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Die Revanche der Weltenkröte

Nun sitzt wieder die fette, häßliche Weltenkröte auf der Brust der Menschheit und gibt ihr süße Träume ein.

Autor: Dmitrij Olschanskij

25. November 2022

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Es gibt etwas Wichtiges, das sich in den vergangenen zehn-zwanzig Jahren in der Welt verändert hat.

Nein, ich meine damit keine politischen Änderungen – nicht all diese Kriege und Revolutionen, Krisen, Wahlen, Dollar hier, Erdöl da, und die mit Fahnen über die Plätze rennenden Menschenmassen. Ich rede von psychologischen Veränderungen – von mentalen, sinnlichen Veränderungen, – die Millionen von Menschen dazu bringen, das Leben auf andere Weise wahrzunehmen und Dinge wie Gut und Böse, Freiheit und Mode, Nonkonformismus und Fortschritt, die Macht, die Heimat und das Ausland, na, und schlussendlich auch sich selbst, auf inzwischen vollkommen andere Weise zu betrachten.

Der Philosoph Konstantin Krylow1, mein inzwischen verstorbener Freund, mochte den Ausdruck »Weltenkröte« – den er, wenn ich mich nicht irre, auch selbst geprägt hat – mit dem er das düstere Reich des Globalismus und einer gewissen weltweiten Hegemonie bedachte. Das ist eine gut gewählte Metapher – sie bezeichnet keinerlei verschwörungstheoretische Sachverhalte, kommt ganz ohne Rothschilds und Rockefellers, Juden und LGBTIQ+, Freimaurer und Bill Gates aus, – sie malt einfach das Bild einer großen und ziemlich widerwärtigen Kröte, die der Menschheit auf der Brust sitzt, dabei aber ihr, der Menschheit, angenehme Träume einzugeben weiß.

Nun denn, man muss zugeben, dass die 2010-er Jahre, und folglich die Realität, mit der wir es jetzt zu tun haben, die Zeiten eines neuen und unerwarteten Triumphs dieser Kröte geworden sind. Eines Triumphs, den nur kurz zuvor noch nichts angedeutet hat.

Kehren wir ins Vorgestern zurück.

Ungefähr das Jahr 1989 war die Zeit des absoluten Triumphs der Werte, die man am einfachsten als »westlich« bezeichnet. Die Sowjetunion ist mitsamt all ihren Satelliten zusammengebrochen, und mögen auch hie und da irgendwelche Kommunisten verblieben sein, so haben sie sich entweder in einer kleinen, absurden Welt verkrochen, in sowas wie Nordkorea, oder aber sie haben sich in vollkommen bourgeoise Typen verwandelt. Gleichzeitig sind fast überall (vielleicht mit Ausnahme der ehemals sowjetischen Randgebiete) auch die Nationalisten in den Hintergrund getreten: All die Streiter für ihr unabhängiges, stolzes Heimatland, für die Tradition und wessen besonderen Weg auch immer – den lateinamerikanischen, arabischen, afrikanischen – sie alle büßten an Popularität ein, verkauften sich gegen geheimes Cashback an die Konzerne und gingen all ihres romantischen Pathos verlustig. Gleiches gilt auch für die religiöse Alternative zum liberalen Kapitalismus – hat eine solche irgendwo beträchtliches Ausmaß gewonnen, dann nur außerhalb der christlichen Zivilisation, irgendwo in den fernen Bergen und Wüsten, in den Ländern, wo man sich von Kopf bis Fuß in Lappen hüllt.

Alles in allem aber kam es zum allgemeinen Einvernehmen darüber, dass man so leben sollte, wie es Opa Reagan und Oma Thatcher gelehrt haben, das heißt: Handel treiben, konsumieren, Geld verdienen, reisen, in Wettbewerb stehen – und nicht über die verschiedenen verwerflichen Materien nachsinnen, die sich außerhalb nicht nur des rationalistisch-materialistischen, sondern auch noch außerhalb des vom bekannten Set an Staaten diktierten Weltbilds befinden.

