Ein Gespenst geht um in Europa
Vor 100 Jahren kämpfte das Volk für Neuerungen gegen die "Eliten", die das Vergangene zu bewahren suchten. Heute ist es genau andersherum.
Autor: Dmitrij Olschanskij
29. Oktober 2021
Russland GesellschaftLesezeit: ca. 4 Minuten
Wenn man wieder einmal etwas aus dem, sagen wir, Jahr 1900 (ungefähr) liest, dann erscheint einem die Logik der damaligen Konservativen doch sehr eigenartig zu sein – sie reden die ganze Zeit davon, dass es besser wäre, die Demokratie zu beschränken, an einem den Pöbel eindämmenden Zensuswahlrecht festzuhalten, kurz: Den breiten Volksmassen nicht einfach so überall uneingeschränkten Zugriff zu gewähren – und zwar, um diese und jene Grundfesten zu schützen und die alte Ordnung zu bewahren, die, welche gemeinhin durch Mahagonimöbel und geschnitzte Kleiderschränke versinnbildlicht wird.
Das heißt, bei denen da im Jahre 1900 war alles so konzipiert, dass die Hierarchie, die Elite, also die Macht der wenigen Wohlhabenden und Gebildeten der Bewahrung und Verlängerung des Vergangenen dienlich war, während die diese Ordnung angreifenden Volksmassen als von einer Gewalt getrieben gesehen wurden, die dieses ganze soziale Antiquariat durch Neuerungen hinwegzufegen drohte.
Heute ist alles umgekehrt, und zwar dermaßen, dass das Jahr 1900 einfach nicht würde glauben können, dass das Jahr 2021 so vollkommen andersherum ist. Jetzt würde man, wollte man Grundfesten, die alten Ordnungen bewahren wollen, sich unbedingt auf die Armen, auf die „Volksmassen“, auf die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Gleichheit stützen müssen.
Wollte man aber, dazu im Gegensatz, Neuerungen herbeiführen, so sollte man diese Massen besser beiseitelassen, und zwar zugunsten von die sozialen Medien zensierenden Algorithmen, zugunsten der von niemandem gewählten Eurokommissare und Konzernbosse, die wiederum von anonymen und im Schatten bleibenden Investmentfirmen gesteuert werden, oder wiederum kurz: Mit dem „Fortschritt“ befassen sich heute gewisse unbekannte Philantropen.
„Volksmassen“, oder „die Menschen“ in ihrer Mehrheit wollen heute nichts von solchem Neuen mehr, wie sie das noch 1900 gewollt hatten. Etwas Neues wollen nur die sehr kleinen Kreise der Reichen und „Gebildeten“.
Die Leute aber scheinen zu spüren, dass sich in der Welt irgendetwas sehr wichtiges plötzlich umgekehrt hat, und dass der Mechanismus, der bisher einige Jahrhunderte lang darauf ausgerichtet war, die Möglichkeiten der einfachen Menschen zu verbessern, nun darauf abzielt, diese Möglichkeiten wieder einzustampfen.
Diese Wandlung ist eigentlich für jedermann zu erkennen.
Die Arbeiterklasse, die in dem erwähnten Jahr 1900 assoziiert wurde mit dem Kampf gegen den frechen, dicken Kapitalisten mit Zigarre und Zylinderhut, der seine Arbeiter in seinen Fabriken quält, wandelt sich zu einer Kämpferin für die Bewahrung und das Überleben des Kapitalisten, und Donald Trump, der sein ganzes Leben lang die Parodie auf das Bild eines altmodischen Bosses darstellte, ist zu nichts weniger geworden als zu einem „Führer des Weltproletariats“.
Die Religion, von der wir ja noch wissen, als was sie damals galt: als „Opium fürs Volk“, oder die Familie, die „knechtet“, die Armee, die „ins Schlachthaus schickt“, das Privateigentum, das „durch Ausbeutung angehäuft“ wird – all das sind heute dem einfachen Volk zugeordnete, tendentiell antielitäre, demokratische und, als wichtigstes, fast schon revolutionäre Werte, die von skandalträchtigen und radikalen Politikern, für die die Erniedrigten und Verstoßenen heute stimmen, als Banner hochgehalten werden.
Die heutige Macht allerdings, oder die heutige Herrschaftsmaxime, wird versinnbildlicht durch einen Menschen, der gar nichts besitzt: Er ist geschichtslos und besitzt weder kulturelle, noch soziale, noch personelle oder sonst irgend eine eigene Identität, und er tritt die frühere, arbeitende Menschheit mit Füßen, um seine eigene Leere weiter zu verbreiten.
Der heutige Herrscher ist bestrebt, eine neue Ordnung zu etablieren, in der es kein Eigentum mehr geben soll – nur noch sowas wie Coliving und Carsharing, und es darf keine Nationalitäten mehr geben, außer ganz kleiner und exotischer, oder fremder; es darf keine Religionen mehr geben, nur noch „ganzheitlichen Erfahrungen“, und keine Armee – nur noch Söldner und Drohnen. Und natürlich keine Familie – nur ein Wirrwarr an „Gendern“, und keine Produktion – stattdessen nur „SEO-Fachleute“ und dergleichen, die Werbung hin und her kopieren, sowie Fachleute für „Gender Studies“, die von Fördermitteln existieren. Und einen Staat darf es auch nicht mehr geben, an dessen Stelle treten Algorithmen und „Community guidelines“.
Was würden wohl die früheren Marx und Engels sagen, würden sie erfahren, dass „der Papst und der Czar, Metternich und Guizot“ des 21. Jahrhunderts ein solch wundersames Set an Werten vertreten, während die „Werktätigen“ der Zukunft sich mit allen Kräften an Dinge wie Familie, Staat, Armee, Nation, Kirche und Fabrik klammern werden… (im Flüsterton: bald auch an Dinge wie Bargeld und Kinder).
Der elitäre, anonyme, robotisierte, demonstrativ leere Kommunismus, der die Milliarden in weißen Hemden und Turnschuhen anleitet, scheucht die unglücklichen Völker in eine strahlende Zukunft, so dass diese nichts sehnlicher wünschen, als die Grundfesten zu erhalten, die sie noch im Jahr 1900 so schonungslos niederreißen wollten.
Die Herren dieser Welt zerhacken mit ihren bolschewistischen Säbeln die Mahagoni-Kleiderschränke, in denen sich die früheren Arbeiter und Bauern furchtsam verstecken.
Sie, und mit ihnen wir alle, werden Abschied nehmen müssen von der Vergangenheit, die vor langer Zeit einmal für die Wenigen einen Wert darstellte. Diese Wenigen nämlich sind es jetzt ausgerechnet, welche nun alle Menschen dieser Werte berauben wollen.
Quelle: kp.ru