:chartophylax:

Keine Türen in der Hölle

Wenn man sich für eine Konfliktpartei entscheiden muss, geht immer Wesentliches über Bord.

Autor: Dmitrij Olschanskij

16. Oktober 2023

 Russland   Ukraine   Gesellschaft 
Lesezeit: ca. 9 Minuten

Wir sind hier, und dort sind sie.

Wir sind hier, und da, auf der anderen Flussseite, dort, hinter diesen Bäumen, das sind schon sie.

Wir sind hier, und hinter dem Berg da ist schon ihr erster Checkpoint.

Die haben angefangen. Wir haben doch eine Einigung vorgeschlagen. Wir haben gesagt: Geht im Guten von hier weg. Aber sie sind nicht weggegangen. Also ist das alles ihre Schuld, nicht unsere.

Sie haben immer auf unsere Kosten gelebt. Wir haben Handel getrieben, auf dem Erdboden gearbeitet, und sie – was tun sie? Labern nur herum, wie altehrwürdig und groß sie sind. Das ist alles Lüge. Altehrwürdig und groß – das sind wir.

Sie haben eigentlich auch nie hier gelebt. Frag doch die Alten, wenn du das nicht glaubst. Ein solches Volk hat es auch nie wirklich gegeben – sie nannten sich gar nicht so. Man hat sie hierher verfrachtet. Hergeschafft, um uns zu schaden. Schau dir doch die Karten aus dem fünfzehnten Jahrhundert an – wo sind die denn da gewesen? Und schau auf die Karte von Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – und, wo sollen sie da sein? Wären nicht die Amerikaner, dann würden die gar nicht hier sein. Wären nicht die Türken, dann würden die gar nicht hier sein. Wäre nicht Rothschild. Wären nicht die Bolschewiken. Aber sie sind so oder so verdammt.

Sie sind durch Propaganda vollkommen zu Zombies geworden. Sie wollen nicht denken, nur zu uns eindringen und uns umbringen, solange wir nicht zurückschlagen. Bei denen sind alle auf wer weiß was für Drogen. Man gibt ihnen eigens dafür Geld, damit sie schießen. Wir hören ja, welche Sprachen ihre Ausbilder sprechen. Sie sind armselig, können nicht arbeiten, nur Krieg führen. Sie haben nichts als Hass, wir aber lieben einander, wir lieben unsere Kinder, wir glauben an die Zukunft, und wir werden sie auf jeden Fall besiegen und von hier fortschicken, egal wohin, Hauptsache weit weg.


In internationalen Konflikten gibt es keine Wahrheit.

Es gibt darin keinerlei „endgültige Tatsachen“, keinen objektiven Blick aus dem nicht existenten idealen Geschichtsbuch, und selbst, wenn es ihn gäbe, dann liefe das alles darauf hinaus, dass alle Schuld haben und einem alle leid tun.

Zwei Seiten, die sich allezeit und in aller Welt um ein Stückchen Erde – samt aller Menschen und Ressourcen, die es dort gibt – streiten, können euch ganze Berge an Argumenten, Beweisen, parawissenschaftlichen Theorien, schockierenden Bildern und Videoaufnahmen sowie Beispiele für die Barmherzigkeit ihrer Stammesgenossen liefern, und außerdem noch Beispiele für die Brutalität des Gegners, ungeschnittene und schreckliche Augenzeugenberichte, trockene Aussprüche loyaler Ausländer, Verweise auf antike Traktate, langweilige Dichtungen und Legenden, Beispiele für Heldenmut (der eigenen Leute) und Feigheit (der anderen), Bildchen mit Flaggen, die über heiligen Stätten wehen, Bildchen mit glücklichen Familien (wir haben gewonnen) und zerlumpten Frauen, die über den Toten weinen (wir haben verloren), langatmige Chroniken fehlgeschlagener Friedensgespräche, lebhafte Zitate, die von der unerbittlichen Bosheit des Feindes und andere lebhafte Zitate, die von der eigenen Weisheit und seelischen Schönheit künden.

Und all das überzeugt nicht, ehrlich gesagt. Und es überzeugt gerade deswegen nicht, weil die Geschichte der Welt uns geduldig ein endloses Band dieser Worte und Begriffe entrollt, die einander auf Schritt und Tritt widersprechen, und dabei wird es doch nie eine elegante und humane, alle zufriedenstellende Lösung geben. Nur einen Schwall an Pathos, der anfangs beeindruckt, später aber nur noch ermüdet.


Mitunter kommt es freilich so, dass man einen nationalen Zwist klären, oder ihn wenigstens für längere Zeit dämpfen kann – und das ganz ohne Genozid, Konzentrationslager, Massenmord und die übrigen Alpträume der Politik.

