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Acht Gesichter einer Schlacht

Hinter dem Russland-Ukraine-Konflikt steht mehr, als man zunächst wahrnimmt.

Autor: Dmitrij Olschanskij

07. März 2023

 Russland   Ukraine   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 10 Minuten

Lässt man die beiden offiziellen Lesarten des russisch-ukrainischen Konflikts beiseite, die durch den Agitprop bei uns und im Westen transportiert werden und deren abermalige Wiederholung keinen Sinn ergibt, so liefert dieser Konflikt besonnenen Zeitgenossen und künftigen Historikern ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten. Verzichtet man auf die leidenschaftlichen rhetorischen Stürme in den sozialen Medien, bei denen die Konfliktparteien einander banale Beleidigungen an den Kopf werfen (Mordor, Orks, Nazis etc.), so öffnet sich die ganze Vieldeutigkeit der dramatischen Vorgänge. Es ist geradezu eine Matrjoschka aus Ursachen und Sinnschichten, bei der man hinter den besonders offensichtlichen Konfliktlinien auch andere, weniger auffällige wahrnehmen kann.

Handlungsstrang Nummer eins in dieser Liste: Russland und der Westen, für deren Kampf die Ukraine aufgrund tragischer Umstände zu nichts weiter als einem Schlachtplatz geworden ist. Die Geschichte darüber, wie die früheren Gegner vor dreißig Jahren scheinbar Gefallen aneinander fanden, diese Gefühle sich dann jedoch als einseitig, nur von der russischen Seite ausgehend herausstellten, weshalb es erst zu einer Zeit der Abkühlung, dann zu vollständiger Enttäuschung und schließlich auch zu unverhohlener Feindschaft kam, ist allen bekannt. Bestenfalls könnte man noch den folgenden Fakt hinzufügen: Noch nie haben die Führer dieser Welt sich ein so friedliebendes Land, wie es das Russland der Jahrhundertwende war, als Feind eingehandelt. Alle übrigen Feinde des liberalen Westens der Vergangenheit und teils auch der Zukunft, sei es Deutschland in verschiedenen Zeiten, die Sowjetunion, der Iran oder (nun auch schon) China sind eben doch durch ihre Gewalttätigkeit, und der eine oder andere von ihnen auch durch kriegerische Brutalität bekannt, während wer, wenn nicht das heutige Russland einfach nur Handel treiben und sich Wohlstand aufbauen wollte. Nichtsdestoweniger hat sich der Westen aus uns konsequent und unerbittlich seinen »Dämon« geformt. Und noch etwas. In der Zeit, in der die alte Liebe sich in frischen Hass transformierte, hat sich auch der Westen unumkehrbar verändert – und nun geht es darum, dass das böse Russland nicht nur auf dem Schlachtfeld verlieren muss, sondern auch den neuen Werten seinen Treueschwur zu leisten hat, nicht nur vor Kiew, sondern auch vor »dem Transgender« kapituliert. Und dies verleiht dem Widerstand der russischen Seite zum Glück noch ein zusätzliches Motiv.

