Unsere Schwachstellen
Davon, welche Unannehmlichkeiten Russland in seinem gegenwärtigen Duell mit der Ukraine - aber nicht allein darin - behindern.
Autor: Dmitrij Olschanskij
22. Dezember 2022
Russland Ukraine GesellschaftLesezeit: ca. 7 Minuten
Das vergehende Jahr 2022 ist vielleicht nicht das schwierigste, mit Sicherheit aber das besorgniserregendste der dreißig-und-zerquetschte Jahre gewesen, in denen wir in der postsowjetischen Welt leben. Und indem ich nun von diesem Jahr Abschied nehme, möchte ich mich von der überschwänglichen staatlichen Propaganda abwenden, welche, wie es sich für sie geziemt, von einem Erfolg zum nächsten voranschreitet, und einmal davon sprechen, was uns nicht gelingt. Davon, welche Unannehmlichkeiten Russland in seinem gegenwärtigen Duell mit der Ukraine behindern – aber nicht von Kanonen und Panzern, von denen ich keine Ahnung habe. Sondern von den Menschen, von jenen Ideen und Sinnbildern, und von der Einstellung, welche durch diese hervorgebracht wird, wenn sie die Geschichte bestimmen.
Wir besitzen kein soziales Eichmaß. Keinen populären, von überallher erkennbaren Typ Mensch, der allen als Vorbild gelten könnte. Als Moskau sein entschlossenes Vorhaben an den südwestlichen Grenzen verkündete, hieß es, dass es nicht allein um das Schicksal der Gebiete um Donezk und derer am Asowschen Meer geht, sondern um einen Konflikt ganzer Systeme. Wir würden, so nach dem Motto, nicht nur die zu uns gehörenden Kilometer von Dörfern und Bergehalden wieder zurückholen, sondern auch das politische Monopol der westlichen Welt anfechten. Aber wer genau ist es, der es anficht, und wodurch lässt er sich leiten? Wer genau hat denn in diesem Film die Hauptrolle? Der Revolutionär mit Zwicker und Lederjacke, der religiöse Fundamentalist mit Rauschebart, oder der exotische, rittlings einem Bären aufsitzende russische Recke? Russland hat in seinem antiamerikanischen Aufbegehren weit ausgeholt, aber dessen Dimension allein verleiht ihm, diesem Aufbegehren, keine Substanz. Und es besteht derzeit einfach keine Möglichkeit zu sagen, dass ein Held unserer Zeit mit Anspruch auf den Sieg – nach dem Rückzug von 1991 – endlich da wäre. Man kann ihn einfach nicht erkennen.
Wir hatten einfach keinerlei theoretischen Unterpfand für die jetzige raue Praxis.
Dem Gegner sind die aus dem Ausland geschickten Waffen selbstredend behilflich, aber er besitzt darüber hinaus ein starkes sinnliches Motiv; er, dieser Gegner, welcher das uns gemeinsame Land seinerzeit lediglich als letzten Zipfel in seiner Kindheit mitbekommen hat, lebt seither schon viele Jahre lang im Rahmen eines Weltbilds, in dem die Masepas1 und Petljuras2 heldenhaften Widerstand gegen die Invasionen der nördlichen „Kazapen“3 leisten. Er wurde über lange Zeit dazu inspiriert, Kampfhund des Westens im östlichen Grenzland und Verteidiger einer stolzen Nation zu sein, und nun ist das eben eingetreten, ist Wirklichkeit geworden. Wodurch wurde aber der russische Mensch inzwischen inspiriert? Wahrscheinlich durch Geld, globalen Erfolg, durch all das, was noch vor zehn-fünfzehn Jahren mit dem inzwischen verblichenen Begriff „Glamour“ bezeichnet wurde und ihm neuerdings plötzlich von außen verwehrt wird. Die Ukraine brachte ihren Menschen in der gesamten postsowjetischen Zeit ihre abgesonderte Stellung bei, aber es waren ja auch wir, die wir in vollkommenem Einvernehmen mit ihr gar nicht einmal versucht haben, diese Welt, in der ihre Absonderung als sakral gilt, irgendwie anzugreifen – nein, wir hielten unsere eigene Niederlage hoch. Und dann haben wir es uns plötzlich anders überlegt.
