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Die Tragödie der russischen Kreisstadt

Über Verwahrlosung und Verfall typischer russischer Provinzstädte, was hinter der Fassade aus Trostlosigkeit und Dreck steckt und darüber, dass es heute an Menschen mangelt.

Autor: Dmitrij Olschanskij

17. Juli 2023

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Das Schicksal der Kreisstädte in Zentralrussland unterscheidet sich in Details, bildet aber insgesamt ein einheitliches Gesamtbild.

Ihre Geschichte beginnt auf einem Hügel an einem Fluss. Dort erstreckten sich seinerzeit die Besitztümer gewisser Lehensfürsten. Davon ist natürlich nichts geblieben – nur einige Erwähnungen in den Chroniken, ein Phantasiegemälde mit Gutshäusern und Reitern im Museum (als Kopie des Werks eines fleißigen Künstlers vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts) und als Wichtigstes vielleicht die von Brennesseln und unbekannten Blumen überwucherten Wälle der ehemaligen (vor unerdenklichen Zeiten abgebrannten) Holzburg, auf denen der neue Bürgermeister durch Inanspruchnahme irgendwelcher Fördermittel aus Moskau einen Hauch Urbanismus organisiert hat: Er ließ Plattenwege legen, Sitzbänke mit Laternen aufstellen und ebenso Skulpturen der lokalen Berühmtheiten zur allgemeinen Erbauung errichten. Die zugereisten Bildungsbürger haben keinen Gefallen an diesem Urbanismus und den Skulpturen, denn sie, diese hochnäsigen Bildungsbürger, finden, dass der urtümliche Wildwuchs origineller und ethischer gewesen ist, dafür nutzt aber das Volk diese Klischees aus der Hauptstadt gern, und da ganz besonders die, welche um die sechzehn Jahre alt sind.

Im Spätmittelalter fiel die Stadt Moskau zu, und ungefähr zur selben Zeit baute man die steinerne Kathedrale, die wiederum nach einer Reihe von Eroberungen der Stadt und Feuersbrünsten umgebaut, dann abgerissen und wieder neu aufgebaut wurde. Die Sowjetmacht richtete dort ein Getreidelager, ein Kino und eine Diskothek ein, aber in den neunziger Jahren gab man sie den Gläubigen zurück, wonach sie lange und unter großen Mühen wiederbelebt wurde. Um die Kathedrale herum findet man einen idealen Blumengarten, und die munteren Tantchen zwingen jeden Zentimeter der schlechten Erde dazu, schön auszusehen. Der Gemeindevorsteher ist für gewöhnlich ein junger Konservativer, aber vor allem ein unheimlich abgeschlagener Mann, der vor lauter Taufen und kirchlichen Eheschließungen kein Land mehr sieht (aus irgendeinem Grund gibt es wesentlich weniger Leute, die zu beichten begehren).

Zarin Jekaterina die Große ließ die örtlichen Straßen nach dem Reißbrett verlegen, und auf diesen Straßen wuchsen wunderbare Villen der Adels- und später auch der Kaufleute. Die der etwas Reicheren komplett aus Stein, die übrigen im geliebten russischen Stil, mit einem aus Holz aufgebauten Obergeschoss und einem vernachlässigten Garten, dessen höhere Triebe man hinter dem wie durch ein Wunder erhaltenen Tor sehen kann. Dort, wo die Behörden, die Sparkasse oder die Bezirksverwaltung in diese Villen eingezogen sind, gibt es das unverhoffte Glück, dass das Dach an Ort und Stelle und die Fensterscheiben heil sind. Wo nichts dieser Art passiert ist, dort herrschen Verfall und Verödung. Mitunter kommt es allerdings vor, dass das einstige Familienanwesen zu Sowjetzeiten zu Wohnungen parzelliert wurde, und in diesen geht, ungeachtet des Zerfalls und der Armut, das Leben weiter.

