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Des Alexanders ewige Wahl

Warum Russland sich nach achthundert Jahren wieder vom Westen abwendet und nach Osten orientiert

Autor: Dmitrij Olschanskij

23. Februar 2023

 Russland   Ukraine   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Die Reden über den Frieden, den Humanismus, über die Beendigung aller Zwietracht und alles menschlichen Leids an der Front und jenseits selbiger, oder kurz: die Reden über den Wohlbestand der Lüfte, die wir in großer Menge von Seiten der progressiven Menschheit zu hören bekommen, scheinen ja an sich angenehme Darbietungen zu sein, doch hin und wieder möchte man den nächsten gewichtigen Redner unterbrechen und fragen: Wie genau möchten Sie das denn umsetzen? Und was ist dann weiter?

Vor allen anderen Dingen ist es längst klar, dass unsere ehemals einheimischen, inzwischen aber bereits eine neue Heimat gefunden habenden1 Friedensstifter durchaus nicht für den Frieden an sich eintreten, also nicht etwa für einen Waffenstillstand und eine Beilegung des Konflikts auf Basis von wenn schon nicht eines allseitigen Kompromisses, so doch wenigstens eines »Einfrierens« im gegebenen Status quo. Nein, sie streiten ja gerade und ausschließlich für einen militärischen Sieg der Ukraine – mitsamt einer Kapitulation des unguten Russland, einer Einpferchung der Russen und einer Entnahme russischer Lande unter die Herrschaft des Hetmanats plus Reparationszahlungen zur Buße. Sehr gut: Nicht von ungefähr gibt es in der Geschichte unseres Schrifttums die Figur eines Smerdjakow2; der Wunsch nach Niederlage des eigenen Landes und Abschluss eines Friedensvertrags von Brest ist eine Einstellung mit großer Tradition, mag sie auch aus der Sicht mancher etwas hässlich anmuten. Aber, um es zu wiederholen: Was weiter? Mal angenommen, wir sind erniedrigt, geschmäht und zerschlagen, wir kriechen auf Knien und lobsingen das große Ausland, und gleichermaßen die siegreichen Kiewer Kosaken, doch worin besteht nach Ansicht der Friedensstifter die weitere Perspektive?

Die Antwort ist offensichtlich: Eine Rückkehr zur vormaligen Existenz innerhalb der politischen Rahmenbedingungen der westlichen Welt, einer Existenz auf deren Geheiß und nach deren Regeln. Eine Rückkehr ins Jahr 1991. Und hier wäre es angemessen zu fragen: Wenn Sarah einverstanden ist, was will der Herzog dann noch? Mit anderen Worten, worin genau besteht die Rolle des »erneuerten« (also des zerschmetterten) Russlands innerhalb des gemeinsamen westlichen Häuschens, und was will dieses Häuschen von uns?

Das propagandistische Megafon der progressiven Gesellschaft wird uns den entsprechenden Text herunterrattern: Die westliche Welt will, so nach dem Motto, von uns nichts weiter, als dass wir gut, offen, demokratisch sind und niemanden mit Atombomben reitenden Bären bedrohen, und so werden wir überall nichts als Freunde haben, die unser Glück wünschen. Und während einem vernünftigen Menschen eine solche Erklärung ein wenig idiotisch erscheint, so ist die »Gesellschaft« damit durchaus zufrieden.

Allerdings möchte man diese Frage – wie wird sie denn tatsächlich aussehen, die auf fremden Interessen gegründete Alternative zur gegenwärtigen Ordnung – nun auch einmal ernsthaft klären.

Die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, die Erfahrung der Staaten, welche von auswärts durch die Amerikaner und ihre Verbündeten gesteuert wurden, läuft darauf hinaus, dass sie als militärischer Vorposten gegen den Kommunismus dienten, manchmal aber auch, wenn sie großes Glück hatten, als Schaufenster der antikommunistischen Errungenschaften des Kapitalismus. Das Spektrum der Möglichkeiten war hier gar nicht so eng gefasst – die Schicksale Deutschlands und Japans unterschieden sich merklich von den Schicksalen der Regimes eines Batista, Somoza oder der südvietnamesischen Kameraden; wie dem auch sei, derzeit gibt es nichts mehr, was dem sowjetischen Kommunismus, also einem globalen Konkurrenten des Westens im Sinne der Werte und einer Zivilisation, irgendwie nahekommen würde, folglich ergibt es keinen Sinn, sich jetzt noch nach Vergangenem umzusehen.