Bei uns gibt es keinerlei Zuversicht darüber, dass die neue Politik unumkehrbar wäre. Um diese Zaghaftigkeit, diesen Zweifel der Vorgesetzten nachzufühlen, genügt es schon, sich einfach in den Strudel zufälliger Nachrichten zu begeben, wo es auf Schritt und Tritt mal erniedrigende Liebedienerei vor der „Weltgemeinschaft“, mal verzweifelte Versuche gibt, irgendwelche offenkundigen Trittbrettfahrer zurück ins Land und in Amt und Würden zu holen, bei denen man sich von vornherein sicher sein kann, dass sie nicht nur die Heimat, sondern gleich dazu noch einander bis aufs letzte Haar verraten und verkaufen werden. Das Russland des Jahres 2022 verhält sich wie ein in einen Sumpf geratener Mensch: Macht einen großen Sprung, bleibt dann aber stehen, sieht sich um, stochert mit einem Stock bestürzt den Boden um sich herum ab, versucht, einen Schritt zurück zu machen. Und es scheint, als würde immer noch die Illusion herrschen, dass nur noch ein klein wenig, noch hundert Meter, noch ein Tag, ein Monat – und dann endlich rufen diese ganz wichtigen Ausländer im Kreml an und schlagen etwas Derartiges vor, womit man den Bauchladen des Konflikts zumachen und wie in alten Tagen, einträchtig, Yacht und Erdgas-Pipeline umarmend, weiterleben kann. Aber was ist, wenn niemand anruft?
Wir haben die Frage nach der russischen Nation immer noch nicht geklärt. Es ist ein erstaunliches Paradoxon: Russland, das der provinziellen, doch recht armseligen ukrainischen Identität widersteht, Russland, das tausend und mehr Jahre russischer Geschichte und Kultur in seinem Repertoire hat, versucht plump und unsinnig, seine eigene Identität unter dem Deckmantel mal der dahingeschiedenen sowjetischen, mal dem einer nicht existenten „eurasischen“ Zivilisation zu verbergen. Ist aus irgendeinem Grund dazu gezwungen, nicht es selbst zu sein und der windschief zusammengezimmerten, aber dafür simplen und verständlichen ukrainischen Nation wer weiß was, eine Chimäre aus Phantasien entgegenzustellen. Hier muss angemerkt werden, dass selbst Stalin, als er sich im Epizentrum des Weltkriegs wiederfand, gezwungen war, diese ganzen Internationalen und Kominterns mit den übrigen Bruderschaften der Werktätigen zu vergessen und gerade eben den russischen, und nicht etwa irgendeinen „gerechten und für alles Gute“ eintretenden Patriotismus zu rehabilitieren. Und man kann ihn auch verstehen: Damals ging es an die Substanz. Es sieht wohl so aus, als hätte der jetzige Hahn noch nicht dreimal gekräht, wenn alles Russische immer noch inoffiziell verboten ist.
