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Priestermönch Sewastjan

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

06. August 2017

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 7 Minuten

Einmal übernachtete ich bei einem Batjuschka auf dem Dorf – ich hatte mich dort nach dem Haus des Priesters erkundigt, und mir wurde geraten, auf den Friedhof zu gehen: „Dort wohnt er.“

Ich machte also den Friedhof ausfindig – links hinter dessen Eingang stand die Kirche, rechts – ein windschief gewordenes Häuschen. Kaum hatte ich angeklopft, ging drinnen das Licht an, als wäre ich erwartet worden.

Der Hausherr war ein schmächtiges Alterchen mit einem grauen, dünnen Bärtchen – er begrüßte mich freundlich, fast freudig. Es hatte den Anschein, als habe er sich nach Gesellschaft gesehnt: „Wie gut, dass Sie zu mir gekommen sind – vor allem noch rechtzeitig: Am Morgen wollte ich in die Lawra aufbrechen.“ Wir kochten Teewasser auf, und beim Tee machten wir uns näher miteinander bekannt. Er hieß Vater Sewastjan. Früher einmal war er verheiratet: „Das ist lange her, da war ich noch Diakon; aber es dauerte nicht lange“, und dann, als Witwer, wurde er zum Mönch geschoren und ist’s seither auch immer gewesen. Ich meinerseits konnte ihm einige Neuigkeiten aus dem Leben der Hauptstadt berichten – dazu seufzte er, schüttelte den Kopf und trug schließlich eine Begebenheit aus einer Gemeinde zu unserer Unterhaltung bei.

Die Sache nahm sogleich nach dem Krieg ihren Anfang. Ein Soldat kam auf dem Weg nach Hause durch dieses Dorf. Männer waren damals, wie bekannt ist, von unschätzbarem Wert – als Beispiel führte Vater Sewastjan an, dass der hiesige Förster, den man aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht an die Front einberufen hatte, Vater der Kinder von sechs verschiedenen Frauen geworden ist. „Was willst du auch tun?“, erklärte Vater Sewastjan. „Das Volk muss doch weiterleben? Es muss! Aber an Mannsbildern gab es außer dem Förster niemanden. Da haben die Frauen eben beschlossen: Wir gehen zu dir, und du wirst uns damit aushelfen, denn wer weiß, vielleicht kommen alle Mannsbilder im Krieg um – was soll dann werden, soll das Volk etwa ganz aussterben?.. Dieser ihr Entschluss war öffentlich – ihre Männer waren zu dem Zeitpunkt schon umgekommen … Anfangs sträubte er sich, denn er war ein Mann mit Gewissen – ich habe ihn noch erlebt, freilich war er da schon ganz und gar klapprig – aber dann hatte er doch Verständnis für dieses Ansinnen …“

So war damals das Leben. Und plötzlich, siehe da: ein Soldat, jung, Arme und Beine – alles dran, eine Augenweide! Da warfen sich die Weiber und Mädchen auf ihn, und er ließ sich nicht lumpen; er war ja Soldat. Kurz, der Krieger zog weiter, und einige Zeit darauf verspürte eine der Damen, dass „unter ihrem Herzen noch eines zu schlagen begonnen hat“ – so drückte Vater Sewastjan das aus. Die Schönheit erschrak, denn sie hatte einen doch sehr grimmigen Vater: Er war verkrüppelt von der Front heimgekehrt, soff, geiferte – im Suff hätte er gut und gerne jemanden umbringen können. Das hat er schließlich auch getan – freilich nicht seine Tochter, sondern einen Menschen, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Der Vater starb dann auch selbst im Gefängnis.

Solange es ging, verbarg sie ihre Schwangerschaft, als es aber kaum noch möglich war, das zu verbergen, begab sie sich in die benachbarte Oblast in die Torfbrüche – angeblich, um sich ein paar Kopeken zu verdienen, was der Vater guthieß. In den Torfbrüchen arbeitete verschiedenes Volk, alle waren ihr fremd und niemand kümmerte sich um sie; so brachte sie auch unbehelligt ihr Kind zur Welt. Doch sie wagte es nicht, das Kind nach Hause zu bringen. Sie setzte es auf dem Rückweg in einem der Dörfer aus, durch das sie kam. Von den Leuten, bei denen sie das Kind aussetzte, wusste sie, dass das gute Menschen waren, die fest zusammenhielten, aber keine eigenen Kinder hatten.

Später heiratete die Frau, brachte noch zwei Kinder zur Welt und zog sie groß … Und all diese Zeit erkundigte sie sich immerfort nach dem Befinden des von ihr ausgesetzten Mädchens. Dem aber ging es gut.