Und es wäre ja alles gut und schön, doch schon recht bald wandelte sich die massenhafte Freude über das Ende des Kalten Krieges in Langeweile und Enttäuschung. Es stellte sich heraus, dass der Konsum, der Kredit und die Ablösung von Hinz durch Kunz bei den Wahlen zwar natürlich notwendig, nützlich und vernünftig sind, aber das eben noch nicht alles gewesen sein kann. Doch gab es nichts, was die durch den kollektiven Westen geschaffene Realität darüber hinaus noch anzubieten hatte.

Ich erinnere mich an diese Empfindungen von vor ungefähr zwanzig Jahren. Es passierte vieles, was angenehm war: Die Modems machten das Internet immer schneller, die Bürger legten sich Mobiltelefone zu, und die Bürosachbearbeiter entdeckten exotische Reiseziele für sich, und selbst in weit entfernten Provinzen des Großen Marktes – zum Beispiel in der Provinz Moskau – entstanden Ikea-Märkte, auf Schritt und Tritt gab es nun Cafés, die Banken steckten einem alle naselang Geld zu (der Zinssatz immer kleingedruckt), und in den Kaufparks, die anstelle der moralisch hoffnungslos veralteten Architekturdenkmäler entstanden, zog sich das Volk, Popcorn kauend, Filme von Sir Peter Jackson rein. Und das alles lief ja nicht nur in Russland so.

Man könnte ja fragen: Womit sollte man denn da unzufrieden sein? Vor allem, wenn man das aus einer Zukunft betrachtet, die von Quarantänen, Sanktionen, Flüchtlingen und geschlossenen Grenzen bestimmt ist.

Jedoch war es eben so, dass sich in dieser glücklichen Welt Jahr ums Jahr Ärger anstaute, der natürlich mit dem stillschweigenden hierarchischen Aufbau dieser eigentlich komfortablen Ordnung zusammenhängt, und mit einer sich vergrößernden Ungleichheit, wenn nämlich die einen geographischen und politischen Zentren, Berufe und Bruchstücke der Gesellschaft von Geld, Erfolg und Fröhlichkeit überflutet werden, während die anderen verarmen und verkommen. Ganz und gar unangenehm wurde ein solcher Erfolg dann, wenn liberale Aktivisten über die Welt rannten und ihren »Protest« demonstrierten, gleichzeitig mit ihrer Jugend und Schönheit angaben und damit, dass, so nach dem Motto, die allerbesten Menschen alle hinter ihnen stehen, während diejenigen, die dagegen sind, folglich nur eine Art Schimmelpilz auf der Menschheit sein müssten.

Es knallte gleich an mehreren verschiedenen Orten – und, gelinde gesagt, auf verschiedene Arten. In der Ukraine mit unserer direkten Beteiligung. In Amerika, als Trump die dortigen Unzufriedenen um sich versammelte. Im Orient, wo die scheußlichen Isisse und Talibane die Rolle der Revolutionäre übernahmen. Selbst in Osteuropa – mal in Polen, mal in Ungarn, oder auch in Italien – wählte man immer wieder „die Falschen“, und diese ihrerseits taten etwas „Falsches“ (das heißt: etwas, was vom Standpunkt des nervigen Globalismus aus betrachtet unrichtig ist).

Trotz alledem hat die Weltenkröte nach der langjährigen, allmählichen Niederlage ihre Revanche bekommen; sie ließ sich einfallen, wie man es so einrichten kann, dass die frischen, kaum erwachsen gewordenen Generationen sich wieder in die westliche Welt verlieben und sich noch fester an sie binden als die, welche damals zwar Cola, Ikea, Kredite und Dolby Stereo zur Verfügung hatten, aber eben nicht mehr als das.

Die 2010-er Jahre – und das stellte sich erst heraus, als sie bereits vorüber waren – kamen mit zwei Hauptgeschenken.

