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Ruhe in Frieden, gesunder Menschenverstand

In der Neuen Welt hat der Mensch an Wert verloren.

Autor: Dmitrij Olschanskij

19. November 2021

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 5 Minuten

Die industrielle Welt der Epoche der Moderne, also die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts, die vergangene Welt, hatte ihre dunklen Seiten, mit ihr gab es viele Probleme, aber eines kann man ihr nicht in Abrede stellen: Sie brauchte die Menschen.

Diese Weltordnung ging davon aus, dass man für jeden Menschen irgendeine rationale Beschäftigung finden kann, und dass man jedes Land, jede Region entwickeln, überall etwas tun musste, irgendwas herstellen, das wirklich, also materiell und nützlich ist. „Realwirtschaft.“

In jeder noch so beliebigen Pampa – sei es Syrien, Libyen, Irak, in irgendeinem Venezuela oder Mecklenburg-Vorpommern, ganz zu schweigen von schwergewichtigeren Ländern, also wirklich überall – kamen damals junge Majore und Oberste, Präsidenten und Väter der Nation an die Macht, und bauten Fabriken, bauten Straßen, holten die Provinzen aus der Rückständigkeit, bildeten die Leute zu Ingenieuren und Ärzten aus, stampften Panzerbrigaden aus dem Boden und versuchten, sich dem US-amerikanischen, dem deutschen, na, wenigstens dem sowjetischen Lebensstandard anzunähern.

Mit anderen Worten, überall kam sowas wie die Norm auf. Balance und Ausgewogenheit. Überall, wo der Mensch wirkte, manifestierte sich der gesunde Menschenverstand, die Vernunft.

Mitunter natürlich übertrieben, überspannt, woanders auch brutal, wieder an anderer Stelle letztlich erfolglos – aber die Vernunft war eine allgegenwärtige Sache. Die ganze Welt war so.

Dann aber, irgendwann, ist etwas unbemerkt, allmählich und tragisch umgebrochen.

Höchstwahrscheinlich waren die 1980er die dafür verantwortlichen Jahre, als sich zum ersten Mal herausstellte, dass es günstiger ist, Leute zu amüsieren als Dinge zu produzieren, dass es einträglicher ist, mit Zahlen zu spekulieren als Handel zu treiben, dass es profitabler ist, das Chaos zu lenken als echte Menschen anzuleiten.

Und auf diese Weise kam es, dass die alte Weltordnung – ganz egal, ob sie nun kapitalistisch oder sozialistisch, diktatorisch, demokratisch, ob sie nun für eine Nation, eine Klasse oder für wen auch immer gemacht war – damit begann, den Bach herunterzugehen.

Und anstelle dieser Weltordnung setzte sich ein neues, ganz und gar monströses Wesen, das seitdem auf seinem Thron immer fetter und immer stärker wird.

Dieses Wesen braucht Kunden, aber keine Arbeiter, Heranwachsende, aber keine Erwachsenen, Finanzinstrumente, aber keine materiellen Dinge, Kapitalgesellschaften, aber keine Staaten, Nomaden, aber keine eingesessenen Einwohner, Söldner, aber keine regulären Armeen, Millionenstädte, aber keine Länder, Gender, aber keine Familien, Minderheiten, aber nicht die Mehrheit, das Exotische, aber nicht die Norm. Emotionen, aber nicht den gesunden Menschenverstand.

Inzwischen sehen wir auf Schritt und Tritt die traurigen Auswürfe dieses hässlichen Wesens, die Ausscheidungen seiner Vitalfunktionen.

Zum Beispiel die Migranten, die irgendwo in einem Zeltlager harren oder in einem kaputten Boot der Zivilisation entgegenschwimmen: Was ist das Problem mit ihnen? Das Problem ist, dass die Migranten für die Zivilisation der neuen Weltordnung nur eine Bedeutung haben, solange sie migrieren, also nicht säen, nicht pflügen, sondern nur migrieren, und im Idealfall migrieren sie ewig und generieren damit permanent Anlass, über Multikulturalismus, Willkommensgesellschaft, Fremdenfeindlichkeit, Humanismus, das verdammte koloniale Erbe, bunte Identitäten und derlei offiziöse Makulatur zu reden.