Der zweite Handlungsstrang: Russland und die Ukraine als solche. Hier könnte man sich ja mit den typisierten liberalen Ausführungen über das Imperium einverstanden erklären, das versucht, die rebellierende Provinz an sich zu reißen, aber die Morgenröte der Freiheit, da sie einmal aufgeleuchtet hat, wird nicht mehr erlöschen etc. Könnte man, geht aber nicht. Viel zu viele Korrekturen müssten an dieser trübsinnigen Schablone vorgenommen werden. Es ist zunächst einmal unverständlich, warum ein Imperium schlecht sein sollte. Weil der Politruk vom amerikanischen Campus das so gesagt hat? Denn eigentlich wurde ja fast die gesamte Weltkultur durch Imperien geschaffen. Abgesehen davon, soll ruhig unser Imperium (mal abgesehen von der Frage, ob dieser Begriff im gegebenen Fall gerechtfertigt ist) auch versucht haben, die Ukraine zu halten – an dieser Anziehung gibt es mitnichten etwas wie eine »koloniale Unterdrückung«, wovon die progressive Öffentlichkeit so gern redet. Ein Ukrainer kann in Russland – oder gemeinsam mit Russland – sein, wer er will: General, Oligarch, Minister. Im Grunde unterscheidet er sich in den Augen der Russen durch nichts von einem Russen – also von wegen Unterdrückung; hätte man den Irländern oder Indern seinerzeit eine solche »Kränkung« angeboten, die wären vor Neid fast geplatzt. Und schließlich strebt diese rebellierende Provinz, im Unterschied zu den Irländern und Indern vergangener Zeiten, ja nicht etwa nach der Freiheit einer unabhängigen Existenz. Sie sucht vielmehr die Abhängigkeit, aber nicht von uns, sondern von einem anderen, uns feindlich gesinnten Seigneur. Im Übrigen muss eingestanden werden, dass gerade diese Konfrontationslinie – der Kreml und Kiew – die verwundbarste von allen ist. Die Sache ist, dass unsere Obrigkeit lange Jahre jegliche Möglichkeit einer schlauen und »weichen« Gewinnung der Ukrainer vernachlässigte; ihr war die Entwicklung gesellschaftlicher Beziehungen im westlichen Stil uninteressant, bei denen eine Anbindung an einen auswärtigen Souverän mithilfe von Aktivisten, Studenten, Förderung der Aneignung humanitären Wissensinhalte und bürgerlicher Initiativen erfolgt. Nein, unsere Sache war eine andere: Erdgas-Pipelines, Milliarden, Gipfeltreffen, und alles Übrige war zu kleinlich. Da bitteschön, nun ist es eben dazu gekommen, was wir heute vor Augen haben.

Der nächste Handlungsstrang ist der edelste, sogar der heldenhafteste für Russland. Dabei handelt es sich um den Widerstand von Russen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ukraine wiederfanden, gegen einen Staat, der sie zwangsweise zu ukrainisieren trachtet.

Die Konfrontation auf der Krim – mit ihrem schnellen und (bisher) glücklichen Finale. Die im Donbass – zwar durch Moskau unterstützt, aber doch so quälend und tragisch, dass man es nicht einmal seinem Feind wünschen möchte. Aber auch die von Charkow, von Odessa, teilweise sogar von Kiew – an diesen jeweiligen Orten sofort von den Ukrainern niedergeschlagen, die sich aber trotzdem in der Emigration, in einem Zustrom von Freiwilligen an die Front und der Schaffung eines allgemein unversöhnlichen Geistes niederschlug. All diese Menschen, die für die westliche Welt und ihre Speichellecker buchstäblich nicht existieren, wollten Russland nicht aufgeben, obwohl eigentlich alle praktischen Erwägungen es erforderten, sich so schnell wie möglich zu ergeben. Sie aber gingen nicht weg. Und nun – da das riesige Land unbeholfen, mit einer Unmenge an Fehlern, aber eben doch die Reihen mit ihnen schließt – kann man davon sprechen, dass unsere kollektive moralische Schuld vor diesen im Jahr 1991 zurückgelassenen Russen zurückgezahlt wird.

Und nun zu den etwas feineren Materien.

Auf paradoxe Weise ist der jetzige Konflikt eine russisch-sowjetische Schlacht. Aber nicht in dem Sinne »sowjetisch«, der in unserer Erinnerung mit der kommunistischen Utopie oder der Nostalgie nach dem zwanzigsten Jahrhundert verbunden ist. Nein, »sowjetisch« meint in diesem Fall die Schaffung endloser »Nationalitäten« auf Kosten der Russen, wenn das von innen nach außen gekehrte Imperium zu einem riesigen Brutkasten wird, in dem immer neue Nationen und Protostaaten heranreifen, denen man wiederum freigebig Ländereien und Menschen austeilt. Und als Bindeglied zwischen all diesen sowjetischen Völkern, die vor dreißig Jahren ihrer Wege gingen, und Russland, das weiterhin dazu verpflichtet war, diese zu unterstützen und auf keinen Fall irgendetwas von ihnen zu fordern, blühte in Moskau die sowjetische Intelligenzija, die diesen kosmopolitischen Geist auch ganz ohne kommunistische Gesinnung förderte. Die sogenannte „militärische Spezialoperation“ ist ein radikaler Bruch ganz und gar nicht nur mit der ukrainischen Unabhängigkeit, sondern auch mit diesem ganzen Gelage des lokalen »Multikulturalismus«, und gleichzeitig ein rasantes Ausweisen der sowjetischen Intelligenzija nach Hause, in deren heimisches Riga-Tbilissi. Der Effekt dieses Bruchs an sich gibt uns die Chance, unsere nationale Kultur wiederzuerrichten, welche durch die Allunions-Heimsuchung des vergangenen Jahrhunderts plattgewalzt wurde. Natürlich nur, wenn niemand jetzt noch den Film wieder zurückdreht.