Der Westen hat keinerlei wirtschaftlichen Bedarf an uns. Einen solchen Bedarf haben natürlich Staaten der Art von Ungarn oder Italien, also die, welche gern unser Erdöl-Erdgas kaufen oder uns ihre Produkte verkaufen wollen, aber es sind eben nicht die Staaten, welche die wichtigsten Entscheidungen treffen. Die aber, welche sie treffen, brauchen weder Erdgas, noch die Lokalisierung ihrer Produktionen in Russland, umso weniger noch den Massenimport von Menschen aus unserem Land (mit Ausnahme vielleicht einzelner, herausragender Fachleute), oder – lächerlich, das überhaupt zu erwähnen – die freigebige Verteilung irgendwelcher Technologien und der übrigen nützlichen wirtschaftlichen Lösungen an uns.

Eine Einladung Russlands in die gesamtwestlichen militärpolitischen Strukturen, also in die EU und in die NATO, ist Phantasterei. Die Eurokommissare versuchen auch schon ganz ohne die Russen, ihren Kuchen nicht mit den Ukrainern teilen zu müssen, zumal es auf ihrem Hof ohnehin bereits Spannungen zwischen Arbeitern und Essern gibt: Deutschland funktioniert noch ganz gut, am Tisch sitzen aber und fordernd mit den Löffeln klappern Griechenland, Rumänien, Albanien, Kosovo, Bosnien, irgendwo in der Ferne zeichnet sich noch Moldawien ab, und dazu gilt es ja noch, die baltischen Staaten auszuhalten. Kurz, Europa wird sich das riesige und komplizierte Russland nicht auch noch aufhalsen lassen. Was die NATO angeht: Es wäre doch sehr eigenartig, ginge man davon aus, als würden die westlichen Militärs – die, gelinde gesagt, nicht die größte Lust verspüren, selbst irgendwelche Kriege zu führen – die kollektive Verantwortung für die Sicherheit Russlands übernehmen wollen, Russlands mit seinen schier endlosen Festlandgrenzen und seinen problematischen südlichen Nachbarn. Es wird uns also niemand irgendwohin aufnehmen, selbst wenn wir lautstark Buße täten für all unsere Sünden seit den Zeiten des Fürsten Rjurik.

Und schlussendlich noch dieses skandalträchtige Thema: das Verwaschen nationaler Identitäten, die Abschaffung konservativer Vorurteile, Beitritt in den Reigen des Posthumanismus, der von einem Spiel der Gender, Pride-Paraden, Psychotraumata, ökologischer und klimawandlerischer Initiativen etc. lebt. Dieser Strudel scheint im Falle unseres Fiaskos unausweichlich, allerdings ist er nicht das Ziel, sondern wäre lediglich ein Kollateralschaden. Es ist freilich nicht anzuraten, sich allzu sehr von den verschwörungstheoretischen Meldungen aus dem Fernsehen mitreißen zu lassen und zu glauben, dass Gender als solches, die Mülltrennung und die ständige Nabelschau zwecks Tilgung von Relikten des Patriarchats und des Kolonialismus sich selbst genügende Motive sind, mithilfe derer Fremde über uns herrschen. Selbstverständlich werden sie diese ganze Pracht mit uns teilen – darum ist es ihnen ja nicht schade, das ist ja nicht dasselbe, wie Neulinge in die Europäische Union aufnehmen – aber diese Dinge existieren, damit ganz andere, wesentlich größere Dinge vonstattengehen.

Was ist es dann aber, was übrig bleibt? Was ist denn „das friedliche Zusammenleben mit dem Westen“, mit dem man uns locken will?

