:chartophylax:

Wenn die ganze Welt falsch liegt

Sollte man sich Sorgen machen, wenn ganze Stadien an Promis gegen dich ansingen?

Autor: Dmitrij Olschanskij

18. April 2022

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 6 Minuten

Es ist dem gemeinen Russen zu eigen, dass er sich leichterhand Sorgen zu machen beginnt und an sich selbst zweifelt, wenn er in den Zeitungen und Blogs eine gigantische Parade von Prominenten – Präsidenten, Schauspielern, Eigentümern von Fabriken und Ozeandampfern, und die ganze Liste herunter bis hin zum Papst von Rom – sieht, wie sie mit zornigen Anschuldigungen gegenüber Russland auftritt und dabei der Ukraine lobsingt. Wenn Myriaden an VIPs, die gesamte Fassade der Menschheit, sagt, dass wir schlecht sind, die Ukrainer aber tolle Kerle – vielleicht haben sie da ja Recht, sie, diese ganzen Anführer, und wir sind tatsächlich eine Art kollektiver Hitler geworden, ein düsterer Fleck auf dem Gewissen der Menschheit? Ist es da nicht an der Zeit, Buße zu tun und uns zu ergeben?

Das Problem besteht indes darin, dass diese bunten Paraden der ausländischen Eliten regelmäßig stattfinden, und es war bereits einige Male so, dass das ganze, also wirklich das ganze anständige Publikum für irgendetwas unzweifelhaft Hehres und Fortschrittliches stritt – und erst zornig forderte, dann, einander an den Händchen haltend, feierte und mitsang, doch schon wenig später stellte sich heraus, dass sich die Realität, gelinde gesagt, von den Propagandabildern unterscheidet.

Der erste Fall dieser zeitgenössischen globalen Kampagnerei lief noch im vergangenen Jahrhundert, es war dies der Kampf der moralisch sensiblen Menschen gegen die Apartheid in Südafrika. Die beiden weißen Republiken, jene Relikte des „verfluchten Kolonialismus“ – also die Republik Südafrika und, noch vor selbiger, das Rhodesien des Ian Smith – waren Zielobjekte einer besinnungslosen Hetze. Man führte Sanktionen gegen sie ein, man veranstaltete Festivals in Stadien gegen sie, und es ging darum, ganz eilig den heiligen Mandela aus dem Kerker zu befreien, mit der mangelnden Gleichberechtigung Schluss zu machen – und schon sollte das Glück allen und jedem, ganz unabhängig von seiner Hautfarbe, beschieden sein. Der Gleichberechtigung, wollen wir einmal annehmen, mangelte es tatsächlich, doch was passierte weiter, als die Hoffnungen des jungen Publikums wahr wurden? Zur Erinnerung: Die Republik Südafrika und Simbabwe wurden zu düsteren Kloaken der Kriminalität, fleischgewordene Dystopien an den Orten, an denen sich einstmals blühende Landschaften befanden. Die niedergedrückten und bespienen Weißen leben, sofern sie ihr Heil nicht in der Flucht gesucht haben, in Reservaten hinter hohen Zäunen, aber auch den Schwarzen geht es nicht etwa besser: Sie schlagen sich mit Bettelei und Raub durch, fallen Seuchen anheim und haben keinerlei Lebensperspektive. Doch davon wollen die Stars in den Stadien nicht mehr singen.

In etwa zur gleichen Zeit kam ein wahrhaft grandioses Thema auf die Tagesordnung: das Ende des Kommunismus. Gorbi, „Rock around the Kremlin“, alle mögliche Glasnost – die ganze Welt war trunken vor Begeisterung und erging sich in nimmer enden wollende Ovationen, als die dumpfbrütende, totalitäre Staatsmacht zu Boden ging, und endlose Delegationen an Politikern, Schriftstellern und wer noch alles bis hin zu schellenläutenden Witzfiguren – selbst die bekamen vor dem Hintergrund der Katastrophe ihre fünf Minuten Ruhm – also, jedenfalls, diese Delegationen haben sich satt gereist, mal nach Moskau, mal nach New York, und produzierten einen ganzen Berg an feierlichem Geschwätz zum Thema Freiheit und lichte Zukunft der Menschheit. Und wiederum die unangenehme Frage: Was war weiter? Alles mögliche, nur eben keine lichte Zukunft. Territorialer Zerfall, begleitet von Kriegen, Pogromen und Zerstörung, der Zusammenbruch der Wirtschaft und finsterste Armut, ein Verfall von Wissen und Bildung, Gangster, Sehnsucht nach der Vergangenheit – egal wer, irgendwer möge dem Leben doch bitte wenigstens Ansätze der früheren Vorhersagbarkeit, Ordnung etc. wiederbringen. Wir haben diese Jahrzehnte hier bei uns durchlebt und wissen noch sehr genau, wie das war. Doch wo sind denn die endlosen Lobsinger auf Gorbi und die Freiheit geblieben, als die Realität ihre Phantasien einfach durchkreuzte? Sie haben sich abgewandt und begannen einfach das nächste Lied. Über den Klimawandel oder die Rechte sexueller Minderheiten. Wir aber blieben da, auf den Ruinen des nicht wahr gewordenen Märchens, das uns von der großen Welt erzählt wurde. Susan Sontag und Václav Havel, all die geistigen Autoritäten stellten sich auf die Seite … ach, ehrlich gesagt, auf egal wessen Seite, Hauptsache gegen die Serben. Kriegsverbrechen wie auch die allgemeine aggressive Haltung gingen wenn, dann nur auf das Konto der Serben, und selbst die Drogen- und Organhändler aus dem nunmehr schon albanischen Kosovo warfen keine Fragen auf, und ihretwegen durfte man bombardieren und jeglichen Separatismus absegnen (den richtigen, im Unterschied zum falschen wie auf der Krim oder im Donbass). Doch hat denn der Zerfall Jugoslawiens viel Gutes gebracht, oder die vom Westen sich selbst gegebene Erlaubnis, im Herzen Europas Krieg zu führen? Inzwischen wird wohl niemand mehr seine Unterschrift unter diesen Pathos vom Ende des vorigen Jahrhunderts setzen.

