Liebe trotz widriger Umstände
Warum ein seine Heimat liebender Russe angesichts der hässlichen Realität nicht das Handtuch wirft, kann er selbst nicht erklären.
Autor: Dmitrij Olschanskij
22. Mai 2023
Russland GesellschaftLesezeit: ca. 5 Minuten
Das aufrichtige patriotische Gefühl in Russland ähnelt dem langsamen, beharrlichen Erklimmen eines Berges, das ein Mensch unternimmt, dem nichts ferner als das Bergsteigen liegen könnte. Der schmale, sich zwischen Abgründen windende Pfad lässt sich aller paar Schritte kaum noch ausmachen. Aus etwas weiter entfernten Büschen kommen unangenehme Geräusche – jemand frisst jemanden. Immer wieder wird die Steigung so stark, fast schon vertikal, dass man greifen muss, was einem unter die Hand kommt – spärlich vorkommende Äste, große Steine – um nicht ins Nirgendwo abzustürzen. Mitunter kann man auch innehalten, durchatmen, aber dann muss es weiter bergauf gehen – aber wofür eigentlich? Das kann derjenige nicht verstehen, der sich diesen Berg aus der Entfernung betrachtet. Doch der freiwillige Gipfelstürmer, ermattet, verstaubt und zerkratzt wie er ist, hat doch etwas im Sinn. Er braucht diesen schweren, undankbaren Prozess – doch um wessentwillen, kann er vermutlich selbst nicht plausibel erklären.
Diese einfache Metapher vermittelt das permanente Gefühl eines jeden, der hierzulande irgendetwas unternimmt und sich um etwas sorgt, recht gut. Während der typische Patriot einer beliebigen westlichen Gesellschaft, jetzt einmal abgesehen von vollkommen verzweifelten Verschwörungstheoretikern, es für normal hält, wenn alle öffentlichen Institutionen dem Land und ihm persönlich mehr oder weniger Nutzen bringen, so gilt in Russland der bürokratische Irrsinn und die staatliche Selbstzerstörung als eine gewisse düstere Norm, und ein jeglicher kleiner Schritt in Richtung des gesunden Menschenverstands dagegen als seltenes Glück. Der an den eigenen Staat gerichtete Aufschrei eines mit nützlichen Dingen beschäftigten russischen Menschen lautet in etwa so: Stört nicht! Bitte, stört nicht. Leitet kein Strafverfahren gegen mich ein, damit eure Freunde, Klassenkameraden und Kommilitonen die Ausschreibung gewinnen können und für eine Milliarde das machen, was ich für hunderttausend Rubel hinbekomme. Oder es gar nicht erst machen, nachdem sie vorsorglich die Geldmittel an sich gebracht haben.
So kommt es, dass viele Leute, die keine Lust auf unnötige Schwierigkeiten haben, sich entscheiden müssen: Entweder begeben sie sich auf die Suche nach ihrem Ich, ihrer Berufung, ihren „Idealen“ – aber dann schon getrennt von der Heimat, in einer fremden Welt, oder sie arbeiten zuhause, halten sich aber an die Regeln, und diese Regeln gewöhnen es ihnen ganz schnell ab, nicht nur sich nach irgendwelchen Idealen, sondern selbst nach der Realität umzusehen, Hauptsache, der Bericht ist solide und der Chef zufrieden.
Jene, die den ersten Weg gewählt haben, das heißt: die ausgereisten, liberalen Weltbürger, sind in den seltenen Fällen, in denen sie mit jemandem von den aus prinzipiellen Beweggründen Dagebliebenen reden, voll von giftiger Skepsis.
