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Ich, Wir und Es

Über die tiefer liegenden Gründe des "Wagner"-Aufstands: Warum ambitionierte Menschen in Russland alles um sich herum kaputtmachen, emigrieren, rebellieren und verraten, oder einfach tatenlos im Sumpf versacken.

Autor: Dmitrij Olschanskij

29. Juni 2023

 Russland   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 9 Minuten

Die unvermittelte Meuterei der Piraten am 24. Juni 2023 ist mit allen ihren offenbaren und geheimen Details zum Glück bereits Geschichte. Man kann nun wieder ausatmen und über ihre tiefer liegenden Gründe sinnieren, die hinter dem politischen Tumult und hinter dem Vormarsch der aufrührerischen Kolonnen über die südlichen Trassen liegen.

Die anglo-amerikanische Zivilisation, von unseren patriotischen Stimmen endlos verflucht (mitunter, muss man zugeben, ganz zu Recht), hat der Welt und sich selbst eine grandiose soziale Neuerung gebracht, die inzwischen auch bereits in den Fundamenten der europäischen Kultur angelegt ist. Sie hat aufgezeigt, wie man einen Staat – mehr noch, ein Imperium – aus einer Unmenge an privaten Initiativen, privaten Gesellschaften und ihren Ressourcen bildet. Sie hat aufgezeigt, wie die scheinbar im völligen Durcheinander, im Namen des eigenen Profits und je nach eigenen Regeln handelnden Subjekte – schillernde Religionsgemeinschaften, globale Handelsunternehmen, Freibeuter und Sklavenhändler, Industriebarone und die sich ständig gegenseitig beschuldigenden Politiker, mächtige, durch die Jahrhunderte agierende Clans, Diaspora-Gemeinden (einschließlich solcher, die zum Mafiösen tendieren) und exzentrische Unternehmer – wie sie alle im Endeffekt für die Größe erst des British Empire, dann auch Amerikas tätig sind, und wie dieses komplizierte Netz sich Mal ums Mal als flexibler und stärker erweist als andere Systeme, die auf einer geradlinigeren Hierarchie fußen. Ich möchte im Übrigen noch einmal anmerken, dass es die große Kunst, einen solchen staatlichen Chor zu dirigieren (statt eine einheitliche, einfache Marschkolonne zu befehligen), bereits in der Geschichte des Vatikans gab, der die katholische Welt mit ihren dutzenden Mönchsorden mit je eigenen Regeln hervorgebracht hat, ebenso auch in der Geschichte der freien Städte, der Adelshäuser, der Handels- und Handwerksgilden, oder, kurz gesagt, diese ganze politische Polyphonie ist „der Westen“.

Und wie sieht es damit unter unseren heimischen Birken aus? Gar nicht.

Anstelle dieser ganzen fremdartigen Pracht haben wir eine Substanz, von der man gar nicht einmal weiß, wie man sie am besten bezeichnen soll. Bürokratie? Nomenklatur? Die Vorgesetzten? Alles irgendwie richtig, aber jedes Mal nicht erschöpfend. Man möchte dieses herrschende Wesen im Gedenken an Steven King geradezu als „Es“ bezeichnen.

Es handelt sich um gesichtslose Materie. Eine gesichtslose Materie, die allen „gesellschaftlichen“ Kräften von vornherein feindlich gesinnt ist und weder vom Normalbürger, noch vom Wähler oder vom Steuerzahler abhängt. Die vor allen anderen Dingen mit dem eigenen Überleben, der eigenen Vermehrung und mit geheimer Bereicherung beschäftigt ist. Und immer „nach oben“ – niemals aber „nach unten“ – Rechenschaft schuldig ist. Die nicht an gleich welchen strategischen Zielstellungen oder an der erfolgreichen Bewältigung egal welcher Arbeit interessiert ist, sondern ausschließlich an Berichten, Intrigen, „Maßnahmen“, das heißt, an der rattenhaften Routine der internen Krämerei und des internen Gerangels. Die einen Mechanismus der Negativauswahl schafft, bei dem gilt: Je schlechter eine Führungspersönlichkeit, desto besser, denn ihre Unfähigkeit, Dummheit, ihr Hang zum Diebstahl und die Unbeliebtheit machen sie vorhersagbar und ungefährlich, während ein begabter, gescheiter Mensch nicht gebraucht wird, denn es ist ja nicht klar, was man von ihm zu erwarten hat. Die Probleme erst mit fataler Verspätung angeht, nämlich, wenn bereits die Katastrophe eingetreten ist, denn würde man sie etwas eher angehen, hieße das ja, die übergeordnete Instanz mit schlechten Nachrichten zu behelligen. Die ihre eigene, spezielle bürokratische Sprache spricht, die vor nebulösen und schwer auszusprechenden Formeln strotzt: „Mit dem Ziel einer effizienten Konsolidierung des gesamten Spektrums der im Rahmen der gültigen Gesetzesnormen abgestimmten und im Einvernehmen mit dem verabschiedeten Plan ratifizierten Maßnahmen zur Benachrichtigung der Bevölkerung …“, und so noch weitere hundert Kilometer schwer wiegender Worte. Die den Menschen permanent auf die Köpfe scheißt, und das nicht etwa aufgrund einer ihr innewohnenden urewigen dämonischen Bosheit, sondern weil ihr die Befindlichkeiten der Menschen schlicht vollkommen gleichgültig sind. Noch viel mehr Gutes und Lebensbejahendes könnte man von diesem „Es“ anführen. Über unsere Beamtenhölle zum Beispiel, die, wenn man Schtschedrin1 glaubt, bereits im alten Russland existierte, dann zu Zeiten der UdSSR zu wahrer Blüte kam und nunmehr wirklich keinerlei Bande mehr kennt.