Zehn Jahre später besang die fortschrittliche Menschheit den „Arabischen Frühling“, die jugendlich-ungestümen Angriffe von Islamisten auf die moralisch überholten lokalen Diktaturen. Die Amerikaner waren von den Vorgängen so begeistert, dass sie nicht einmal ins Stutzen gerieten, als die revolutionären Brigaden ihre eigene Botschaft in Libyen zerstörten – man musste wohl gemeint haben, es handele sich dabei um die bei solchen Vorgängen unvermeidlichen Spesen und Übertreibungen. Die Aufständischen galten als positive Helden, die Diktatoren waren die Böslinge, doch was passierte weiter, als sich der Rauch verzogen hatte? Zwei ewig andauernde Bürgerkriege, die eine Unzahl an Menschen vernichteten, Sklavenhandel und öffentliche Hinrichtungen legalisierten, na, und die glückliche Ausnahme in Ägypten, als das Land nach einigen Jahren Tollerei am Rande existentieller Gefahr zu einer Militärführung zurückkehrte, mit der sich plötzlich alle aus irgendeinem Grunde einverstanden erklärten, wohl, da man einsah: Besser so als in den Armen der Freiheit.

Schließlich sahen wir vor gar nicht langer Zeit jene unglaubliche Verbitterung, mit der die Universitäten und Hollywood-Studios gegen Rassismus und Sexismus zu Felde zogen, wir sahen die ganzen Enthüllungen im Stile von „Me Too“ und das Küssen fremder Leute Schuhe im BLM-Genre. Die Überzeugung der vordersten Länder der Welt, dass es sich bei dieser linksextremen Hysterie um Recht und Gerechtigkeit handelt, war und bleibt durchaus nicht weniger fest, als die Unterstützung Kiews durch genau die gleichen Staaten, Kiews, das sich im Grunde in diesen Reigen einreihte und lediglich seinen eigenen Samowar mitbrachte. Doch was sah, von der Seite betrachtet, das nüchterne Russland? Ein wahres Fest der Denunziation und der Kollektivschuld, die Abkehr von solchen überkommenen Voreingenommenheiten wie der Beweisschuld vor Verurteilung, den Vandalismus und den geschmacklosesten, hastig zusammengeschusterten Pfusch, den man sich denken kann. Dabei denken „sie“ – also wirklich alle „dort“, von den Ministern bis hin zu den Schauspielern, ja heute noch, dass das so sein muss, nach dem Motto: Wir werden auch weiterhin unsere Reihen von den Ausbeutern und Kolonisatoren reinigen, von diesen weißen Männern. Werden denn aber von dieser Selbstsicherheit deren „Me Too“ mitsamt dem BLM weniger ekelerregend?

Und nun belehren uns genau dieselben besten Menschen des Planeten, die ganzen Oskar-Preisträger und Eurokommissare, dass wir, die Russen, das Böse sind, während der pathologische Sadismus und der antirussische Ansturm des ukrainischen Kalifats das Gute schlechthin wären. Ein genau solches Gutes, wie es vorher bereits Simbabwe und die Freischärler der postsowjetischen Gamsachurdien, die Repressalien gegen die Serben, die Brände der Kriege in Nahost und die Polizisten, die vor Verbrechern auf Knien stehen. Vielen Dank, liebe Vorgesetzte und übrige VIPs, für eure freigebigen Belehrungen, für jene Leidenschaft, mit der ihr zu Ehren der terroristischen Staatsmacht am Dnjepr den Gopak tanzt. Aber lasst uns lieber bei unseren Verirrungen bleiben.

Die Welt liegt falsch, und Russland hat recht.

Und wenn es für unsere Sache notwendig sein sollte, sich von der westlichen Welt abzukehren – wohlan, so soll es eben sein.

Quelle: octagon.media