:chartophylax:

Licht

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

25. Juni 2017

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 6 Minuten

Mein Freund, ein älterer Moskauer Priester – Vater Alexij – erzählte mir einmal, wie in seinem Herzen allmählich ein für sein ganzes Leben sehr wichtiger Trost heranreifte.

In seiner Kindheit war Aljoscha sehr oft krank. Die Ärztin, bei der er mal wegen Masern, mal wegen Keuchhusten, Windpocken, Röteln, und oft genug wegen Angina in Behandlung war, hielt es eines Tages nicht mehr aus: „Was soll man nur mit dir machen? Vielleicht auf die Müllhalde werfen?“. Die Ärztin war dabei nicht böse, ganz im Gegenteil – sie war freundlich, fürsorglich und hatte selbstverständlich nicht die Absicht, ein krankes Kind auf die Müllhalde zu werfen; sie fragte ihn das aber, so kann man annehmen, um seine Eltern indirekt zu rügen. „Ich weiß, dass eure Familie groß ist“, sagte sie noch. „Ich weiß, ihr habt einen verantwortungsvollen Beruf, aber trotzdem: Lasst das alles eine Zeitlang sein und schafft euren Sohn unverzüglich ans Meer.“ Auf diese Weise hatte Aljoscha erstmals in seinem Leben Moskau verlassen und fand sich in Anapa wieder.

Bis zu diesem Augenblick hatten seine Empfindungen vor allem damit zu tun, was ihm die Krankheiten brachten: Mit Senfpflastern, Spritzen, Kompressen, mit dem halb besinnungslosen Zustand bei Fieber und dem Gefangensein im Bett; hier aber, wo er endlich einmal nicht mehr krank war, eröffnete sich ihm die ganze große Welt, und seine Sinne strebten danach, sie kennenzulernen. Das war es wohl, warum er in diesem Sommer voller Aufmerksamkeit für die ihn umgebende Dinge war, so, wie es später nie wieder sein sollte.

Natürlich gab es in Anapa das Meer und Sandstrände, die sich bis an den Horizont erstreckten, dazu Unmengen von kleinen, weißen Krabben im seichten Wasser; es gab einen Basar, auf dem man Weintrauben, Pfirsiche und Makrelen kaufen konnte: Fünf Fischlein für einen Rubel … Es gab noch ein Haus – in alten Zeiten aus Ziegelsteinen erbaut, drei sehr hohe Etagen groß. Eine Bombe hatte ihm Dach, Gebälk, Fenster und Türen geraubt – es standen nur noch die Wände. Hinter diesen Wänden gab es nichts als Haufen aus zerschlagenen Ziegelsteinen und Brösel, und all das war mit süß duftenden Blumen überwuchert.

Am Strand rostete das Gerippe eines Seeleichters, der ans Ufer gespült worden war, nachdem dessen Schlepper, von mehreren Schüssen getroffen, im Meer versank. Es kam vor, dass eine Seemine ans Ufer gespült wurde: Die Menschen flüchteten dann vom Strand und warteten auf das Eintreffen des Räumkommandos.

Es kam immer wieder vor, dass Menschen ertranken. Bei jedem aus dem Meer gefischten Ertrunkenen versuchte man unbedingt, ihn mit gemeinsamen Kräften „auszupumpen“ – das Wasser pumpte man ihm tatsächlich aus den Lungen, aber Aljoscha hat kein einziges Mal miterlebt, dass der Mensch danach wieder lebendig wurde. Aber aus welchem Grunde warfen sich die Menschen hier so beharrlich in die Meeresfluten? Das war schwer zu sagen: Man erklärte sich das jedes Mal auf ein und dieselbe Weise: „ein Delphin hat ihn gekitzelt“. Es gab damals wirklich sehr viele Delphine in Ufernähe: Vielleicht versuchten sie, die Menschen ans Ufer zurückzubringen, weil sie diese nicht verstehen konnten; die Menschen aber verstanden die Delphine nicht und gingen vor Furcht unter.

Im Zentrum der Stadt gab es auch einen Triumphbogen – er war nicht groß, aber durchaus ein richtiger Triumphbogen, aus Stein errichtet zu Ehren eines längst vergangenen militärischen Erfolgs. An seinem Fuße lagen zwei uralte Kanonen.