Vom Hofadel und den Kaufleuten ist immerhin mehr geblieben als von den altrussischen Fürsten: einige Porträts, die von einem dem Alkohol verfallenen Künstler aus den Reihen der befreiten Mannsbilder1 geschaffen und irgendwann aus den inzwischen ausgeraubten Villen beschlagnahmt wurden, aus gleicher Quelle ein Tisch aus Rotholz mit einigen Sesseln – all das findet sich wiederum im Museum mitsamt von Beschriftungen über diesen und jenen vielfachen Ordensträger und geborenen Ehrenbürger, der vor hundertfünfzig Jahren in den hiesigen Gegenden Gymnasien, Armen- und Krankenhäuser, Fabriken, Geschäfte und öffentliche Parks baute und schuf. Bei einem Blick aus dem Fenster fällt es schwer, das zu glauben. Dafür erklären die finsteren Visagen der Rotarmisten und Tschekisten aus dem benachbarten, der Revolution gewidmeten Saal, wie es zu diesem Kontrast zwischen vorgestern und heute gekommen ist.

Überhaupt lässt sich das Ausmaß des hiesigen Zusammenbruchs, untersucht und beliest man sich über die Hergänge eingehender, nicht einfach kaltblütig konstatieren. In einem Raum von nur wenigen Kilometern nach links und nach rechts wurde hier das gesamte zwanzigste Jahrhundert über verbrannt, konfisziert, verhaftet, zur nächstgelegenen Erdspalte geschleppt, verdichtet, kaputtgemacht, abgerissen, kurz: der Bereich der Schönheit, der Freude und vor allem der Generationen alten Kontinuität unerbittlich zusammengestaucht, erst durch einen werktätigen Brutalismus, und später, als man die Werktätigkeit abschaffte, durch Leere und Verfall ersetzt.

Begibt man sich in Richtung der Außenbezirke, so erwarten einen niedrige Plattenbauten aus der Zeit Chruschtschows, Baracken, oder eher noch aus Silikatziegeln errichtete Häuser von zwei oder drei Stockwerken, die sich keinerlei Stilrichtung zuordnen lassen und mit künstlerischen Kompositionen aus Autoreifen und Plastikflaschen verziert sind. Mitunter findet man noch eine heil gebliebene Kirche aus dem achtzehnten Jahrhundert – Barock; sie wurde kaputtgemacht, aber nicht ganz, und inzwischen ist ein Mäzen aus der Metropole zur Hilfe gekommen. Der Fluss – ganz derselbe, den man vom Wall aus sieht, wenn man auf den modernen Gehwegplatten steht – schlängelt sich noch mehrfach ganz in der Nähe herum, aber man sieht ihn nicht, da es keinerlei Uferstraße gibt: Die Bezirksverwaltung verspricht es immer wieder, aber es kommt und kommt nichts. Um an die betörende Landschaft heranzutreten, muss man sich auf der Rückseite depressiver Mehrgeschösser durch eine Müllhalde und ewigen Dreck, durch irgendwelche vor Millionen von Jahren verlassenen Garagen oder sonstwas für Bauten, durch das Gebell von Hunden und das Summen von Mücken kämpfen, doch wenn man den Mut zusammengebracht hat und weitergeht, immer weiter, dann kann man ans Ufer gelangen – und dann eröffnet sich einem ein fesselndes Bild mit geheimnisvollen Wäldern am Horizont und einem einsamen Motorboot irgendeines unsichtbaren Anglers, das sich schläfrig im zarten Wasser wiegt.

Von diesem Ufer möchte man nicht fortgehen. Aber es muss wohl sein.

In den Außenbezirken – da, wo sich der Reifenwechsel, die Tankstelle, undefinierbare dreckige Zäune, verlassene Produktionsstätten vergessener Waren und ein Bierausschank befinden und bereits das Reich des Bärenklaus seine Ausläufer ausstreckt, gibt es außerdem noch eine Friedhofskirche (üblicherweise Allen Heiligen geweiht), wo man einmal hineinschauen sollte, denn sie allein wurde nie geschlossen. Man betrachtet sich ihr bescheidenes Inneres, geht vorsichtig um einen frisch eingetroffenen Sarg herum, der auf zusammengeschobenen Bänken seiner Aussegnung harrt, und es bleibt nur, auf einer kleinen Allee in die Tiefen des Friedhofs zu schreiten und dort, inmitten von Gedenksteinen für verbissen dreinblickende Ingenieure aus den Siebzigern und für ethnografische Großmütterchen in dunklen Kopftüchern (lebten sehr armselig, dafür hundert Jahre lang) findet sich unbedingt noch ein Beweis dafür, dass die Geschichte dieser Stadt nicht einfach nur eine Ansammlung von Museumsbildern ist. Es findet sich nämlich ein umgestürzter Grabstein, auf dem man noch entziffern kann: „Unter diesem Stein ruhen die sterblichen Überreste der Kaufmannswitwe …“, und wenn diese sterblichen Überreste nach der Befreiung der Bauern zur Ruhe kamen, dann wird das Grab von einer schwergewichtigen Truhe aus Granit gekrönt, wenn aber vorher, dann ist es ein stilistisch als „Empire“ zu bezeichnendes Grab. In jedem Fall handelt es sich dabei um ein Zeichen – den Reifenwechsel und die Werbetafeln für „Schnell Geld“ gab es hier nicht schon immer, sondern vorher war hier auch schon jemand. Und dieses Phantom gefällt uns natürlich weit mehr als die triste, verwahrloste Gegenwart.