Um das ganze traurige Bild zu sehen, genügt es, wenn man sich die Ukraine betrachtet. Sie ist die beste Illustration dafür, weshalb das märchenhafte Ausland unserer bedürfen könnte.

Die äußere Welt hat keinen Bedarf an einer ukrainischen »Freiheit und Demokratie«, und würde selbst ohne deren Metallurgie, deren reiche Ernten oder deren Gastarbeiter auskommen. Die Ukraine ist ein Kampfhund, der gegen Russland abgerichtet wurde, und Aufgabe dieses Kampfhunds ist es, die Russen zu schwächen und sich selbst dabei zu opfern.

Genau das wäre die eigentliche Aufgabe eines künftigen (Gott verhüte es!) besiegten Russlands.

Heldenhaft im Kampf gegen den neuen Gegner des Westens zu fallen, diesem dabei in selbstmörderischer Schlacht maximalen Schaden zuzufügen – das wäre unsere Mission.

Und dieser Gegner ist, wie man leicht erraten kann, China.

Um dieser ehrenhaften Aufgabe willen – sich an den Chinesen umzubringen – werden die Russen von ihren selbsternannten liberalen Freunden auch einige Technologien bekommen, man wird die Augen vor der Korruption verschließen und sogar einzelnen Vorgesetzten ihre dunkle Vergangenheit verzeihen, aber nur denen, die dazu bereit sind, sich behände umzuorientieren. Und – obwohl das nicht das Wichtigste ist, trotzdem ist es ein rühriges Detail – man muss weder Nostradamus noch Svedenborg sein, um jetzt schon vorherzusehen, wie die heutigen Pazifisten und Tolstojaner sich flugs in militante Patrioten wandeln, sobald es darum geht, dass Moskau für die Interessen Amerikas gegen Peking Krieg führen müsse. O, wie feierlich werden sie Tarnkleidung anlegen, wie freudig werden sie Memes veröffentlichen, durch die sie dazu aufrufen, sich für die Heimat zu erheben.

Es bleibt nur zu beten, dass wir nicht in diesen bodenlosen Abgrund stürzen.

Es gibt im russischen Heiligenkalender dafür übrigens einen besonderen Heiligen – natürlich den heiligen Alexander Newski. Er stand seinerzeit vor einer ähnlichen Wahl: um Hilfe im katholischen Westen ersuchen, um sich und die Rus gegen die Horde schmettern zu lassen, oder einen Kompromiss mit der Horde einzugehen und stattdessen an der nordwestlichen Grenze Krieg zu führen.

Seine Entscheidung ist allseits bekannt, wie auch sein Motiv. Erstens drängt uns der Osten nicht auf, wie wir zu leben und woran wir zu glauben haben. Und zweitens ist der Osten damals einfach zu stark gewesen (ganz so, wie heute wieder), während der Westen sowohl ideologisch unerträglich, als auch unfähig dazu ist, bis zum Letzten zu kämpfen, da er in innere Konflikte verstrickt ist.

In den fast achthundert Jahren hat sich nichts geändert.

Außer, dass es neuerdings verlogene Friedensstifter gibt.

Fürst Alexander musste, zu seinem Glück, nicht deren salbaderndes Gerede ertragen.


  1. Gemeint sind diverse liberale Vertreter und Macher der öffentlichen Meinung in Russland, die in jüngerer Vergangenheit das Land verlassen haben. – Verm. d. Ü. 

  2. Figur aus „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor M. Dostojewski. Smerdjakow ist Sinnbild für Feigheit, Infamie und Hass gegen Russland. S. dazu z.B. das Kapitel „Smerdjakow mit der Gitarre“: „Im Jahre zwölf war der große Überfall des französischen Kaisers Napoleon des Ersten auf Rußland (...) und es wäre gut gewesen, wenn uns diese Franzosen damals unterworfen hätten. Eine kluge Nation hätte dann über eine sehr dumme gesiegt und sie sich einverleibt. Und wir hätten dann auch eine ganz andere Ordnung. (…) Das russische Volk muß durchgepeitscht werden …“, usw. – Verm. d. Ü.