:chartophylax:

Was Russland möchte

Wohin zerrt uns der Zeitgeist?

Autor: Dmitrij Olschanskij

23. November 2020

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 5 Minuten

Wohin zerrt uns der Zeitgeist?

Und existiert denn tatsächlich jenes kollektive Streben vom Punkt A zum Punkt B, das man als nationalen Traum bezeichnen kann?

Etwas in dieser Art spürt man in jeder Epoche, doch es war nie möglich zu beweisen, dass ein Land sich urplötzlich dreht und in eine andere Richtung entwickelt, und die Richtung, die es vorher eingeschlagen hatte, nicht mehr weiterverfolgen wird.

Man muss das also einfach glauben, und es später gemeinsam überprüfen.

Das Russland der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts (wie seltsam das klingt!) hat längst keine Liebe mehr für Utopien – solche wie die, durch welche es vor hundert Jahren so viel Ruhm gewonnen und die es bis in die kosmischen Neunzehnsechziger verfolgt hat.

Nur ganz, ganz selten ertönen noch irgendwelche exotischen, einsamen Stimmen, die davon künden, dass wir, so nach dem Motto, ein „weltweites Imperium“ seien, dass „unsere Mission die Gerechtigkeit“ wäre, wir müssen nach Süden, nach Osten, ans Ende der Welt, auf den Mars, und dass der russische Mensch ja auch dafür lebt, um irgendwessen kapriziöse Phantasien wahr werden zu lassen - ganz gleich, ob es sich um kommunistische, militärische, wissenschaftliche oder sektiererische Phantasien handelt. Doch das ist jetzt, um es noch einmal zu wiederholen, eine Seltenheit, ein Zirkusschreier, aber keine Änderung im Alltag der Massen.

Das Russland aus den kitschigen Bildern der Amerikaner – Rakete, Bär, Bart, Panzer, Balalaika, hier kräftig umarmen und da Wodka eingießen – ist ein für alle Mal Vergangenheit.

Sein allmähliches Verschwinden hat mit der Ausmerzung zweier historischer Archetypen zu tun: des Politkommissars und des gemeinen Mannsbilds. Der von den radikalsten denkbaren Ideen besessene Student, der Revolutionär, Kommissar oder Intellektuelle einerseits, und der fügsame, sich außerhalb der ländlichen Welt kaum zurechtfindende ehemalige Bauer andererseits – dieses nicht gerade süße, sondern eher bittere Pärchen hat unsere Heimat um die hundert Jahre lang geschüttelt wie einen Birnbaum, brachte schreckliche und bedeutende Ereignisse hervor, und hat sich dann stillschweigend in Wohlgefallen aufgelöst.

Die ländliche Humanressource – der billig zu habende, junge, kinderreiche, fügsame und in den Kasernen, Fabriken und Parteiorganen leicht umerziehbare Typus – wich der neuen urbanen Gesellschaft, die weit anspruchsvoller und, wenn man es so will, erwachsener ist.

Die progressive Allgemeinheit ist, nachdem sie Kriege, Repressalien, Enttäuschung in den Revolutionen und die Emigration durchgemacht hat, stark dezimiert, und all ihr früherer Grimm, all ihr kämpferisches und unversöhnliches Wesen passt inzwischen in zwei Standardfloskeln: Gebt uns Hinz anstelle von Kunz und eine Regenbogenparade anstelle einer herkömmlichen.

Wir sind kein Imperium mehr, und wir fliegen nirgendwo mehr hin. Wir verlagern uns nur noch langsam von einer Parkbank zur nächsten und grummeln uns in den Bart.

Gleichzeitig hat das Russland der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts (wir wollen uns nochmals so ungewöhnlich ausdrücken) schon lange keine Liebe mehr für die Freiheit, wenigstens in ihrer lärmenden und scheinbar ausländischen Version, wie sie vor dreißig Jahren noch so modern gewesen ist.