Wessen bedarf diese verallgemeinerte Kreisstadt? Sie braucht Geld.

Aber die staatlichen Gelder fließen nicht oder fließen zu spät, in geringer Menge und nicht für die wichtigen Dinge, bestenfalls noch für Straßenlaternen.

Sie braucht privates Geld, das heißt: Sie braucht Menschen. Aber Menschen gibt es keine mehr. Es werden ihrer immer weniger, und jedes mehr oder weniger befähigte Kind eilt, nachdem es ein gewisses Alter erreicht hat, von dannen, um sich so schnell wie möglich in einen erschöpften Manager aus dem Moskauer Umland zu verwandeln, der die Menschenmassen im Business Center gegen die Menschenmassen in der Metro wechselt, oder auch in einen Aktivisten gewisser moderner Lehren, sofern es irgendeine geisteswissenschaftliche Richtung eingeschlagen hat. Denn was soll es denn tun, dieses Kind, wenn es zu Hause bleibt – sich etwa bei der Betrachtung des Flusses vom Wall aus an Bier ergötzen? Das bleibt für die, welche schlecht in der Schule waren.

Mitunter passiert freilich ein Wunder. Es kommt jemand aus Moskau und errichtet ein altes Haus neu, eröffnet darin ein Museum oder ein Hotel. Oder ein gebürtiger Einheimischer, ein unverbesserlicher Optimist, rennt herum, verlegt Bücher, holt alte Dinge aus der Vergessenheit und rückt den umgebenden Verfall für die sozialen Medien so ins photographische Licht, dass es einem wie die paradiesischen Gärten vorkommt und das einen bedeutenden Neid derer hervorrufen, die dreihundert Kilometer entfernt in einem vierundzwanzigsten Stockwerk hocken. Oder Mönche, wenn in den Bereichen außerhalb der Stadt ein Kloster mit kleinen Türmchen und einer heiligen Quelle erhalten geblieben ist, empfangen dort Pilger und Wanderer, öffnen mit einem riesigen Schlüssel die laut knarrenden Kirchenpforten und erinnern diskret daran, dass Gott nicht nur halb abgeriebene Fresken, die Julisonne und kalten Kwas bedeutet.

Allein genügt das alles nicht. Und es scheint einem immer, dass man noch etwas tun müsste: hier ausmisten, da restaurieren, dort jemanden unterbringen, und da noch, kurz gesagt, Leben einhauchen.

Doch es, dieses Leben, ist derzeit weit näher am Zustand der sterblichen Überreste als diese eure Kaufmannswitwe von 1875.

Und am ehrlichsten wäre es für einen zufälligen, aber verliebten Besucher dieser Ortschaften, nicht von der Wiedererrichtung des Untergegangenen zu schwärmen, sich nicht anstelle der traurigen Realität eine nie wahr werdende Alternative vorzustellen, sondern diese Welt genau so zu akzeptieren, wie sie ist. Mit den herumlungernden Typen und der Mucke, mit den Kleinstadtbehörden und den Plattenbauten, den toten Kommissaren, den frühen Anglern und den hohen Brennnesseln.

Sie so akzeptieren und eines Tages zurückkehren.

Quelle: octagon.media


  1. Gemeint ein vormals Leibeigener; 1861 wurde in Russland unter Zar Alexander II. die bäuerliche Leibeigenschaft aufgehoben – Verm. d. Ü.