Das wichtigste dabei ist allerdings, dass sich dieses düstere Wesen in den Augen vieler, eigentlich fast aller, an die Stelle der nationalen und staatlichen Interessen Russlands gesetzt hat.

Sie, diese Interessen, gibt es anscheinend gar nicht, stattdessen gibt es entweder Loyalität oder Illoyalität gegenüber dem System, das nach den oben angeführten Regeln spielt, denn ein jegliches „Interesse“, das in die Tat umgesetzt werden möchte, muss unweigerlich mit ihm zusammenstoßen – und sich in Folge entweder auflösen, oder so verwandeln, dass es vom „Es“ absorbiert und nach seinem Bilde umgeformt werden kann.

Und die uferlose Macht nicht einmal des gogolschen „Tischvorstehers“2, sondern eher jenes Tischs, an dem jedweder Vorgesetzte Platz nehmen könnte, tut ein auf gleich doppelte Weise zerstörerisches Werk.

Einerseits bringt sie hervor, was sie selbst so liebt, und zwar die Liste herunter: brabbelt etwas Unverständliches, stiehlt, orientiert sich an den Schlechtesten, entzieht sich der Verantwortung, vertagt nützliche Dinge und besteht stattdessen auf Blödsinn.

Und andererseits verändert sie auf tragische Weise diejenigen unter den ambitionierten Menschen, die ihr entgegen- oder zuwiderlaufen. So kommt es also, dass ungefähr die gleichen Persönlichkeiten und Gesellschaften, die in irgendeiner anderen Realität – sagen wir, bei den verfluchten Angelsachsen – zum Ruhm des Vaterlandes beitragen würden, hier, unter dem Joch dieses bürokratischen Wesens, degenerieren oder schaden, da sie keinerlei vernünftige staatliche und nationale Rahmenbedingungen vor Augen haben.

Mit anderen Worten, es genügt noch nicht, dass „das Regime“ über uns allen dräut, es kommt noch der „Regimegegner“ hinzu, der keine Perspektive für rationales Handeln sieht und sein Verhalten so auszurichten beginnt, dass es dadurch nur noch schlimmer wird.

Man muss gar nicht weit ausholen, um einige offensichtliche Beispiele dafür zu bringen.

Boris Jelzin, der vom ganzen Land auf Händen getragene Held des Widerstands gegen das damals noch sowjetische „Es“, der allerdings, nachdem er das damalige System erfolgreich überwunden hat, nicht etwa an die Begründung und Festigung des russischen Staates, sondern an dessen endgültige Zerrüttung und ans Parasitieren auf dessen Ruinen ging. Warum? Weil sein rasender Ehrgeiz durch nichts zurückgehalten wurde; Jelzin vertrieb oder subordinierte sich die „Tischvorsteher“, nur hatten die keinerlei Nation im Rücken. Und wenn das so ist, dann ist alles erlaubt: auf die Krim verzichten, die Russen im Baltikum vergessen, Betriebe an Gangster verteilen – und weiter auf dieser Strecke mit allen Haltestellen. Dabei hätte er doch – natürlich nur in einem Paralleluniversum – zum Retter des Vaterlandes werden können.

Michail Chodorkowski, ein in seiner Gattung zweifelsohne begabter Mensch, entschieden und stark, hat ein gigantisches Erdölimperium aufgebaut, dem langfristige Investitionen in Bildung, Gesundheitswesen, in all unser alltägliches Umfeld hätten folgen können. Investitionen der Art, wie sie seinerzeit in Amerika von den Millionären der Kategorie „Räuberbaron“ vorgenommen wurden, deren inzwischen grün angelaufene Statuen die berühmtesten Campus zieren. Doch stattdessen spielte sich die übliche Geschichte ab: Der Narzissmus des Oligarchen, der um sich herum keinerlei ernstzunehmende staatliche Institutionen, sondern nur Beamte wahrnahm, auf die er von oben herabschaute, brachte ihn zum Versuch der Machtergreifung, dann ins Gefängnis, und dann in die Emigration – und nun ist dieser Magnat, der unser Carnegy hätte werden können, zur Karikatur verkommen.