Die Kränkung von enormem Ausmaß – oder, anders gesagt, die unangenehme Ernüchterung sowohl des Staats als auch des ganzen Volks – welche unsere Heimat an der Jahrtausendwende heimsuchte, als klar wurde, dass die westliche Märchenwelt, die nur so auf den russischen Menschen wartet, die ihn liebt und ihn als sich ebenbürtig erachtet, gar nicht existiert, sondern dass es stattdessen nur nahe und ferne Nachbarn gibt, die mal grausam, mal heuchlerisch sind, beides aber nie zum eigenen Nachteil, kurz: dieses neue Leben ohne das amerikanische und europäische Väterchen Frost hält nach wie vor an, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit in eine Explosion der Hoffnungen und der Euphorie darüber, dass wir hier alle stürzen, alles umwälzen und alle um uns herum brüderlich umarmen und so zu neuer Blüte gelangen, übergehen wird.

Zumal ja die markenechten Vorstellungen von der Freiheit im Ausland in dieser Zeit, gelinde gesagt, etwas mutiert sind.

Wie aus dem Nichts manifestiert sich in den führenden Ländern der Welt plötzlich eine schaudererregende, düstere Ordnung, in deren Rahmen der Mann gegenüber einer Frau immer schuldig ist, die Weißen gegenüber denen mit angenehm dunklerem Teint, die Ortsansässigen gegenüber den Migranten, und alle zusammen haben das Klima kaputt gemacht und streben nicht leidenschaftlich genug danach, ihr Geschlecht zu ändern.

Mit welchen Gefühlen mag wohl Russland dieses orwellsche Paradies betrachten?

Mit einer Mischung aus Furcht und Belustigung.

Und selbst will es ganz sicher nicht dahin.

Aber es gibt noch ein weiteres gestürztes Götzenbild.

Die Sache ist, dass unsere Heimat des schnellen Geldes überdrüssig geworden ist.

Des exzessiven Gelages – eine Gewohnheit, die sich die Beamten recht schnell von den Banditen angeeignet haben –, des Geruchs der schnell zu Reichtum gelangten und solcher, die die Kasse aggressiv und um jeden Preis an sich gerissen haben. Die sprichwörtliche Rubljowka, die seinerzeit als Glückssymbol fungierte und auf blankem Neid herangezüchtetes Interesse auf sich zog, ist von ihrem Sockel gefallen – und an der jetzigen Abneigung gegen sinnlose Extravaganz ist nichts mehr von dem einstigen sowjetischen Pathos. Es ist mitnichten mehr der Zorn der Unterdrückten und Erniedrigten, sondern es ist der Verdruss des friedlichen und gutgestellten Biedermanns: He, Sauhaufen, eure Party ist vorbei, genug gelärmt.

Und genau dieser Tonfall – der genervte, der eines Vaters, der von der Arbeit nach Hause kommt, wo die Kinder an die Decke springen und mit der Katze Kosmonaut in der Zentrifuge spielen – führt uns zum für viele kommende Jahre wichtigsten nationalen Wunschtraum.

Normalisierung.

Recht und Ordnung.

Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Geld ins Haus und jedermann ein Leben nach seinen Mitteln und Möglichkeiten.

Und wenn sich einer mal vergisst, so bekommt er gleich ein paar kräftige Schläge auf seine raffgierigen Hände.

Denn je weiter, desto mehr entdeckt Russland in sich, wie es der Klassiker ausdrückte, eine gewisse Grobheit gegenüber der Welt der globalen Vorhaben, der endlosen Feierlichkeiten, der Freigebigkeit zugunsten fremder Taschen und der chronischen Unfähigkeit, nur etwas Kleines und Konkretes zuwege zu bringen, an dem hier und jetzt Bedarf ist: reparieren, bezahlen, gesund machen.

Der Russe ist kein Soldat mehr, kein Bauer, kein Gutsherr; er ist kein Intellektueller, kein Heranwachsender, kein Kommunist und kein naives Mannsbild mit Bombe und Bär.

Er ist ein vielfach vom Leben gezeichneter, erfahrener und misstrauischer Bürger, der jeglicher Illusionen über die einen wie die anderen verlustig gegangen ist; denn heute haben wir die eine Regierung, morgen eine andere, aber den Kredit gilt es so oder so abzubezahlen.

Und er ist sich sicher, dass man ihn nun nach all dem, was in den vergangenen dreißig, nein, hundert, vielleicht sogar noch mehr Jahren passiert ist, nicht mehr hinters Licht führen kann.

Er möge recht behalten.

Quelle: octagon.media