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Die Welle

Die Welle des Globalismus, die Welle der Neuzeit rollt heran – und sie wird unausweichlich über uns zusammenschlagen.

Autor: Dmitrij Olschanskij

18. April 2023

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 8 Minuten

Die ersten zehn oder fünfzehn Jahre des neuen Jahrhunderts konnten wir die Vorgänge noch nicht so recht vom zwanzigsten Jahrhundert unterscheiden, wir lebten irgendwie auf die alte Art weiter, in den letzten fünf-sieben Jahren jedoch tritt die Zukunft langsam aus der Dunkelheit hervor, ihre unangenehmen Eigenschaften werden für jedermann erkennbar; und obwohl die aktuellen russischen Ereignisse diese unlustige Zukunft doch noch ein wenig in die Ferne rücken lassen, indem sie Russland einstweilen von der westlichen Zivilisation scheiden, können wir doch dem ganzen Set an Symbolen nicht entrinnen, das man »Globalismus«, »Postmoderne«, »Fortschritt« oder »Neuzeit« nennt. Dieses ganze Vergnügen wird uns eines Tages auf die Köpfe fallen, ganz so, wie vor hundert Jahren die Religion des Kommunismus über die Heimat kam, und vor dreißig Jahren die Religion der Pepsi-Cola; es wäre also bereits zum jetzigen Zeitpunkt ganz nützlich, unsere Chancen beim Zusammenstoß mit dieser Weltenkröte1 – wie ein gewisser Denker sie nannte – nüchtern zu bewerten.

Was macht diese Kröte aus? Die Liste ist bekannt, freilich kann sie immer durch neue, bislang unbekannte Schweinereien erweitert werden. Der Kult der Geschlechtsumwandlung. Der Kult der Migration aus maximal exotischen Ländern des Südens und des Orients in die Großstädte. Der Kult nationaler Minderheiten generell und der Ukraine im Speziellen. Das Matriarchat und der Krieg gegen die Männer. Ein weiterer Krieg gegen die Männer, dieser nun schon auf der Schiene der eingeschlechtlichen Liebe. Radikaler Ökologismus, der sich besonders leidenschaftlich in der Barbarei ausdrückt – etwas kaputt machen, um „die Natur zu retten“. Ein endloses Ausspielen der Begriffe „Imperium“ und „Kolonialismus“ – in Form einer Abschaffung aller großen und alten Nationen des christlichen Kosmos. Ein sorgfältiger, ohne den früher proklamierten Atheismus erfolgender Angriff auf das Christentum unter dem Banner eines modernen Heidentums, einer Esoterik-Astrologie-Tarotkarten, und was einem noch alles aus dem Genre der »mystischen Geheimnisse des Universums« in den Sinn kommen mag. Schließlich die Psychotherapie und eine geflissentlich aufgebaute Alltags- und Sprachdisziplin, bei der alle dazu verpflichtet sein werden, „achtsam“ und „woke“, freundlich und ungefährlich zu sein, mit anderen Worten: vollkommen abgespeckte Sojalumpen, wie sich manche auszudrücken pflegen. Und zu guter Letzt die Herrschaft der alles wissenden und alle bespitzelnden Maschinen, die dazu da sind, die Arbeit der Menschen zu verdrängen und das Verhalten jedes Einzelnen sorgfältig zu beobachten, um im Falle eines Falles jedem beliebigen den Zugang zu Geld, Fahrzeugen, Transport, Dokumenten zu sperren, also ein ungehorsames Leben einfach abzuschalten.

Was tut man denn nun mit all dieser Pracht? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Vor allem gibt es die Möglichkeit, sich einfach zu ergeben.

Das ist gar keine so phantastische Perspektive, wie sie uns jetzt scheinen mag. Ich möchte daran erinnern, dass in früheren Zeiten, als andere westliche Strömungen und Trends – erst der Kommunismus, dann die Pepsi-Cola – gegen Russland anstürmten, unser Land sich diesen neuen Werten ja gerade ausgeliefert hat, und das schnell und fast schon freiwillig. Natürlich fällt es einem heute schwer zu glauben, dass Ideen wie die Geschlechtsumwandlung und die Vergötterung der Migration aus Zentralasien von den Russen begeistert aufgenommen werden, und dass diese Ideen, im historischen Kontext gesehen, erfolgreich mit den Siegen erst des »Marxismus-Leninismus« und dann der Konsumgesellschaft konkurrieren können. Ich wäre da aber nicht zu optimistisch, denn in unserer Heimat ist alles möglich, darunter auch jeder beliebige Irrsinn und Barbarei – denn wir sehen ja, wie der Staat in unseren Städten blindwütig die schädliche Mode von auf den Gehwegen auf Elektro-Rollern herumbretternden Halbstarken kultiviert. Es stellt sich ja die Frage: Wozu brauchen die Beamten denn diese unfallträchtige Dummheit, die ihre konservativen Wähler bedroht, welche ohne jegliche Elektroräder langsam zu den Lebensmittelläden schlendern. Nichtsdestoweniger dürstet es den Beamten nach diesen Rollern. Was ist, wenn er plötzlich für Geschlechtsumwandlung ist, sollte ein entsprechender Befehl aus London oder Paris kommen?

