:chartophylax:

Die ersten nach dem Krieg

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

15. Juli 2011

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 6 Minuten

Die Sache begab sich im Jahre zweiundfünfzig.

Das Lager befand sich am Ufer der Istra: Eine vom Fluss her aufsteigende Wiese, ganz oben ein zweistöckiges Haus, das aufgrund seiner schwarzen Wände und seiner einsamen Lage etwas schauerlich wirkte. Holzbaracken, die als Unterkunft dienten, waren etwas weiter unten zu finden. Sie waren ganz neu – noch hatte man es nicht einmal geschafft, sie anzustreichen oder auch nur zu firnissen. Es roch stark nach feuchtem Holz, die Erde rings um die Baracken herum war von Spänen bedeckt.

Vermutlich war der Mangel an Erziehern und Betreuern Grund dafür, dass die Disziplin dort etwas lasch war. Und zwar derart lasch, dass wir, Vorschulkinder aus der jüngsten Gruppe, mitunter einfach einmal in den Wald gingen – zum Glück gab es keinen Zaun, und der Wald begann in unmittelbarer Nähe; er jagte uns aus irgendeinem Grund weit weniger Angst ein als das düstere Kastenhaus, das auf der Spitze eines oben kahlen und ewig breiten Hügels stand. Und das, obwohl man uns täglich bis zu viermal in dieses Haus führte. Aus der Nähe erschien es gar nicht mehr so bedrohlich: Man sah dann, dass seine Wände eigentlich gar nicht schwarz waren, sondern dunkel-dunkel-grün. Außerdem bekamen wir dort zu essen, und manchmal bekamen wir in diesem Haus auch Filme vorgeführt, aber aus der Entfernung, von den Baracken aus gesehen, war es ein bedrückender Anblick – allzu düster und unangefochten war die Herrschaft dieses Objekts über der ganzen sichtbaren Gegend.

Während wir, die ganz Kleinen, lediglich in der näheren Umgebung unterwegs waren, so gingen die etwas älteren Kinder durchaus auch tiefer in den Wald hinein. Ihre Wanderungen trugen mit der Zeit auch gewisse Früchte, und im Lager gab es bald Patronen, Hülsen von Mörsergranaten und deren Mantel. Man nannte sie ›Dinger‹, und in Abhängigkeit von ihrem Wert wurden sie gegen eine oder zwei Portionen Vesper eingetauscht.

Nachdem ich all meine noch bevorstehenden Vespermahlzeiten gegen eine Handvoll MG-Patronen eingetauscht hatte, beschloss ich, dass es an der Zeit war, selbständig zu handeln und begab mich auch auf die Suche. Die älteren Jungs erzählten, dass es am besten sei, in den Schützengräben, Erdhütten und Unterständen zu suchen. Sicher war alles, was sich in meiner Reichweite befand, mehr als nur einmal untersucht worden, allerdings hatte ich gegenüber all denen, die hier vor mir unterwegs waren, einen klaren Vorteil, und zwar genau den Umstand, weshalb Kinder weit öfter Kleingeld finden als Erwachsene: Ich war viel kleiner als jeder beliebige von ihnen, folglich auch näher am Boden. Und direkt zu meinen Füßen entdeckte ich folglich auch einen vom Gras überwachsenen Patronengurt eines Maschinengewehrs. Meine nächste Beute wurde ein rostiger Karabinerlauf. Als ich diesen Lauf, vor Freude und Begeisterung japsend, zum Lager schleppte, hörte ich bekannte Stimmen in der Nähe – es waren die Älteren, die von ihrer „Jagd“ heimkehrten. Zwischen uns befand sich eine kleine, von Holundergestrüpp überwucherte Erdspalte, an deren Rändern wir jeweils entlang gingen. Ich blieb stehen: einerseits war das „Ding“ ziemlich schwer und ich brauchte eine Verschnaufpause, andererseits könnten die Jungs, wenn sie mich erwischten, es mir einfach wegnehmen; es war ja klar, dass dieser Karabinerlauf weit mehr als nur ein Vesper kosten würde.

Aber auch sie blieben stehen und fingen wegen irgendeiner Sache an zu streiten: „Ich!“ – „Nein, ich!“. Schließlich schien es, als hätten sie sich geeinigt, und im gleichen Moment kam etwas, das wie ein Stein aussah, aus ihrer Richtung geflogen; wenige Augenblicke später gab es auf dem Grund der Erdspalte eine gewaltige Explosion, die mich umwarf: Es war eine Handgranate, ein richtiges „Ding“, nicht sowas, wie mein Rohr.

Am Ende der ersten Belegung des Lagers veranstalteten die Erwachsenen ein Fest. Sie schleppten eine riesige Tanne aus dem Wald heran – schleppen taten freilich die Pferde, die man sich aus der nächstgelegenen Kolchose geliehen hatte – gruben sie senkrecht inmitten des Lagers in den Boden, schafften Holz und Reisig herbei, der unter der Tanne platziert wurde, übergossen das Ganze mit Benzin und zündeten es an. Seitdem habe ich nie mehr und nirgends ein solch prominentes Lagerfeuer gesehen.