Würde aber ein beliebiger von ihnen zu Hause bleiben – mal angenommen, im Irak, in Afghanistan, ganz egal – und die neue Weltordnung zaghaft fragen:

  • Vielleicht sollte ich hier in der kleinen Fabrik arbeiten, die zwei Straßen weiter ist? Dann könnte ich mir letztlich was für eine Wohnung verdienen…
  • Vielleicht sollte ich Lehrer werden, damit würde eine Menge an Kindern wenigstens rudimentäre Bildung und Perspektiven fürs Leben bekommen?
  • Vielleicht sollte ich zum Militär gehen, ich könnte es doch bis zum Regimentskommandeur bringen?
  • Vielleicht sollten wir hier ein kleines Elektrizitätskraftwerk bauen, und dann produzieren wir Autos, verteidigen Dissertationen und sowas?

Die neue Weltordnung würde diesem Dummkopf ins Gesicht lachen.

Deine Fabrik ist ineffizient, wir könnten alle Fabriken der Welt in nur ein einziges Bangladesch packen.

Lehrer bauen wir ab, und wenn Bedarf ist, haben wir Online-Kurse in ganzheitlicher Genderpsychologie und Design.

Armee, mein Junge, das ist Gewalt, und Gewalt ist pfui. Wenn was ist, schicken wir Drohnen und zerbomben ein paar Ställe und Scheunen und sagen dann, dass die Freiheit triumphiert.

Deine Stromkraftwerke schaden dem Klima, Autos umso mehr, aber wir können dir einen Elektroroller schenken; was die Dissertationen angeht, gehen wir wie folgt vor. Kleide dich in Lumpen, je schlimmer, desto besser, spring in ein Boot und komm zu uns geschwommen. Hier begibst du dich in die Innenstadt, hängst in der Bahnhofsgegend herum, brabbelst etwas unverständliches – am besten eine Beschwörung von Mutter Natur, Hakuna Matata. Wie, sowas gibt es nicht? Was für Shakespeare? Komm schon, denk dir ein paar Beschwörungen aus, erzähle notfalls was von Iftar und vom Fastenmonat Ramadan. Und erzähle davon, wie man dich diskriminiert, wie sehr du leidest, und wir geben dir Sozialleistungen, so dass du auch weiterhin in der Innenstadt herumlungern kannst, allerdings nun in abgewrackten Markenklamotten und schön eingedieselt. Und nebenbei verteidigen wir deine Dissertation zum Thema „Transgressive Aspekte im non-binären Diskurs postkolonialer Identitäten“.

Hast du’s begriffen? Los, hol deine Lumpen.

Denn es ist heute so, dass der Mensch keinerlei Wert mehr hat, wenn er bei sich, in seiner Heimat, zu Hause ist, auf seine Arbeit geht – seit Jahrzehnten immer die gleiche – oder auf seiner Erde, in seinem Land lebt, inmitten all dessen, was stabil ist, regulär und vernünftig.

Er, der Mensch, muss sich immerfort zu irgendeinem Ort hin bewegen, der ihm für sein neues Leben bestimmt worden ist, und dort kann er Glück haben – dann macht er eben diese Online-Kurse in ganzheitlicher Gender-Psychologie und Design, das heißt, er wird Leere produzieren; oder er kann Pech haben – dann kann er mit Sozialleistungen rechnen, während er in Markenklamotten und parfümiert in der Gegend herumlungert.

Ruhe in Frieden, Herr Oberst. Ebenso auch Herr Lehrer.

Ruhe in Frieden, Fabrik, gleichwie Stromkraftwerk, Straße, Schule, Auto, und sogar die Panzerbrigade.

Ruhe in Frieden, gesunder Menschenverstand.

Quelle