Manch einer hat Glück mit einem Imperium. Es tritt eine Nation auf den Plan, die dazu in der Lage ist, einen Über-Staat zu gründen, der nicht allein durch seine militärische Macht, sondern auch durch seine universelle Hierarchie glorreich ist, deren Autorität über sich wiederum viele der Nachbarn und kleineren Mächte akzeptieren, und dann wiederum besänftigt der Respekt vor dieser Macht und gleichzeitig auch der Wunsch, sich ihr anzuschließen, sich unter ihren mächtigen Schutzschirm zu begeben, die Veteranen irgendeines lokalen Massakers, die dann ihre Ansprüche gegeneinander einstweilen auf Eis legen, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, bis das Imperium aus Altersschwäche zu bröckeln beginnt.

Eine andere Option – weit weniger angenehm für den Zeitgenossen, dafür aber auf längere Sicht wirksamer, wäre ein zwangsweiser Bevölkerungsaustausch. Nicht etwa spontane Pogrome, sondern eben ein Austausch – oder, was noch schlimmer wäre, ein einseitiges Abreisen – wenn die unglücklichen Menschen ihre Häuser verlassen und in Gebiete gehen, die von ihrem Staat zuverlässig geschützt werden können. Man kann geradezu mit ihnen fühlen – hier gibt es verlassene Gärten, Straßen, Kirchen, die Gräber der ihren. Nichtsdestoweniger ist es so, dass die verbrecherisch leichtsinnige Grenzziehung durch Ethnien hindurch, die jemand mal in der UdSSR, jemand anderes mal im Nahen Osten vorgenommen hat, unser Leben wieder und wieder zu diesen tragischen „Umsiedlungen“ zurückkehren lässt.

Und schließlich die süßeste, begehrteste Idee. Wenn nämlich gewisse Nationen, die seit langem blutig konkurrieren, unerbittlich und unversöhnlich verfeindet sind, plötzlich so gut, so satt und sorglos zu leben beginnen, so feste und vorteilhafte Allianzen schmieden, dass alle ihre Meinungsverschiedenheiten über gewisse Landstriche stillschweigend ad acta gelegt werden, nachdem sie der sanften Einwirkung des Geldes und des Komforts unterzogen wurden. Grenzen werden abgeschafft, Kinder werden so friedlich groß, dass sie nicht zu hassen imstande sind, kurz: Die liberalen Werte trinken triumphierend Champagner – hallo, Frankreich und Deutschland in der Europäischen Union – und einzig die nebulöse Zukunft mit ihren bislang unbekannten Bedrohungen wäre imstande, diese glückliche Existenz außerhalb der Bande der Geschichte, jenseits des ewigen, könnte man meinen, Überlebenskampfes zu stören. Es versteht sich von selbst, dass es nur sehr wenige Beispiele für ein solches Glück gibt, und es werden sich schwerlich noch weitere dazu gesellen.

Was aber kann man tun, wenn in einen nationalen Konflikt verstrickte Menschen weder ein mächtiges Imperium über sich, noch enorme Einkünfte in der Tasche haben, und sie nicht einmal die Möglichkeit zu einer organisierten, sicheren Abreise irgendwohin, wo – einmal angenommen – die ihren auf sie warten, angeboten bekommen?

Leiden. Fliehen. Sich verteidigen.


Wenn es nicht gelingt, sich jeglichem Bösen zu entziehen, alle gleichermaßen nüchtern zu tadeln oder, was besser ist, mit allen gleichermaßen Mitgefühl zu haben – und derlei gelingt nur selten und nicht vielen, besonders, wenn die verfeindeten Parteien irgendwo in der Nähe und nicht am andern Ende der Welt leben – dann wählt der Mensch, für wen er ist, und lässt sich dabei von seinen eigenen privaten, familiären oder kulturellen Sympathien leiten.

Die Armenier sind meine entfernten Verwandten. Die Aserbaidschaner – die nicht, die sind keine Verwandten. Die Juden – das bin teilweise ich selbst, und was sollten mir dagegen die Palästinenser bedeuten? Die Griechen sind meine Glaubensbrüder, im Gegensatz zu den Türken. Die Iren haben eine wunderbare Musik – freilich haben die Engländer eine großartige Literatur. Die Russen sind mein Volk, und die Ukrainer? Das ist ein fremdes, ein anderes Volk – oder das gleiche?

Eine solche nationale Selektion – so unvermeidbar sie vielleicht ist – besitzt eine gewisse bedrückende Komponente. Es ist nicht schwer zu entscheiden, wer mir der meine, und wer genau das Gegenteil davon ist, doch bei einer solchen Wahl werfen wir einen gewissen Teil der Fakten und der Gefühle, einen Teil jener Wahrheit, die es – so sollte es doch scheinen – gar nicht gibt, über Bord aus unserem Bewusstsein und tun so, als gäbe es ihn einfach nicht, als wäre dieser Teil nichts anderes als eine Analogie zum widerlichen Gebrüll des Feindes, der die schlechte Flagge schwenkt.

