Schöne neue Hölle
Wie wir in einer behände mutierenden Welt überleben können
Autor: Dmitrij Olschanskij
13. Januar 2021
Russland GesellschaftLesezeit: ca. 8 Minuten
1.
Es ist ein Wesenszug von Menschen, darüber zu streiten, wann denn die eine Epoche zu Ende geht und eine neue beginnt. Wo sich jene magische, oder – wie das öfter vorkommt – schreckliche Grenze befindet, hinter der sie eine andere Welt erwartet.
Diese Frage stellt sich ja auch bezüglich unseres jetzigen Zeitalters. Früher war es üblich, zu meinen, dass dieses Zeitalter an jenem Moskauer Abend oder New Yorker Morgen begann, als die Flugzeuge in die Türme krachten. Damals war es en vogue, wenn man sagte: Da, das ist dieser Tag, an dem alles Vormalige abriss und ein neues Leben begann.
Inzwischen kann man über diese Naivität nur noch wehmütig lächeln.
Ich will nur einige Eigenschaften jenes Blutbads im September anführen, die klar darauf hinweisen, dass damals überhaupt kein neues Leben begann; warum diese Eigenschaften von Bedeutung sind, wird weiter unten klar.
Die Ereignisse in New York vor zwanzig Jahren hatten Urheber, mögen diese auch von der Propaganda bestimmt worden sein, aber dennoch.
Die Ereignisse in New York haben Amerika, und mit ihm einen bedeutenden Teil der Welt, wenigstens für eine Zeitlang geeint, nicht gespalten.
Die Ereignisse in New York stärkten den Staat, als sei dieser immer noch so geharnischt und bedrohlich wie in der Epoche der Weltkriege.
Schließlich bezeichneten die Ereignisse in New York einen östlichen Feind der westlichen Welt – einen in Lappen gehüllten religiösen Terroristen.
Doch all diesen Begriffen und Sinnbildern – der Urheberschaft, der Einigkeit, dem Staat, der Gefahr aus dem Osten – war es nicht bestimmt, das einundzwanzigste Jahrhundert zu prägen.
Wie sich dieses nämlich tatsächlich ausnimmt, das begannen wir erst in der jüngsten Vergangenheit zu erkennen. Die MeToo-Bewegung, die BLM-Bewegung, die Virusepidemie und schließlich die Welt der sozialen Medien, in denen man den globalen Dissidenten – nämlich den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika1 – niedermacht und verfolgt, haben den Vorhang vor dem, was uns womöglich noch erwartet, ein wenig angehoben.
Wir haben einen Blick hinter diesen Vorhang geworfen, und nun sitzen wir da, verloren, schimpfend und seufzend.
Weil uns scheint, dass die Welt verrückt geworden ist.
2.
Die Welt ist verrückt geworden, indem sie jungen Köpfen das unsympathischste Genre von Frauenbewegungen einhämmert – ein weinerliches, hysterisches, voller Hass gegen Männer, mit einem gleichzeitig gegen die Familie und gegen das Abenteuer gerichteten Krieg, mit einer Ablehnung all dessen, was schön ist.
Die Welt ist verrückt geworden, indem sie die Überflutung verschiedener Länder und Städte durch Fremde propagiert, die eben nur dadurch einen Wert darstellen, dass sie fremd sind, dass sie sich mutmaßlich irgendwo in der Wüste ohne uns satt gelitten haben, so dass sie nun in London, Berlin oder Moskau Hammel schlachten und Frauen verhüllen müssen.
Die Welt ist verrückt geworden an der Idee, dass eine jegliche Abweichung davon, was in Jahrhunderten europäischer Geschichte als Norm galt, so heilig ist, wie sehr sie von dieser früheren Norm abweichen kann und will. Und je giftiger die Haarfarbe, je exotischer die Marotten, und je weiter entfernt das Leben eines N.N. vom Typus des gesetzestreuen Bürgers und des treusorgenden Familienmenschen, des führungsstarken Dienstherren oder des kernigen Arbeiters ist, desto besser; und was das erstaunlichste ist, die Herrscher dieser Welt unterstützen jetzt nach Kräften diesen eigentümlichen Spielzeug-Ungehorsam. Willst du also nur Gras fressen, im Zelt hausen, alles in der Welt ablehnen und dem unterdrückten Somalier den Schuh küssen, dann bist du jetzt Leitbild und Stütze des Systems.