„Aber Sie wissen doch, dass das alles gestohlen wird? Ihnen gefällt wohl dieses sinnfreie Gebrabbel, dieses Geplapper aus der Sendung »Das internationale Panorama«1 von vor einem halben Jahrhundert? Sie glauben wirklich daran, dass Amerika gleich morgen auseinanderfallen, der Dollar wertlos werden wird? Sie glauben daran, dass das heutige Russland eine eigene, geheimnisvolle Ethik, Spiritualität und traditionelle Werte hat, auf die es der verrottende Westen abgesehen hat? Haben Sie einmal versucht herauszufinden, wieviele Koffer, nein, wieviele Flugzeuge voll Geld diese ganzen Liebhaber der Spiritualität weltweit gebunkert und wieviele ihrer Verwandten sie in diesen moralischen Verfall geschickt haben, damit diese etwas näher an London und Paris, bei den Yachten und in den Alpen, und etwas weiter weg von Ihnen sind? Wozu machen Sie das alles, jetzt mal angenommen, sie meinen es ernst?“
Es ist vollkommen unmöglich, den einstmals netten Leuten zu erklären, dass du nicht die Betrüger mit ihren Koffern unterstützt, und auch nicht die Agitation zum Thema Spiritualität aus dem Fernseher, sondern etwas ganz anderes. Es ist schwer zu erklären, dass das Leben bei dir zuhause, ein Leben in wenigstens relativer Einigkeit mit der Heimat und dem Volk, welche dir das Schicksal zugeteilt hat, sich nicht auf einen Satz angenehmer Namen und genauer Thesen, auf das Vorhandensein charismatischer und unbestechlicher Beamter auf den richtigen Posten oder auf Politiker, die ihre Geschäfte weise, sorgfältig und entschieden führen, beschränken lässt. Dass Russland mehr und auch wichtiger ist als diese zweifellos richtigen, aber trotzdem fatal kleinlichen kritischen Betrachtungen. Und dass man die hässlichen Seiten unserer Realität ignorieren können, sie mitunter auch überwinden, andermal umgehen, ansonsten auch eben einfach aushalten muss, um sie damit aufzuwiegen, was du selbst willst.
So, wie das Alexander Solschenitzyn tat, der aus dem idyllischen Vermont in die Zone eines buchstäblichen gesellschaftlichen Zerfalls zurückkehrte, wo Alkoholiker, Betrüger und Heruntergekommene an der Macht waren, um hier stur sein eigenes Ding zu drehen: Selbst zu schreiben oder andere Schriftsteller verlegen, ein Museum und eine Bibliothek aufbauen, eine Prämie stiften, und das zu raten, was der Staat erst viele Jahre später, und dann auch nur halbwegs, verstehen wird.
So, wie das Eduard Limonow tat, der aus dem romantischen Paris in genau die gleiche dreckige und abstoßende Welt der Neunziger zurückkehrte, wo es Bedarf lediglich an naiven, halb banditischen Träumen über das große Ausland gab – aber er kehrte zurück und nahm alles auf sich, einschließlich Festnahmen, Verboten, Gefängnis und der totalen Undankbarkeit; er verzweifelte jedoch nicht, sondern schuf neben seinen Büchern eine ganze Generation junger Leute, die jetzt, während die offiziellen Aktivisten der vergangenen Jahre in der Versenkung verschwunden sind, sich freiwillig auf den Weg in die Schützengräben des Donbass machten.
So, wie das viele uns bekannte und unbekannte Menschen tun, die der Dummheit, dem Geiz und der Gemeinheit des Staatsapparats keine Beachtung schenken, oder genauer: doch Beachtung schenken, sich aber von davon nicht zu sehr ablenken lassen und weiter arbeiten – der eine für die Heimat, der andere für die Front – Kirchen restaurieren, sich um die Städte kümmern, den Soldaten helfen, Kinder retten, das, was unter der Hand und zugänglich ist, pflegen.
Sie lieben die Heimat trotzdem, trotz der widrigen Umstände, die wir bereits auswendig kennen, dabei aber nicht wissen, wie wir uns dieses Unglück vom Hals schaffen können.
Man sollte nicht so tun, als sei das eine leichte, unbeschwerte Sache – die Liebe trotz widriger Umstände. Nein, das ist genauso undankbar, wie das Erklimmen eines glatten, nur aus Steinen und Stacheln bestehenden Berges.
Doch dort, ganz oben, wohin es erst noch zu gelangen gilt – und Gott allein weiß, ob es gelingt – ist etwas. Etwas Wunderbares.
Und das bedeutet, dass es dieser Entbehrungen wert ist.
Quelle: octagon.media
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»Международная панорама« (Meschdunarodnaja panorama), populäres Fernsehjournal des sowjetischen Zentralfernsehens (1969-1991) mit kritischen Betrachtungen von Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur im Ausland – Verm. d. Ü. ↩