Altehrwürdig und groß – das sind wir, sie aber – nichts weiter, als eine Ablagerung der Zeit. Wären nicht die Rothschilds und die Bolschewiken, dann wären sie gar nicht hier. Sie sind zu Zombies geworden, wir aber sind nicht zu Zombies geworden. Oder, wie es ein unguter Mensch einmal sagte (das wäre übrigens ein Zitat, durch das die Bosheit der anderen illustriert wird) – unsere Kinder werden die Schule besuchen, während deren Kinder in den Kellern hocken.

Doch wie gut wäre es, könnte man aus dieser Hölle entkommen.


Der gemeine Russe kann sich bis zum heutigen Tag nicht eingestehen, dass seine Beziehungen zur Ukraine nicht nur ein Streit zwischen Staaten, nicht einfach nur „Geopolitik“ und eine indirekte Rauferei mit Amerika um etwas Großes und Feierliches ist, um sowas wie die Gleichberechtigung der Völker und eine gerechte Weltordnung, sondern auch ein zwischennationaler Konflikt, und je weiter er geht, desto deutlicher tritt das zutage.

Es ist dies die grandiose, tragische Scheidung von Millionen von Menschen voneinander – und sie ist umso komplizierter, da deren Selbstfindung sich direkt vor unseren Augen vollzieht, denn es handelt sich ja nicht um unterschiedliche Ethnien, sondern um getrennte Teile eines Volkes.

Ich erinnere mich noch sehr gut an die ersten Schritte auf diesem Weg.

Wie die vom Kiewer Straßenkrieg gebrannten örtlichen russischen Sondereinheiten auf die Krim zurückkehrten. Wie sich in Sewastopol erst eine Menschenmenge, eine proukrainische, versammelte – die zwei Menschen, die an diesem Abend zu Tode kamen, eröffneten die Liste der Opfer – und danach unsere Demonstration, mit der die Trennung von Kiew eingeläutet wurde. Wie sie sich auf den Plätzen von Donezk schlugen, wie die bewaffneten Partisanen in Lugansk aus dem Untergrund hervorkamen, wie Ukrainer protestierende Russen in Saporoschje umstellten, wie die Morde in Charkow passierten, wie Slawjansk eingenommen wurde, und wie die Menschen in Odessa brannten.

Und so ging es Tag für Tag, aus kleinen Details, aus Verhaftungen und Schusswechseln, aus Geschimpfe im Internet und dem Auseinanderjagen von Demonstrationen, aus Zusammenstößen mit Plakaten, dann mit Stöcken und Schilden, dann mit Jagdgewehren und Barrikaden aus Autoreifen, dann mit automatischen Waffen, und weiter, weiter, und aus diesem Grunde ist das bekannte Datum des 24. Februar 2022 für einen informierten Menschen lediglich eine Station auf diesem Weg gewesen – so bildete sich dieser Kontinent des menschlichen Leids, aber auch der Freude und der Solidarität, und wiederum der Verzweiflung, und – in der Hauptsache – des Abschieds von dem ganzen vormaligen Leben, von der alten, einen Welt, wo man sich nicht vorstellen konnte, dass Dnepropetrowsk oder Charkow eine Seite, während Donezk oder Belgorod eine ganz andere Seite sind.

Wenn solche Dinge vor sich gehen, dann scheint es immer, dass es dafür rationaler Ideen bedürfe. Es bedarf einer Moral. Es bedarf einer gut vorbereiteten Abscheu gegenüber jenen, gegenüber denen diese empfunden werden soll. Es bedarf der Hoffnung, dass ungefähr morgen – na, oder übermorgen – all das Gute wieder zurückkehren wird. Dass wir selbst in die gute Vergangenheit zurückkehren werden, wenn wir nur die magische Pforte öffnen.

Es ergibt keinen Sinn, sich selbst zu belügen. Es ergibt keinen Sinn sich zu selbst zu suggerieren, dass – kaum, dass man die Amerikaner ein wenig beiseite schiebt, die fremde Flagge niederreißt, irgendwem beweist, dass wir altehrwürdig und groß sind, sie uns aber nicht das Wasser reichen können – es sein wird, wie es einmal war.

Wir sind hier, und dort sind sie. Das bleibt für lange.

Und ich bin hier – mit den meinen.

Aber etwas ganz wesentliches, echtes, herzliches, bleibt dabei über Bord.

Quelle: octagon.media