Bei uns herrscht die Trägheit. Das Land wird wie in Zeitlupe regiert: Die richtigen Entscheidungen werden mit einer derartigen Verspätung getroffen, als würden sie am anderen Ende der Galaxis beschlossen, und die diversen politischen Inhalte, angefangen von irgendwessen Reden bis hin zu Werbung für die Streitkräfte, hinterlassen einen solchen Eindruck, dass es geradezu unmöglich ist, nicht an den kommunistischen Agitprop von vor ungefähr vierzig Jahren zu denken, als „die Partei, unser Steuermann“ die festgesetzten Texte mit der Leidenschaft und Verve eines Zombies vor sich hin brabbelte. Man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass die Ukrainer, bei aller Abneigung gegen ihre Staatsmacht, als auch die Gestalten aus unseren neunziger Jahren, eigentlich ja renommierte Gauner, uns im Bereich des Einfallsreichtums, des Eifers und der Betriebsamkeit weit voraus sind: Sowohl im einen, als auch im andern Fall wissen die jeweiligen Anführer nur zu gut, dass sie entweder ihr Umfeld vom Recht und Erfolg ihrer Sache überzeugen können, oder aber sie gehen gleich jetzt und hier hops. Das derzeitige Moskauer System jedoch schwebt in vollkommener Ruhe. Es ist sich sicher, dass es keinen Grund zur Eile und niemanden zu fürchten hat. Daher auch seine atemberaubende Geschwindigkeit, die in der Tierwelt für Schnecken und Schildkröten charakteristisch ist, aber auch die Geistesschärfe seiner Einfälle und die Qualität ihrer Umsetzung. Den Leuten geht’s doch gut, was wollt ihr noch?
Bei uns draußen haben wir immer noch den Feudalismus. Na, meinetwegen in Anführungszeichen: „Feudalismus“, aber davon wird das Problem nicht beseitigt.
Die Spielregeln gestalten sich so, dass ein Mensch ohne ein schwerwiegendes Amt nichts als eine entbehrliche Kleinigkeit ist, und selbst ein Gegner ist immer noch besser als ein Initiant. Die Spielregeln gestalten sich so, dass ein Lakai allenorts und vor allen anderen Dingen an das Wohlergehen seines Herrn denkt und nur ihm allein Rechenschaft schuldig ist und nicht etwa den Wählern alias den Bürgern alias den Steuerzahlern, also den überflüssigen Menschen. Die Spielregeln gestalten sich so, dass es besser ist zu verlieren, sich zu blamieren, alles und überall in die Binsen gehen zu lassen, dafür aber die Kontrolle über seine kleine, geheime Parzelle zu behalten und die Beziehungen zu denen zu erhalten, die dich eingesetzt haben, oder mit denen, die du eingesetzt hast; besser verlieren, aber dafür niemanden ranlassen, denn was soll denn das, wer seid ihr überhaupt, wir kennen euch nicht. Solche Regeln schließen eine Auslese der Besten aus und garantieren fast die Wahl der Schlechtesten, und sie führen nirgendwohin, solche Regeln. Wüssten wir, wie wir diese Regeln aufheben und an ihrer Stelle eine Welt der Verantwortung und des Wettbewerbs schaffen, dann wären wir glücklich, aber es gibt nichts, woher wir dieses wertvolle Wissen beziehen könnten.
Alles hierüber gesagte wird nicht angeführt, um die eigene weiße Weste vor dem Hintergrund der schmutzigen staatlichen Wattejacke zu demonstrieren.
Es ist alles viel einfacher. Wir wollen siegen.
Und eine gesamtnationale Niederlage – die dritte innerhalb von etwas über hundert Jahren und womöglich die finale unserer Geschichte – wollen wir aus irgendeinem Grunde nicht erleben. Geb’s Gott, so wird sie auch nicht eintreten.
Aber dafür müsste man mal was ändern.
Quelle: octagon.media
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Iwan Masepa (1639-1709), Hetman der Saporoger Kosaken, gilt aufgrund seines Seitenwechsels von Russland zu Schweden im Bulawin-Aufstand von 1707 als Prototyp eines Verräters, bei den heutigen Ukrainern als Nationalheld – Verm. d. Ü. ↩
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Simon Petljura (1879-1926), zeitweise Führer einer ukrainischen Eigenstaatlichkeit, im polnisch-sowjetischen Krieg 1919-1921 auf polnischer Seite. Wurde der Anstiftung zu Judenpogromen beschuldigt und „aus Rache“ für Pogrome von Scholom Schwartzbard ermordet. In der heutigen Ukraine Nationalheld – Verm. d. Ü. ↩
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in der Ukraine verwendete abwertende und verächtliche Bezeichnung für Russen – Verm. d. Ü. ↩