Die Leiter
Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.
Autor: Jaroslaw Schipow
21. März 2011
Russland KurzgeschichteLesezeit: ca. 3 Minuten
Ungefähr in den Jahren 1954-1955 war mein Vater öfter dienstlich in der Oblast Kaliningrad unterwegs und berichtete meiner Mutter nach seiner Rückkehr von seinen Reisen. Er berichtete ihr in meiner Gegenwart und nahm damals zu Recht an, dass gewisse Details für mich aufgrund meiner jungen Jahre unverständlich bleiben würden. Tatsächlich habe ich solche Dinge damals nicht verstanden. Wie sich jedoch herausstellte, hat meine Erinnerung sie bewahrt. Irgendeinem Zweck sollte das wohl dienen …
Mein Vater fuhr in einem Pkw eine Landstraße entlang, als er von einem Mann mit rotem Dienstausweis angehalten wurde; dieser bat darum, in irgendeinen Ort gefahren zu werden. Unterwegs kamen sie ins Gespräch, und der Mann erfuhr alles, wofür er sich interessierte (die Leute mit den roten Dienstausweisen hatten damals das uneingeschränkte Recht auf allerlei Informationen). Später sagte er, dass er selbst auch Moskauer, aber seit neunzehnhundertdreißig nicht mehr in der Hauptstadt gewesen sei … Seine weiteren Offenbarungen begriff ich kaum: vielleicht war er so sehr gekränkt, dass dieses Gefühl seine Furcht noch übertraf, oder aber die Zeiten erschienen ihm inzwischen vollkommen sorglos, oder er und mein Vater hatten ordentlich getrunken – vielleicht auch ein wenig von alledem, jedenfalls sagte der Geheimdienstler, dass er „wegen der Leiter“ aus Moskau verbannt worden war.
An dem Tag, an dem Majakowski1 starb, schob er – der zu diesem Zeitpunkt entweder ein einfacher junger Soldat oder Kadett war – Wache auf der Ljubjanka und war als einer der ersten am Ort der Tragödie; die Wohnung des Dichters befand sich in unmittelbarer Nähe in der Nachbarschaft. Dort sah er eine Leiter, die von außen am Haus lehnte und zu einem Fenster an der Giebelseite der Hauses führte. Als er später aus der Wohnung zurück auf die Straße kam, fehlte die Leiter. Dabei war das Fenster sehr hoch gelegen, und die Leiter war entsprechend so lang, dass ein Mensch sie beileibe nicht hätte allein fortbringen können. Am selben Tag verfasste er einen Bericht, wo er die Annahme äußerte, dass Unbekannte mithilfe dieser Leiter in die Wohnung gelangt sein könnten, und dass es sicher drei oder sogar vier Personen von nicht eben geringer Körperkraft gewesen sein müssen, denn ansonsten wäre es nicht möglich, eine solche Leiter herbeizuschaffen, geschweige denn, sie am Haus aufzurichten. Wohin diese Leiter anschließend gelangt sei, war ebenso unklar … Tatsächlich hätten diese drei oder vier starken Personen die Leiter ja irgendwohin fortschaffen müssen, und das konnte nicht weit sein, wo man sie vermutlich auch versteckt hatte … Am darauf folgenden Tag wurde der scharfsinnige junge Mann auf höchsten Befehl nach Transbaikalien versetzt.
Als er einmal, auf Dienstreise in der entlegensten Provinz, einen ehemaligen Dienstkameraden traf und sich mit diesem unterhielt, begriff er, dass man sie aufgrund dieser unglückseligen Leiter in der Weltgeschichte verstreut hatte. Dabei ist es ihnen noch gut gegangen: Jemand von den erfahreneren Geheimdienstlern war überhaupt verschollen – vermutlich hatte er etwas in der Wohnung selbst bemerkt, das so nicht vorgesehen war. Er beendete seine kurze Offenbarung mit der Bemerkung, dass dieses Haus bald gesprengt oder komplett umgebaut werden soll, um die Möglichkeit weiterer Ermittlungen gänzlich auszuschließen.
In der Tat wurde dieses Haus – ob bald darauf oder nicht so bald – gleich wie das „Angleterre“2 umgebaut, gesprengt aber haben sie das Ipatjew-Haus3.
-
Wladimir Majakowski (1893-1930), sowjetischer Dichter – Verm. d. Ü. ↩
-
Hotel d'Angleterre in St. Petersburg; am 28. Dezember 1925 wurde der russische Lyriker Sergej Jesenin (*1895) dort tot aufgefunden. – Verm. d. Ü. ↩
-
Haus in Jekaterinburg, in dem der letzte russische Zar Nikolaus II. samt Familie monatelang gefangengehalten und schließlich umgebracht wurde. – Verm. d. Ü. ↩