Alexei Nawalny, dessen Aufkommen ganz zu Beginn der 2010-er Jahre von vielen mit großer Hoffnung begrüßt wurde – kein Wunder, ein bemerkenswerter junger Mann, Enthüller geheimer Makel, gemäßigter Nationalist, idealer Familienmensch, direkt wie ein amerikanischer Politiker aus den Besten der dortigen Republikaner – sammelte eine Masse an Menschen um sich, die Veränderungen wollten. Weiter ging es aber zur gleichen Melodie und derselben Logik folgend: „Ich und das System“, wofür in Ermangelung eines Gespürs für die Rahmen des Möglichen, für Nation und Staat, jedes Mittel zur Zerschlagung des Gegners recht war – und das brachte den leidenschaftlichen Tribun unweigerlich zur Unterstützung der Ukraine, zur Allianz mit der auswärtigen Welt gegen die feindliche Regierung, und folglich, um es direkt auszusprechen, zum Verrat. Gerade noch war er ein russischer Patriot mit klarem Blick und sauberem Hemd, und zu wem ist er geworden? Zu einer Art langweiligem Quisling3, und es bleibt nur noch, ihn zu verpacken und an die Adressen der ausländischen Geheimdienste zu schicken.

Igor Strelkow, der niemanden verraten und nichts zerstört hat, ein vorbildlich idealistischer und prinzipienfester Mensch. Trotzdem ist seine Biographie nur eine andere Variante desselben Dramas. Der Mensch, der im Frühjahr 2014 zum nationalen Vorbild, zum Held des Aufstands geworden war, zumal eines Aufstands zur rechten Zeit und gegen den richtigen Gegner – doch was passierte weiter mit ihm? Die alte Litanei: „Es“ entschied aus seinen geheimnisvollen Kabinetten heraus, dass er nicht vorhersagbar, unkontrollierbar, gefährlich war, und drückte ihn heraus an den Straßenrand, fort von jeglicher Möglichkeit, irgendwie nützlich sein zu können. Und nun ist der, welcher der Front seit dem 24. Februar 2022 so viel Nutzen hätte bringen können – mit seinen herausragenden Qualitäten als Feldkommandeur – seit Jahren endlos damit beschäftigt, im Äther und in den sozialen Netzwerken auf die Staatsmacht zu schimpfen, missmutig in die Leere zu meckern wie eine Alte auf der Bank unten im Hof. Dabei ist das eigentlich unser Garibaldi. Hätte er jedenfalls sein können, in einer anderen Welt.

Und nun gesellt sich eben Jewgeni Prigoschin, der Sieger von Bachmut, zur Parade der zugrunde gerichteten Ambitionen. Kein besonders freundlicher Herr, ein Pirat, unsere Version des Francis Drake – er hätte Russland Charkow zurückbringen können, stattdessen aber wurde er in Rostow zum Aufrührer und beging die schwerste politische Todsünde – Rebellion und Chaos im Hinterland einer kämpfenden Armee. Wie konnte es dazu kommen, dass der Organisator des größten russischen Erfolgs im Jahr 2023 gleichzeitig zum Organisator des größten Fiaskos wurde? Nichts Neues. Der Druck des Systems, für das es immer leichter ist, sich der Fremden zu entledigen, seien sie auch noch so nützlich, anstatt sie für den Nutzen einer Sache anzupassen (die einzige Beschäftigung des Systems ist das System selbst), und das multipliziert mit der psychopathischen Reaktion gekränkter und bewaffneter Leute, führte zu diesem beschämenden Skandal, der beinahe die Front und das Land zum Zusammenbruch geführt hat.

Ein und dasselbe, ein und dasselbe.

Anstatt aus einer Vielzahl verschiedener politischer, wirtschaftlicher und militärischer „Ichs“ – ehrgeiziger, komplizierter, stachliger, aggressiver – ein großes staatliches „Wir“ zusammenzufügen, bleibt Russland ein Land, in dem das „Es“ herrscht, das keinen Bedarf an „Uns“ hat, weshalb diese „Ichs“, da sie eben nicht zu einem „Wir“ zusammengekommen sind, untergehen, alles um sich herum kaputtmachen, emigrieren, rebellieren und verraten, oder einfach tatenlos im Sumpf versacken.

Und gebe es Gott, dass wir künftig wenigstens ohne Aufruhr auskommen, doch Er allein weiß, wie oft wir noch die Wiederholung dieses traurigen Schauspiels werden erleben müssen.

Quelle: octagon.media


  1. Gemeint Michail J. Saltykow-Schtschedrin (1826-1889), russ. Schriftsteller und Satiriker – Verm. d. Ü. 

  2. s. Nikolaj W. Gogol, „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ (1835); hier Anspielung auf den Titularrat Poprischtschin – Verm. d. Ü. 

  3. Vidkun Quisling (1887-1945), 1942 bis 1945 Ministerpräsident von Norwegen in einer von der deutschen Besatzungsmacht eingesetzte Marionettenregierung – Verm. d. Ü.