Eines davon ist das Smartphone mit den sozialen Netzwerken. Die Kolossalität dieser Erfindung besteht darin, dass während früher der Normalbürger Erfolg, Schönheit, fremder Leute Glück, sexuelle Anziehung, Reisen etc. als eine hierarchisch aufgebaute Struktur wahrnahm, in der es das Fernsehen, Zeitschriften, Models, Vorgesetzte, Prominente gab – oder kurz: Der Zugang dazu war halb verwehrt – so wurde all dieser Glamour nun demokratisiert und fand in seinem eigenen »Instagram« in der Hosentasche Platz. Wozu noch die »Vogue«, wenn du dein eigenes »Vogue« sein kannst? – sagte die Kröte und überreichte dem Normalbürger ein Iphone, so dass nun jeder, der das braucht, wenigstens imitieren kann, was er vorher nicht einmal berühren konnte, darin oft genug erfolgreich ist und stürmischen Beifall erntet.

Die andere mächtige Neuerung besteht in der neuen Ethik, die, welche man früher als „politische Korrektheit“ bezeichnet hat. Es scheint ja, als stünde im Mittelpunkt dieser neuen Lehre ganz offensichtlicher Irrsinn – Transgender mit dem Recht auf fremder Leute Klos, der Abbruch von Shakespeare- und Columbus-Denkmälern, die vor den ewig migrierenden wilden Stämmen grenzenlos schuldig sind und so weiter – aber die jetzigen Jungs und Mädel fangen sogleich den Ball, der ihnen von dort aus zugespielt wird. Die neue Ethik – psychotherapeutisch darauf ausgerichtet, eine jegliche Nicht-Norm zu rechtfertigen – gestattet es jedem, verwundbar, seltsam – und stolz darauf zu sein, gestattet es, narzisstisch zu nölen. Du bist schief, ich bin krumm, wir stottern, wir verlassen unsere Wohnung nicht, färben uns die Haare grau-braun-himbeerfarben, essen nur Gras, heiraten Helden aus Computerspielen und mögen geschlechtergerechte Sprache (von wegen nur die gewohnten »Ärztin« und »Autorin«, jetzt gibt es tote Radfahrende, feiernde Studierende etc.) – und nun haben wir auf all das ein offizielles Recht, das uns von der erwähnten Kröte verliehen worden ist.

Im Endeffekt haben wir also jedermanns Verbindung mit der lichten Welt der Unterhaltung, manifestiert durch das Iphone mit Instagram, und eine analoge Verbindung mit der dunklen Welt des Narzissmus und des gespielten Leids, die durch die Tagesordnung der »neuen Ethik« gegeben ist.

Die Jugend aber, die eine leichte, bequeme und sofort zu begreifende Möglichkeit bekommen hat, mal sich zu amüsieren, mal zu nölen – und das nicht allein, sondern solidarisch mit der ganzen globalen Ordnung – wird sich selbige nicht mehr aus der Hand nehmen lassen.

Und bei der Gelegenheit bekommt man, im Paketpreis inbegriffen und genauso klein gedruckt wie der Zinssatz bei den Kreditverträgen, die politische Propaganda.

Du magst doch Instagram? Und wenn du, umso mehr noch, über deine »Traumata« zu sprechen magst, dann kommt es irgendwie ganz unbesehen so, dass du auf der Stelle alles hinschmeißen und nach Tbilissi fliehen musst, während du mit dem „ukrainischen Freiheitskampf“ sympathisierst. Dieses Zusammenspiel erfolgt sanft, ganz ohne die Grobheit eines Megafons aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und es funktioniert gerade wie angedacht (und für wen es gedacht ist). In jedem Fall sehen wir ja bereits eine ganze Masse an Leuten, die erfolgreich durch die ganze Kette gereicht worden sind: die sozialen Netzwerke – die psychotherapeutische »Selbstverwirklichung« – die liberale Pose. Und diese von der Weltenkröte angeworfene Fabrik kennt keine Feiertage.

Was sollte man nun damit machen? – könnte man jetzt fragen.

Nichts. Nur nachdenken.

Und vielleicht irgendwann einmal darauf kommen, was uns dabei helfen kann, uns für diese fast schon verlorene Partie zu revanchieren.

Quelle: octagon.media


  1. Konstantin Krylow (1967-2020), russischer Philosoph und Publizist – Verm. d. Ü.