Eines Tages im Sommer trafen sich die beiden auf dem Feld; der Roggen stand hoch, und so liefen sie praktisch ineinander. Ihre Tochter hatte inzwischen ihrerseits drei Kinderchen, und sie alle waren Jungs: Der Älteste war bei der Armee, und mit den beiden jüngeren war sie gerade unterwegs. Sie trafen aufeinander, grüßten, wie das in den Dörfern üblich ist, und gingen wieder auseinander. Daraufhin passierten mit der Mutter – sie war inzwischen sechzig Jahre alt geworden – allerlei unlautere Dinge: Schlaflosigkeit, Tränen, Geheul – der Mann wollte sie schon in die Stadt bringen, zu den Ärzten, aber sie lehnte das ab.

Da kam sie zu Vater Sewastjan.

Sie erzählte ihm also die ganze Geschichte und fragte: „Was soll ich denn jetzt tun? Soll ich es der Tochter gegenüber offenbaren, oder es verschweigen und das Geheimnis mit ins Grab nehmen? Es fällt mir so schwer, Batjuschka“, sprach sie: „Mein Herz reißt mich fort, fort zu ihr. Sie ist doch meine, mein Kind!.. Sieht genau so aus wie ich in meinen Jugendtagen … Aber ich fürchte mich,“ sagte sie. „Wenn ich ihr sage, dass sie meine Tochter ist, vielleicht gerät da in ihrem harmonischen Leben etwas aus den Fugen? Das aber“, fügte sie hinzu, „würde ich mir nie verzeihen. Soll sie mich ruhig verfluchen, Hauptsache, es geht ihr gut“, und sie weinte und weinte.

„Auch ich musste weinen“, erzählte Vater Sewastjan. „Und so heulten wir und heulten. Was ich ihr antworten sollte, das wusste ich nicht: Das wurde mir nicht offenbart, nicht offenbart … Sie, sagen Sie doch einmal, wie hätten Sie gehandelt?“

Es sei schwer, eine solch komplizierte Situation als Außenstehender zu entscheiden, sagte ich; vermutlich hätte ich einfach auf Gottes Willen vertraut.

„Ich bin ja ganz derselben Meinung zugetan. Der Herr wird es natürlich auf die bestmögliche Art und Weise bestimmen: Wenn’s sein muss, bringt er sie zusammen, wenn nicht, dann bleibt eben alles, wie es ist. Aber vielleicht kann ich ja auch, solange ich noch lebe, etwas bewegen?..“

Wir sprachen noch ein wenig von der Nachkriegszeit, und dann auch vom Krieg. Es stellte sich heraus, dass Vater Sewastjan an der Front gekämpft hat, dreimal verwundet wurde und Kriegsauszeichnungen bekommen hat.

„Damals hieß ich anders, nämlich Pjotr; erst im Mönchtum bekam ich den Namen dieses Heiligen … Es gibt so ein berühmtes Gemälde von ihm: Er steht an einen Baum gefesselt, und ist von Kopf bis Fuß mit Pfeilen gespickt … genau, Tizian! Jedenfalls war der Märtyrer ja eigentlich Anführer der Palastwache des ausländischen Kaisers – ja, das ist lange her, das war im dritten Jahrhundert. Der Kaiser hat ihn dann ja auch aufgrund seines unerschütterlichen Glaubens … Nun, und ich war früher Pjotr. Habe bei den Flaktruppen gedient.“

Das interessierte mich sehr, aber wir begaben uns zu Bett: Ich schlief auf dem Sofa beim Ofen, der Hausherr in einem anderen Kämmerlein, seiner „Zelle“.

Wir standen früh auf. Tranken wieder Tee. Der Alte setzte das Gespräch vom Vortag fort und sagte:

„Es ist mir also nicht offenbart worden, nicht offenbart … Wenn wenigstens beide noch in die Kirche gehen würden, dann hätte ich vielleicht, mit Gottes Hilfe, gewusst, was zu tun ist – so aber braucht es da ja Hellsicht. Deswegen will ich jetzt auch in die Lawra fahren, zu den Vätern. Vielleicht können die mir etwas raten.“

„Was denn, ist es das, weshalb Sie dahin fahren wollen?“

„Genau“, wunderte sich Vater Sewastjan über meine Unverständigkeit.

„Eigens dafür?“

„Ja, sicher … doch nicht, um Wurst zu kaufen. Wenn man mir dort nicht helfen kann“ – der Alte kam ins Grübeln; wahrscheinlich ist ihm dieser Gedanke gerade erst gekommen – „wenn sie nicht helfen können … dann muss ich nach Petschory1… „Ja“, sagte er entschlossen. „Dann muss ich nach Petschory.“

Als wir voneinander Abschied nahmen, entschuldigte er sich für seine armselige Bleibe und lud mich ein, auch künftig bei ihm vorbeizuschauen. Meine Wege führten mich in späteren Zeiten aber nicht mehr in diese Gegenden.


  1. nahe Pskow, ins Pskow-Petschorsker Mariä-Entschlafen-Kloster – Verm. d. Ü.