:chartophylax:

Zur Verteidigung der Vergangenheit

Nicht jede Zukunft tritt auch wirklich ein.

Autor: Dmitrij Olschanskij

31. Mai 2022

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 7 Minuten

Es gibt ein solches politisches Argument – und man trifft es in hunderten von Artikeln und in einer unvorstellbaren Menge an öffentlichen Diskussionen an – das der progressiven Gesellschaft unwiderlegbar und ideal erscheint, wenn sie über Russland und dessen heutige Zustände spricht.

In solchen Fällen heißt es nämlich unbedingt:

„Ihr habt keine Zukunft! Ihr lebt in der Vergangenheit. Denn was macht ihr denn die ganze Zeit? Ewig diese Paraden, Erinnerungen an Kriegszeiten, die vor einem dreiviertel Jahrhundert zu Ende gegangen sind, ans Imperium, an die Sowjetunion, an irgendwelche verlorenen Ländereien, die zu Recht oder Unrecht den Nachbarn zugesprochen worden sind. Das ist alles vergangen, es ist Staub, macht doch eure Augen auf! Um euch herum wird eine neue Welt geschaffen: Biodiversität, das Ende des Patriarchats, ethische Mülltrennung, sechsundfünfzig Arten von Familien und Gendern, die Aufarbeitung der Traumata des postkolonialen Raums, eine Neubewertung von Kulturcodes unter Berücksichtigung der Bedürfnisse diskriminierter Minderheiten, technologischer Durchbruch mit „augmented reality“ in den Augen, und schließlich Flüge zum Mars! Was habt ihr dem entgegenzusetzen? Wollt ihr euch dessen brüsten, dass euer Opa Kriegsveteran ist? Ihr seid hoffnungslos überkommen, euch wachsen schon Pilze aus den Ohren, während die Menschheit sich weiterentwickelt und ihr einfach nur zurückbleibt.“

Etwas in der Art wird garantiert auf diese Weise geäußert werden – laut und frenetisch, oder sanft und pseudowissenschaftlich – doch es gilt, hierauf etwas erwidern zu können. Dieser ekstatische Futurismus hat ja, wie man ehrlicherweise zugeben muss, eine ungeheure Wirkung auf noch ungefestigte Gemüter, kann sie mit seiner Agitation für all das, was wir so ungern in Russland sehen würden, aus der Bahn werfen.

Und ich würde da auch etwas erwidern.

Beginnen würde ich damit, dass nicht jede Zukunft eintritt.

Es gibt in der Geschichte etwas wie eine eingebildete Zukunft, die nicht wahr wird, obwohl sie zu ihrer Zeit oh wie schillerte und lockte.

Das beste Beispiel einer solchen „ehemaligen Zukunft“ ist der Kommunismus. Der kommunistischen Propaganda in ihren erfolgreichsten jungen Jahren kann man sicher kein Quäntchen eines Hangs zu Althergebrachtem, zu Nostalgie, Archaik, einer Tendenz irgendwohin zurück zu den „Traditionen“ oder „vergangenen Tagen“ anlasten. Der Kommunismus bereitete sich seinen Weg machtvoll und grausam, und er bestand geradezu dogmatisch darauf, dass nur er, der Kommunismus, ein Recht auf den morgigen Tag habe, und alles, was es noch so um ihn herum gibt, nichts als bourgeoise Missverständnisse seien, deren unerbittliches Schicksal darin bestand, auf die Müllhalde der Geschichte entsorgt zu werden, und er zog derart selbstvergessene Fanatiker an, gegen die die erwähnten sechsundfünfzig Gender und die VR-Brillen gar nichts sind. Nein, diese damalige Version der Zukunft erschien doch deutlich kraftvoller.

Und trotzdem ging er, der Kommunismus, flöten, fiel am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf eine ganz und gar unvorhergesehene Weise auseinander – und es stellte sich heraus, dass die wirkliche Zukunft durchaus nicht diese einzig wahre, durch den Marxismus-Leninismus geeichte Zukunft ist, sondern eine andere, teils aus Vergangenem bestehende, mit Religion, mit Privateigentum, mit Marktwirtschaft und immer noch derselben Familie, wo sich im Ehebett zwei und nicht weiß der Kuckuck wieviele Gender begegnen.

Man könnte aber auch ein weniger radikales Beispiel anführen, das schon keine Annullierung der Zukunft, stattdessen aber ihre Launenhaftigkeit und Vielschichtigkeit veranschaulicht.

Es ist allgemein bekannt, dass das vergangene Jahrhundert der ganzen Welt ein bestimmtes Set an unabwendbaren Veränderungen vorgesetzt hat. Zu diesem Pflichtpaket gehörten: eine Blüte der Industrie, das Wachstum der Großstädte, der Untergang der Dörfer, die Emanzipation der Frau, Armeen aus Wehrpflichtigen, der Rückzug der Kirchen und eine Lockerung der Moral, Bildung für jedermann, Agitationsmaschinen in Zeitung, Radio und dann auch im Fernsehen, ein Versiegen des Erbadels und die steigende Bedeutung von Emporkömmlingen aus dem Volk, riesige Ströme an Standardprodukten und eine neue Geschwindigkeit der Fortbewegung über die Erde. Das hierüber aufgezählte war ja, gegenüber einem angenommenen Jahr 1900, die Zukunft. Man hätte sich doch an die damalige Vergangenheit auch mit einer frechen Rede wenden können, einer wie der heutigen über die ethische Mülltrennung auf dem Mars – nach dem Motto: Ab auf den Friedhof, ihr Relikte des alten Lebens, ihr werdet sowieso bald von Soldaten, Arbeitern, Damen in Miniröcken und Führungskräften aus einfacher Abstammung in den Boden gestampft werden.

