurez aggressiv. „Woher soll ich wissen, wo Lera ist! Sie saugt den Fischen die Augen aus! Arbeiten will sie nicht! Alles muss ich allein machen – Geschirr waschen, das Netz aufstellen!“

Jurez wirft sich zurück und fällt rücklings... Mit dem Kopf trifft er die Pfanne, und der Balok wird von einem schrecklichen, tödlich klingenden Krachen durchzogen. Serafima und Matwej werden blass und bleiben regungslos am Tisch sitzen und starren sich lautlos über den Teller mit der auftauenden Maräne an. Man kann den Stromgenerator und die kalte Brandung der Meerenge hören. Niemand entschließt sich dazu, nach unten, auf den gespaltenen Kopf von Jurez zu schauen.

Jurez erhebt sich und setzt sich auf die Bank. Seine Lider sind halb geschlossen, und auf seinem Gesicht tritt der Ausdruck hervor, der Ada in ihrer Kindheit Schrecken eingejagt hat.

„Serafima, nimm mich mit auf die Krim“, sagt Jurez.

„Warum sollte ich dich nicht mitnehmen?“, antwortet Serafima. „Verdiene dir was, und ich bringe dir bei, wie man auf der Krim Krebse fängt.“

Quelle: »Русский репортер« Nr. 17-18 (483)