Jedenfalls muss man sich darauf vorbereiten, dass wenn die Variante »ergeben«, Gott verhüte es, eintritt, die kommende Gesellschaft orwellsche, totalitäre Charakterzüge aufweisen wird. Sie wird auf Zensur und Denunziation, auf Verdummung und Selbsthypnose von derartigem Ausmaß aufgebaut sein, dass selbst die sowjetischen Ordnungen uns noch außerordentlich locker vorkommen werden, und das schon aus dem Grund, dass die Sowjetmacht es zwar ganz gut verstand, zu schlagen und zu verfolgen, aber keinen so starken Einfluss auf die Psyche der Normalbürger ausübte wie die heutige westliche Welt. Es fehlte ihr am Geschick, die Menschen in die Hölle verliebt zu machen, eine Kunst, die dagegen von den zeitgenössischen Konzernen perfekt beherrscht wird.

Eine Alternative unserer künftigen Beziehungen zum Globalismus bestünde darin, dass Russland, wie manche fordern, eine eigene Maschinerie aufbauen muss, die Menschen anzieht und gesellschaftliche Werte schafft, welche die schicksalhafte Neigung der Jugend des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu diesem ganzen Transgenderismus überwinden könnte. Von solchen lichten Perspektiven reden diverse Staatsmänner gern (noch mehr aber ihr wortreiches Servicepersonal), aber ich muss ehrlich zugeben: Ich glaube nicht daran. Um ein eigenes »Amerika« zu schaffen, so, dass hier unter jeder Birke unsere eigenen Hollywoods und Netflixe, Harvarde und Iphones geboren werden, bräuchte es eine derartige Konzentration von Geld und Talenten, bürokratischer und privater Anstrengungen, dass allein die Vorstellung eines solchen Glücks schwerfällt, bei aller Liebe zu unserer Heimat. Natürlich kommt es vor, dass Wunder passieren, aber rechnen kann man damit nicht, und deshalb ist es besser, man geht nüchtern davon aus, dass die weltweit gültigen Muster in Manhattan und Kalifornien erdacht werden, während die hiesigen Mendelejews, Sikorskis und Eisensteins zwar wahrscheinlich weiterhin hier geboren werden, aber im weiteren Verlauf entweder emigrieren, oder wenn sie bleiben, dann ihre besten Jahre vergessen und verkannt zubringen müssen. Wenn das jemandem unwahrscheinlich vorkommt, so empfehle ich die nochmalige Lektüre der allseits bekannten Geschichte Leskows »Der Linkshänder«, denn die hat nach anderthalb Jahrhunderten kein bisschen an Aktualität verloren.

Es gäbe ein weiteres Szenario eines Lebens in Russland unter dem Ansturm der »Neuzeit«: keine Kapitulation, kein Gegen-Ansturm, sondern die Isolation.

In den 2020er Jahren, nach all den Barrieren, Zäunen, Sanktionen und Einschränkungen, welche der Realität zuerst durch Covid und dann durch den russisch-ukrainischen Konflikt auferlegt wurden, könnte es scheinen, dass es nichts Realistischeres gäbe als ein von der gesamten Außenwelt abgeschnittenes Land, das zwar zum Teil durch die neue Inkarnation eines Eisernen Vorhangs leidet, zum anderen Teil aber diese plötzliche Einsamkeit genießt, zumal nur sie, diese Einsamkeit, es ihm gestattet, sich vor den grassierenden globalen Moden zu verbergen, nicht auf Knien vor den »entkolonisierten Völkern« zu stehen, keine nützlichen Haushaltsgeräte im Namen eins »Kampfes gegen die Erderwärmung« abzuschalten, sich nicht aus einem Jungen in ein Mädchen zu verwandeln und andersherum, oder überhaupt in ein Zwischenwesen, das neutral angesprochen zu werden fordert, zumal das globale Parteikomitee darauf besteht.

