:chartophylax:

Schneefall

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Nasch Sowremennik“ (Наш Современник) Nr. 11/2014.

Autor: Jaroslaw Schipow

25. Juni 2017

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 2 Minuten

Wir standen an der Straßenbahnhaltestelle an der Promenade. Es schneite. Ich wusste, dass dieser nicht allzu hochgewachsene Mann ein großer Dichter war, jedoch hatte ich mich zu der Zeit nicht für seine Gedichte interessiert. Indes hatte ich mir eines, das bekannteste Gedicht über den Krieg, im Gedächtnis bewahrt.

Durch die Fügung längst vergangener Angelegenheiten von der Front war er mit den Eltern einer meinem Herzen sehr lieben jungen Dame befreundet. Und hatte viele Jahre lang in dem Haus gelebt, in welchem sie lebten. Dann war er umgezogen. Und nun standen wir unter den Fenstern genau dieses Hauses und schauten zu, wie der Schnee fiel. Die großen Schneeflocken legten sich weich auf die Äste der alten Bäume, auf die Verzierungen des gusseisernen Zauns, auf die Schienen, auf den Asphalt, auf die Köpfe und die Schultern der vorübergehenden Menschen.

„Einmal, vor langer Zeit“ – er schwieg und kramte in Erinnerungen – „einmal, vor langer Zeit habe ich diesen wunderbaren Schnee schon einmal gesehen. Und das Seltsame ist, gesehen habe ich ihn auch hier – auf dem „Platz des Kampfes“.“

Da kam die Straßenbahn. Der Dichter wollte nicht einsteigen.

„Wissen Sie was“, schlug er plötzlich vor, „lassen Sie uns lieber zu Fuß gehen – wir haben es ja nicht weit. Es wäre doch schade, diesen wunderbaren Schneefall zu verlassen.“

Wir liefen erst die Palicha-, dann die Lesnaja-Straße durch. Da ich von naiven Überlegungen über die Literatur erfüllt war, stellte ich ihm unentwegt Fragen, die ihm absurd vorkommen mussten, doch er beantwortete sie. Und als ich schließlich betont tiefsinnig von mir gab, dass es schwieriger sei, Gedichte zu schreiben als Prosa, schüttelte er den Kopf und sagte etwas Unerwartetes:

„Die Poesie ist vollständig reguliert, sie ist in die Rahmen von Reim und Rhythmus eingesperrt. Prosa aber ist frei, in ihr gibt es unendliche Weite. Wenn man ein Gedicht, und sei es das genialste, auf Musik umlegt, dann ergibt das nur eine einzige Melodie, nun gut, vielleicht mit einigen Variationen. In Prosa aber gibt es so viel an Melodik, so viel an vielfältigen Intonationen! Schauen Sie, Pjotr Iljitsch1 hat in der „Pique Dame“ einige Seiten von Puschkins Prosa auf Musik umgelegt – welch ein geradezu spektakulärer Reichtum an Melodien! Man kann also von der Prosa viel lernen. Ich mache das übrigens genau so: Ich lerne das Schreiben von der russischen Prosa – ganz ehrlich.

Als wir in der Metro voneinander Abschied nahmen, sagte er noch, dass er noch seit den Zeiten des Krieges keine Totenfeiern mag, und dass seine ehemaligen Nachbarn im vergangenen Jahr ziemlich abgebaut haben – besonders die Mutter.


  1. gemeint Tschaikowski – Verm. d. Ü.