Am hohen Ufer standen noch, inzwischen von einem Dickicht aus Hornstrauch und Robinien umfangen, die Überreste eines alten Herrenhauses: Die Einfahrt hatte kein Tor, die Postamente hatten keine Statuen und die Säulen kein Dreiecksgiebel mehr – ja, selbst der Treppenaufgang und das Gebäude als solches fehlten inzwischen.

Im ufernahen Gehängeschutt fand man mitunter Tonscherben – das waren Bruchstücke griechischer Amphoren.

Aljoschas Eltern waren damals noch verhältnismäßig jung und liebten einander. Aber schon in dieser Zeit kam es zwischen ihnen zu durchaus beunruhigenden Gesprächen, in deren Verlauf der Vater die Mutter dazu anhielt, ihre Arbeit aufzugeben und die Zeit zu Hause mit den Kindern zu verbringen, damit endlich „etwas wie ein trautes Heim“ zustande käme. Doch die ihr in den Jugendtagen solide eingeimpfte Albernheit überschattete ohne jede Ausnahme alle ihre wichtigen Entscheidungen – die Bitten des Vaters trafen auf immer größer werdende Verärgerung, und schließlich zerfiel die Familie.

Eines Tages, im Alter von siebzehn Jahren, schnitt Aljoschas Mama sich den Zopf ab, warf die Ikonen der Eltern aus dem Haus und schlug entschlossen einen furiosen und arbeitsreichen Weg ein: Auf dem Banner, das sie fortan durch ihr Leben trug, prangte in riesigen Lettern das Wort „gemeinnützig“ – es war kein Platz mehr für „privat“. Dieser Umstand führte sie am Ende ihres Weges zu Zweifel und Enttäuschung.

Aber Anapa war noch eher auf der Mitte ihres Lebenswegs gelegen; da war der Vater noch bei ihnen. Wenn man die Szenen aus dem Familienleben dieser Tage durchleuchtet, so kann man das Zeichen der Zerstörung darin schon erahnen, etwa so, wie man das Wasserzeichen einer Banknote oder einer Briefmarke sehen kann.

Aus welchem Grund sollten diese Tage in Erinnerung bleiben? Doch nicht etwa dazu, um eines Tages festzustellen, dass das gesamte übrige Leben darauf passt wie die Tasse auf die Untertasse? Tatsächlich: Die Ertrunkenen offenbarten Aljoscha die Unzuverlässigkeit und Fragilität des körperlichen Seins und brachten ihn dem nicht zu entschlüsselnden Rätsel des Todes näher. Die nächtlichen Gespräche endeten später mit dem Weggang des Vaters, dessen Güte und Fürsorge Alexej erst dann richtig zu schätzen wusste, als es ihn nicht mehr gab; danach ging er seinen Weg in der Überzeugung, alles ganz anders, richtig zu machen, aber mit erstaunlicher Genauigkeit wiederholte er die lange Folge der Fehler seines Vaters …

Nachdem er, wie es ihm schien, all diese Fehler selbst begangen hatte, konnte Alexej recht genaue Prognosen über seine eigene Zukunft treffen. Der Weg in diese Zukunft begann, wie er dachte, mit dieser längst vergangenen Reise nach Anapa. Die Ruinen des alten Herrenhauses, der Triumphbogen und die Tonscherben wurden für ihn zu solch hehren Sinnbildern für das Hingezogensein zur Vergangenheit, dass diese vergangenen Zeiten für ihn seither eine enorme Anziehungskraft hatten; die Menschen vergangener Zeiten, so schien es, wurden für ihn zu Anverwandten. Die Ruinen des dreigeschossigen Hauses, der halb vom Sand überzogene Seeleichter und die Leute vom Räumkommando mit ihren „Studebakers“ – das Siegel des Krieges hinterließ auch in seinen Tagen Spuren. Ganz leichte Spuren, aber sie waren da, und dieser Abdruck war unauslöschlich.

Als er zu dem Schluss kam, dass unser gesamtes Leben – gleich wie man sich dreht, wie viel man auch phantasiert oder Eigensinn verfolgt – ohne Weiteres auf der Handfläche eines Kindes Platz findet, kam er zu der segensreichen Offenbarung, deren Licht seither seine Tage und Stunden erhellte.

„Alles ist Eitelkeit“, lehrt eine alte Weisheit. „Das ganze Gezappel bringt nichts“, sagte Aljoschas Vater mitunter, und der hatte nie in seinem Leben kirchliche Bücher gelesen.