Das wäre eine schöne Utopie – ein abgesondertes, verlorenes Russland. Schade, das wird nicht gelingen.

Die Sache ist, dass der russische Mensch – betrachtet man ihn unter ethnokulturellem Gesichtspunkt – einfach keinen natürlichen Mechanismus einer Absonderung vom Westen besitzt, wie er zum Beispiel im Iran oder in China existiert, also dort, wo eine solche Isolation tatsächlich stattgefunden hat. Der russische Mensch ist, verglichen mit dem Europäer, nicht wirklich »anders« – weder seine Sprache, noch seine Religion deutet das Vorhandensein einer »natürlichen« Scheidewand zwischen uns an. Mehr noch, Russland ist ja gerade durch seine mächtige Neigung zum Westen berühmt, die so mächtig ist, dass selbst in den Fällen, bei denen Russland irgendwo zwischen Smolensk, der Krim und Polen mittels militärischer Gewalt für seine Rechte eintreten muss, dieser Kampf eher wie ein Versuch aussieht, dem westlichen Verwandten seine Rechte und Möglichkeiten zu beweisen, ihm endlich nahezubringen – und sei es auch auf solch verzweifelte Art – dass wir auch keine schlechteren Menschen als sie sind, und überhaupt kein Bestreben nach Abgrenzung gegenüber Fremden und danach, sie am besten zu vergessen. Und wie tief auch unser Verdruss über die Londons, Parise und Washingtons sein mag – über diese blasierten, heuchlerischen Hauptstädte – es wird ein wenig Zeit vergehen, und wir werden uns wieder für sie interessieren, dort nach der Wahrheit forschen, und an diesem anderen Ufer nach Verständnis und Anerkennung suchen.

Aber wie kommen wir denn dann mit der sogenannten »Neuzeit« zurecht? Sie ist ja, Gott sei’s geklagt, gar nicht gut.

Ich hätte eine interessante und unschöne Antwort.

Feilschen. Mit den Hörnern stoßen, uns wieder vertragen, das Seil überspannen, irgendwo gewinnen, anderswo nachgeben, und so eben in einer halbschlächtigen Kompromisslage leben. So lebt ja übrigens auch jeder beliebige Mensch, wenn wir ehrlich sind.

Sind Amerikaner und Chinesen beste Freunde oder Todfeinde? Halb und halb. Und die Türkei und Europa? Und Israel und Europa? Oder sogar Israel und die Araber? Was ist mit dem Iran und den Arabern? Lateinamerikaner und deren Gringo-Nachbarn? Engländer und Schotten? Die Deutschen und alle sie umgebenden Völker (denn viele erinnern sich ja noch an sie)?

Es gibt nirgends das ewige Glück, aber es gibt auch keine absolute Feindschaft. So wird das auch in unseren Beziehungen mit dem Westen laufen, folglich auch mit dem »Fortschritt«, den er um sich herum verbreitet.

Es werden fünf, zehn oder zwanzig Jahre vergehen – niemand kann diese Fristen vorhersehen – und urplötzlich werden wir uns an etwas aus dem Set an Dingen gewöhnt haben, die uns heute nerven. Womöglich gewöhnen wir uns an den Feminismus oder werden diszipliniert zum Psychotherapeuten marschieren. Wenn wir nämlich schlau und beharrlich sind, kann es sein, dass wir andererseits die scheußlichsten Ausprägungen der aufziehenden Mode werden vermeiden können – wir verwandeln uns, mal angenommen, nicht in Wesen mit einer Art Zwischengeschlecht, reden einander nicht mir »es« an wie ein Monster aus einem Horrorfilm.

Die Welle des Globalismus, die Welle der Neuzeit rollt heran – und sie wird unausweichlich über uns zusammenschlagen. Wir können sie nicht abstellen, uns nicht vor ihr verstecken, und können sie nicht mit unserer eigenen Gegenwelle brechen.

Aber wenn wir Glück haben, dann tauchen wir wieder aus ihr heraus auf.

Nass, verbeult, aber lebendig.

Quelle: octagon.media


  1. Vmtl. auf den russischen Philosophen u. Publizisten Konstantin Krylow (1967-2020) zurückgehende Allegorie auf eine düstere Herrschaft des Globalismus bzw. die weltweite Hegemonie linker Globalisten. Im aktuellen deutschen Sprachgebrauch gibt es ähnliche Versuche, einen Ausdruck für diesen Sachverhalt zu finden (etwa „Globo-Homo“ u.a.) - Verm. d. Ü.