Die zweite Belegung begann tragisch: als der Akkordeonspieler einen Stock für die Befestigung des Spannseils vom Fahnenmast in die Erde schlagen wollte, ging er in die Luft. Am nächsten Tag kamen Pioniersoldaten ins Lager. Vor Mittag gingen wir überhaupt nicht vor die Tür – das Essen bekamen wir als Trockenrationen von den Soldaten aus dem schwarzen Haus herangebracht; am Abend gestattete man uns, nach draußen zum Volleyballplatz zu gehen, der von roten Fähnchen eingegrenzt war. Man ging eilends daran, eine hohe Umzäunung zu errichten.

Einige Tage später war das Territorium von den in der Erde verstreut herumliegenden Gegenständen beräumt – und unsere Nachtschränkchen, Matratzen und Geheimverstecke der „Dinger“ beraubt. Jeden Abend waren vom gegenüberliegenden Ufer des Flusses Explosionen zu hören.

Schließlich wurde das Lager eingezäunt. Man durfte es nur noch in Begleitung Erwachsener verlassen und sich nur auf den Pfaden fortbewegen, die von den Pioniersoldaten markiert worden waren. So bewegten wir uns dann eben auch fort: im Gänsemarsch, Schritt um Schritt, rechts und links von uns Strippen, an denen irgendwelche Fetzen hingen, die Fähnchen sein sollten.

Wir gewöhnten uns daran, die Furchtsamkeit ließ nach, und da wurden auch noch die Himbeeren reif … und so kam es, dass eine ganze Gruppe – vierundzwanzig Pioniere, und die Gruppenleiterin mit ihnen – von den markierten Pfaden abbog und sich in einen Himbeerschlag begab. Was soll man dazu meinen – die Kinder waren zehn-elf Jahre alt, die Gruppenleiterin auch fast noch ein Mädchen – und alle schienen wohl einen ungeheuren Appetit auf Himbeeren bekommen zu haben. Kurz, es hat alle zerrissen und in der Gegend verschleudert, so dass man später gar nicht wusste, was man überhaupt beerdigen sollte.

In der Nacht kam eine Kolonne aus Kastenwagen, und im Lichte ihrer Scheinwerfer begann die Evakuierung. Der Offizier, der die Verladung übersah, gab Kommandos: „Nach Nemtschinowka!“, „Nach Mytischtschi!“, „Nach Podolsk!“. Als wir zu ihm gebracht wurden, wunderte er sich: „Die sind ja noch ganz klein!“

„Sechsundvierzig-siebenundvierzig, die ersten nach dem Krieg geborenen“, antwortete die Erzieherin.

Die zweite Belegung ging für uns in einem ganz anderen Lager zu Ende: Anstelle der Baracken gab es dort schöne Bojarenhäuser, die mit geschnitztem Fensterrahmenwerk verziert waren, und vor jedem der Häuser gab es ein Blumenbeet; eine ganze Brigade von Arbeiterinnen kümmerte sich unter der Anleitung eines Gärtners um die Blumen: Kaum, dass die Ringelrosen verblassen, blühten an ihrer Stelle schon kurz darauf aromatische Tabakpflanzen, und sobald der Tabak welk wurde, kamen Nelken an seine Stelle … Es gab dort auch Blautannen und einen eigenen Garten mit Apfelbäumen und unglaublich großen Himbeeren. Jeden Abend gab es eine Filmvorführung, und an jedem warmen Tag wurden wir zum Baden gefahren. Und zwar mit einem Bus. Dessen Weg führte an einer Sandgrube vorüber, in der Bagger zugange waren, und ein jedes Mal sagte uns die Gruppenführerin: „So wird der Kommunismus aufgebaut! Schaut hin und merkt es euch!“ – und wir schauten hin und merkten es uns. Wir merkten uns die Sandgrube, die kleine Bucht: rechts eine Straßenbrücke über den Kanal, links die Masten der Hochspannungsleitung, im Himmel ein Flugzeug, und es glitten die Segel von Yachten über die Wasseroberfläche – alles so, wie auf den immer gleichen Bildchen, mit denen man in jener Zeit gern die Umschlagseiten von Zeitschriften, Pralinenschachteln und öffentliche Gebäude – wie etwa Bahnhofshallen – verzierte. Ab und an erschien, vermutlich nur, um einem Klischee zu entsprechen, ein Gleitboot auf dem Wasser, ja selbst das Flaggschiff der Moskauer Flussschifffahrt – das schneeweiße Zweideckschiff „Iosif Stalin“. Wir waren übervoll von Glück, und es schien uns, als würde das immer so sein …