Die Welt ist verrückt geworden an der Anonymität. Roboter in endlosen Call-Centern, immer die gleichen Aktivisten mit tief in die Augen gezogenen Kapuzen, unbekannte Zensoren, die Leute für Verstöße gegen immer neue Regeln aus dem Internet schmeißen, durch nichts und niemanden gewählte, grinsende Menschen-Mannequins in überstaatlichen Behörden, und die zu einer herumhopsenden und -posenden Meute verklebten Instagramer und Tiktoker – hier ist jetzt alles so eingerichtet, dass das Unpersönliche wichtiger ist als das Eigene, und es, dieses Unpersönliche, würgt durch seine schiere Masse alles ab, dass man es nicht einfach abwimmeln kann.
Die Welt ist verrückt geworden an der Schwerelosigkeit. Uns wird – von modernen Denkern – verkündet, dass der Mensch nichts mehr aus dem herkömmlichen Set der fundamentalen und greifbaren Dinge haben sollte; nur noch unbares Geld, einen E-Roller, ein Zimmer zur Miete, Updates auf dem Smartphone und ein Plakat gegen Unterdrückung und Tyrannei. Die Tyrannei – das ist üblicherweise irgendein Politiker, der den unsichtbaren und allmächtigen Besitzern der Smartphone-Updates und der Bank, die das fiktive Geld überwacht, feindlich gesinnt ist. Und diese Besitzer selbst – ach, wo denken Sie hin! – das können doch keine Tyrannen sein, schauen Sie doch, wie nett sie lächeln und welch bescheidene T-Shirts sie tragen.
Die Welt ist verrückt geworden am Bio-Engineering. Den absurden Kult der unglückseligen Leute, die sich aufgrund psychischer Probleme gezwungen sehen, ihr Geschlecht zu wechseln und die jetzt überall hochgehalten werden, braucht es, um zu zeigen: Seinen Leib zu zerstückeln, Hirngespinsten hinterherzurennen und alles bizarr zu entstellen – das ist richtig, genauso richtig, wie es richtig ist, sich dreihundertachtunddreißig Gender auszudenken, von denen dreihundertsechsunddreißig einzig aufgrund von schlechter Laune und Faulheit zustande kommen. In genau das gleiche Horn bläst die uns bis dato vollkommen unbekannte medizinische Tyrannei, bei der eine komplizierte Melange aus Tests, Impfungen, Quarantänen und Antikörpern zum Personaldokument schlechthin wird.
Die Welt ist verrückt geworden an der Spaltung und Entfremdung. Jegliche Einheit, jegliche größere Gemeinschaft – ob national, staatlich oder religiös – wird allmählich, aber unbeirrbar zur Sünde, während es zur Tugend wird, wenn man, einem Banner gleich, die Symbole seiner eigenen kleinen Traumwelt hochhält und alle Umstehenden anfaucht. Die Umstehenden nämlich, die nicht verstehen wollen, warum du so sehr leidest, so einsam bist, aber verhüte es Gott, dass sie sich da anzunähern versuchen, verhüte es Gott, dass sie die geheiligten Grenzen deiner fragilen inneren Welt verletzen.
Und in gerade diesem Sinne ist die Welt auch verrückt geworden an der Psychotherapie. Von der Psychotherapie wollen wir nicht reden. Bei der bloßen Erwähnung der Psychotherapie möchte man schon heulen. Aber soll denn der moderne Mensch nicht die ganze Zeit heulen? Doch wir wollen das eben nicht.