Aber es gibt auch schlechte Nachrichten. Wir sehen, neben anderen Dingen, auch einen Kampf von Russen gegen Russen. Denn die Landschaft des Schlachtfelds beschränkt sich eben nicht auf den Taras in seiner Wyschywanka, der den russischen Iwan bedrängt – oder, ganz im Gegenteil, vor diesem wegrennt. Zum allergrößten Leidwesen kämpft Seite an Seite mit Taras auch noch ein anderer Iwan, auch aus Kiew oder Charkow, mitunter sogar ein aus Moskau angereister. Das Defizit politischer Inhalte, das Defizit nationaler Kultur in der postsowjetischen Russischen Föderation ist derart groß – ehrlich gesagt, es ist gigantisch – dass die Menschen vor dem Hintergrund dieser gähnenden Leere alles Mögliche zu glauben beginnen, jede Absurdität, selbst extrem feindselige, Hauptsache, sie ist energisch und bedenkt jeden mit schrillen Versprechen. So entstand auch bei uns eine beispiellose »Partei der Armenier für Baku«, eine »Partei der Griechen für die Türkei«, also eine Partei der Russen, die ernsthaft glauben, dass ein Sieg Kiews selbst unter den Bedingungen einer totalen Ukrainisierung ihnen irgendeine »Freiheit« einbringen würde. Das ist ein unendlich naiver Glaube, aber wir werden damit leben müssen, dass es ihn gibt.

Außerdem gibt es noch den Konflikt der Vergangenheit mit der Zukunft. Genauer, der »Vergangenheit«, also des gesunden Menschenverstands der Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts, die zentralisierter und auf große kulturelle Vorbilder orientiert war, also Puschkin-Schukow-Gagarin, – mit der »Zukunft«, also der fragmentierten, chaotischen Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wo es ein Gewusel von allerlei »Identitäten« gibt – mal irgendwelche Eingeborenen vom Stillen Ozean, mal Veganer und Kämpfer gegen die Erderwärmung, und jede dieser Identitäten schreit von ihrem Leid und konkurriert um Spenden. Die Sache ist allerdings nicht einmal, dass eine solche Vergangenheit sympathisch, während eine solche Zukunft abscheulich ist. Das wichtigste ist, dass nicht jede Zukunft wirklich zu einem allumfassenden Sieg verdammt ist, und nicht jede Vergangenheit komplett dem Vergessen anheimfallen muss; in der Geschichte gibt es keine solch primitive Linearität.

Nur zur Erinnerung: Vor hundert Jahren galt der Kommunismus unzweifelhaft als die Zukunft, während der Kapitalismus die verschwindende Natur war; doch was ist etwas später daraus geworden? Auf genau die gleiche Weise sollte auch Russland um die Variante des morgigen Tages kämpfen, welche vieles aus unserer Vergangenheit beinhaltet, so, wie man in einem historischen Haus lebt, in dem die Knöpfe und Leitungen neu, die Balken und Schnitzereien aber heimisch und althergebracht sind.