Doch nichts dergleichen.

Die wahre Geschichte des Wandels von „gestern“ zu „morgen“ vollzog sich durchaus nicht so primitiv. Sie beschrieb eine bizarre Linie – scheinbar irgendwie so, wie versprochen, aber bei genauerer Betrachtung eben doch anders.

Wer weiß woher gekommene Karrieristen erzielten phantastische Erfolge, doch in London, im House of Lords, saßen trotzdem weiter die Jahrhunderte alten Aristokraten. Das Dorf wurde zugunsten der Stadt verlassen, jedoch haben die italienischen und griechischen Dörfer die ganze Welt mit ihrer Küche und der Poesie ihres Daseins erobert. Überall begannen die metallurgischen und chemischen Fabriken zu qualmen, aber umso wichtiger war es für jemanden, der Mittel und Möglichkeiten hatte, sich irgendwo an der frischen Luft niederzulassen. Zentral abgesegnete Reden und Leitartikel regierten das Leben von Millionen, dort aber, wo dieses Leben noch am erfolgreichsten verlief – in der Schweiz, zum Beispiel – da hatten nach wie vor Gesetze Bedeutung, die, mal angenommen, seit ungefähr 1573 gelten. Die Religion ist scheinbar aus dem Alltag fort ins periphere Blickfeld gerückt – nur nicht in Texas, nicht in Polen und nicht in Irland, und der Iran hat das Schachbrett gänzlich umgedreht, als er bewies, dass der Glaube eine ganze konservative Revolution zu bewirken imstande ist, und das zu einer Zeit, als allein schon diese Wortkombination unsinnig erschien. Und was konnte es im 20. Jahrhundert geben, das archaischer wäre als die Monarchie? – Jedoch stellte sich heraus, dass die konstitutionellen Könige wunderbar als symbolische Väter der Gesellschaft europäischer Völker funktionieren, während es bei den Arabern am Persischen Golf überhaupt sehr originell lief: Die absoluten Autokraten, Sultane und Scheichs gingen ganz und gar harmonische Beziehungen mit dem technischen Fortschritt ein, mit befreundeten US-amerikanischen Flugzeugträgern, hundertgeschossigen Wolkenkratzern mitsamt Milliardeninvestitionen dieser scheinbar so mittelalterlichen Herrscher auf den Börsen und in den Banken der Welt.

Mit anderen Worten, die Zukunft ist eingetreten, doch ihr Eintreten war so ungleichmäßig, und die Moderne so dicht und kompliziert mit der vergangenen Welt verwoben, dass die Vergangenheit zwar wohl verloren hatte, aber nicht so richtig, und manchenorts hatte sie, ganz im Gegenteil, sogar gewonnen.

Denn das Vorhandensein eines historischen Gedächtnisses, nationaler Traditionen und beständiger gesellschaftlicher Sitten ist häufig überhaupt gar kein Problem, wie uns das von den liberalen Agitatoren gelehrt wird, sondern ein Vorteil. Und es kommt eben vor, dass beim allgemein natürlich unvermeidbaren Eintreten von Veränderungen sich derjenige besser fühlt, der nicht kopfüber in diese futuristische Ungewissheit hinabspringt, sondern sich vorsichtig und langsam hinein begibt und dabei den Stolpersteinen und schlüpfrigen Stellen ausweicht.

Das zwanzigste Jahrhundert mit all seinen typischen Eigenschaften, die gerade aufgezählt worden sind, haben alle abbekommen, aber die Amerikaner und die Briten mit ihrem einflussreichen Konservatismus, die spanischen Frankisten, die musealen Italiener und katholischen Polen, die feudalen und mit Erdöl gesegneten Saud, die plötzlich das Judentum und das Iwrit wieder entdeckenden Israelis, die beim Befolgen einer antiken Etikette überaus strengen Japaner, mit einem Wort: alle, die nicht zu überstürzt in diese Epoche eingingen, haben es nie bereut, dass sie vieles aus ihrer Vergangenheit in diese gestrige Zukunft mitnahmen. Sie haben sich vielmehr damit verteidigt, damit gehandelt, kurz, sie haben die Vergangenheit so eingesetzt, wie ein guter Hausherr seinen Dachboden, seinen Keller und seinen Schuppen benutzt: All diese Räumlichkeiten sind ziemlich dürftig beleuchtet, es gibt dort viel altes Gerümpel, aber wie viel Nützliches kann man doch aus diesen häuslichen Auftürmungen bergen!

Leider sind die Russen in diesem Reigen nicht anzutreffen. Vor hundert Jahren stürzte sich Russland in den Abgrund des Progress, verlor und warf entschieden alles ab, was es hätte wertschätzen können, aber es eben nicht tat; und nun, nach all den Schlachten, Tragödien und Niederlagen jener Zeit können wir nur die Scherben aufsammeln und die Bruchstücke unserer Vergangenheit betrachten, die uns in halbwegs heilem Zustand oh so gute Dienste hätte leisten können.

Doch diese Lektion ist gelernt.

Das heutige Russland ist felsenfest davon überzeugt, dass sein früheres Leben – das so schwere, dramatische und widersprüchliche – sein bestes Kapital ist, ein Kapital, das keiner Konten und Fonds bedarf, und dessen unsere progressive Öffentlichkeit natürlich habhaft werden und uns zur Erfüllung von Sanktionen wegnehmen will, was sie aber, zum Glück, nicht mehr kann.

Diskriminierte Minderheiten mit Haufen an Gendern – das ist natürlich toll, aber wir wollen doch nichts überstürzen. Wir kommen dann nach euch, möglichst weit, und am besten daran vorbei.

Wir lieben das Vergangene.

Und das nehmen wir auch mit.

Quelle: octagon.media