Die Welt ist verrückt geworden am Moralisieren und an der Denunziation, am Kult der Parteiversammlung. Ich schreibe diesen Text in jenen Tagen, in denen alle Asse der wichtigen Länder dieser Erde dem rothaarigen Trump die Biographie schreiben, ihm als größten Bösling der Weltgeschichte fluchen – und das nur aus dem Grund, dass er, zum einen, die Impertinenz besaß, US-Präsident zu werden und nicht das zu tun, was sich gehört, und als man ihn, zum anderen, aus dem Amt jagen wollte, erdreistete er sich auch noch, Widerstand zu leisten, mit einem Tausendstel der Heftigkeit der Pogrome, welche sich die netten, ehrlichen Leute genehmigen, wenn ihnen danach ist. Wie kann er es nur wagen! Und im weiteren Verlauf herrscht dann schon der Geist der „Prawda“ des Jahres 1937, der Geist der ununterbrochenen Verurteilung, der Begeiferung und des Wettbewerbs, wer der größte Heuchler und Pharisäer auf der Parteisitzung ist; dieser Geist schwebt jetzt über allen Weltmeeren, und es ist zu bezweifeln, dass er sich von allein wieder verflüchtigt.
Die Welt ist verrückt geworden, indem sie denkt, dass sie, diese Welt, so offen, frei und gut ist.
Und wir, die übrigen, schlecht sind.
Und so sitzen wir nun da und grübeln, was wir denn nun tun sollen.
3.
Widerstand ist, ehrlich gesagt, zwecklos.
Im Nahkampf sind diese ganzen E-Roller und Updates, die Zensoren und Gender, die Safe Spaces und Psychotherapeuten überwältigend – sie fegen alles hinweg, und auch wir werden schwerlich standhalten können.
Es sei denn, wir verkriechen uns irgendwohin unter eine Baumwurzel, wie es sich für frühere Menschen geziemt, von wo aus wir Galle spucken und lästern, während der Fortschritt sich seinen Weg bahnt.
Doch Hoffnung gibt es trotz alledem.
Und sie ist ganz simpel.
Die Sache ist, dass die Vergangenheit natürlich zum Vergehen verpflichtet ist, denn ansonsten wird sie mit einem Fußtritt nach draußen befördert: He, du, alter, weißer Mann mit nur einem Gender und ohne E-Roller, troll dich hinfort aus unserer lichten Zukunft. Zumal wir hier alles Vegetarier sind.
Aber auch die Zukunft geht einmal zu Ende.
Sie ist nicht ewig, und sie geht ziemlich schnell kaputt, ganz wie diese Smartphones, die vorsätzlich so gemacht werden, dass man – kaum hat man sich mit einem vertraut gemacht – sich schon ein neues besorgen muss.
Und in dieser schönen Welt, in dieser triumphierenden Hölle, in die wir jetzt kopfüber stürzen, finden sich eines Tages eigene Unzufriedene, und es werden Kinder heranwachsen, die zu uns kommen, damit wir sie verderben. Verbotene Früchte schmecken süß; und Parteiversammlungen sind vor allen Dingen eins: langweilig.
Und wir werden sie verderben.
Wir werden ihnen beibringen, dass es anstatt der dreihundertsechsunddreißig Gender nur Adam und Eva gibt, dass es niederträchtig ist, jemanden zu denunzieren, dass es widerwärtig ist, wenn man seine Hand möglichst hoch hält, um damit zu zeigen, dass man auch „dafür“ ist, dass man nicht mit dem E-Roller über den Gehweg brettert, sondern dass man vielmehr gemächlich und genüsslich darauf schreitet, und dass die beste Art Psychotherapie darin besteht, weniger über sich selbst nachzudenken und fertig, und dass eine Frau fröhlich und verliebt sein sollte anstatt weinerlich und hasserfüllt, dass es gut ist, einen Familiennamen statt eines „Nicks“ und Eigentum anstatt des „Sharing“ zu haben, dass man da gut aufgehoben ist, wo man geboren wurde, und das Wichtigste: dass es die eigentliche Tyrannei ist, wenn alle händchenhaltend mit strahlenden Augen der Zukunft entgegengehen.
Jetzt werden wir erst einmal ausharren.
Denn die Vergangenheit stirbt nicht.
Sie weiß einfach den rechten Zeitpunkt abzuwarten.
Quelle: octagon.media
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Der Text ist auf den 13. Januar 2021 datiert, gemeint ist also Donald J. Trump. - Verm. d. Ü. ↩