Betrachtet man die Typen der gesellschaftlichen Ordnung der verfeindeten Seiten, so haben wir einen Kampf der Mafia gegen eine Sekte vor uns. Die Grundlage des „Ukrainertums“, um einen allseits bekannten Psychotyp zu bringen, ist das totalitäre, hysterische Vollpumpen der Menschen mit propagandistischem Schrott, den sie allerdings mit der ungetrübten Bereitwilligkeit vollkommen hoffnungsloser Fanatiker schlucken. Das Prinzip der Sekte, bei dem eine simple, für manch einen aber verlockende Ideologie mit harter Disziplin und hypnotischer Einwirkung auf die Psyche vertrauensseliger, leicht zu beeinflussender Menschen trifft – das ist das Rezept für die Herstellung der Ukraine; esst euch satt und bekleckert euch nicht. In unseren Landen nun herrscht, ganz im Gegensatz dazu, nicht der Fanatismus, sondern eher eine geduldige Skepsis, ein müder Zynismus, und der einzige funktionierende Mechanismus, der bei uns dazu geeignet wäre, Vertrauen aufzubauen, sind persönliche Beziehungen. In Russland wird jegliche Ideologie nur träge rezipiert, Disziplin herrscht nur bedingt, und die Leute sind misstrauisch; dafür aber verbirgt sich hinter der Fassade jedweder Einrichtung oder Formalität ein gewisses privates, vor Uneingeweihten verborgenes System von Beziehungen, wo jemand eines anderen Freund, Bruder, Schwager und, wie Politologen zu sagen pflegen, Klientel ist. Das ist natürlich noch keine richtige Cosa Nostra, aber es ist näher dran als die Kiewer Aum-Sekte. Warum sollte nun die Mafia besser sein als die Sekte? Na, weil sie nüchterner ist, und weil ihre schlechtesten Eigenschaften kein Irrenhaus voraussetzen.

Und zu guter Letzt haben wir einen Kampf zwischen Gut und Böse vor uns. Ja, ich schrecke nicht vor diesem Pathos zurück, obwohl ich das schiefe Grinsen schon jetzt sehen kann. Es versteht sich von selbst, dass es in der weltweiten Praxis aller Revolutionen, Kriege, internationaler Querelen und der übrigen großen Tragödien keine solch primitive Rollenverteilung gibt, bei der die eine Seite ganz in Weiß dasteht, während die andere – und nur sie allein – von Schmutz und Blut besudelt ist. Wenn ihr an etwas in der Art glaubt, dann Gratulation! – ihr glaubt an primitive Propaganda. Nichtsdestoweniger ist es nicht schwer, den fundamentalen Unterschied zwischen dem zeitgenössischen Russland und der Ukraine nachzufühlen, was uns dabei hilft, einen unserer bewaffneten Menschen von einem Fremden moralisch zu unterscheiden: Die Ukraine tut nicht einfach nur Böses, sondern sie ergötzt sich daran. Während ein russischer Mensch, der sich auf den Weg einer gewalttätigen Konfrontation begibt, die ganze Zwanghaftigkeit dieser Sache spürt, und die russische Gesellschaft deshalb jeden, der versucht, mit Gewaltausübung zu prahlen, auf die Finger klopft, ihn verurteilt, und immer daran denkt, dass der Gegner im feindlichen Graben auch einer von ihr ist, mag er verloren sein, so ist er doch einer von den ihren, und er tut ihr leid – ist die Ukraine hemmungslos schadenfroh und jubelt angesichts eines jeden Unglücks und einer jeden Erniedrigung der Russen. Ihre Aufgabe in dieser langjährigen Schlacht ist es, jahrhundertealte Verbindungen zu zerreißen und für immer fortzugehen, es gibt bei ihr kein Bedauern und keine nostalgischen Erinnerungen an das frühere Leben. Und diese Haltung der erbitterten, narzisstischen Unversöhnlichkeit, diese Lust an der eigenen Aggression – ob gegen Gefangene, ob gegen Zivilisten, und dazu noch gegen unsere vor den Ukrainern duckmäusernden Emigranten, ergibt das ganze schreckliche Bild einer vollkommenen Umnachtung der Seele.

Irgendwann ist zwischen uns alles zu Ende, alles wird sich wieder beruhigen.

Und dann wird die ganze Vielseitigkeit unserer Feindschaft erschöpft sein, und an ihre Stelle tritt etwas anderes. Vielleicht die Aussöhnung. Oder, was wahrscheinlicher ist, eine Gleichgültigkeit und Leere.

Quelle: octagon.media