:chartophylax:

Nächtliche Intendanten

Unveröffentlichte Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow aus: „Das Erste Gebet“.

Autor: Jaroslaw Schipow

24. Mai 2013

 Russland   Kurzgeschichte 
Lesezeit: ca. 5 Minuten

In den Zeiten meiner Kindheit war der Großteil der Männer Militärangehörige. Sie hatten soeben erst die stärkste Armee der Welt zerschlagen, und in ihrer Mitte lebte es sich besonders sicher.

Wir kannten uns bestens mit den verschiedenen Waffengattungen aus. Die höchste Autorität genossen, ganz klar, die Flieger und Seeleute, danach die Panzermänner, die Artilleristen, die Infanterie, die Eisenbahntruppen und die medizinischen Dienste … Leute vom NKWD mochte man nicht. Niemand mochte sie. Selbst in einem überfüllten Bus wagte es niemand, einen Offizier mit einer blauen Mütze zu berühren, und in seiner Nähe gab es immer Raum – ein Feld der Unverträglichkeit. Dann gab es auch noch die mit den weißen Schulterstücken, also die Intendanten. Sie trugen ganz schmale, silbrige Schulterstücken. Zu den Intendanten hatten wir einfach gar kein Verhältnis, wir taten immer so, als würden wir sie nicht bemerken.

In diesen Zeiten hörte ich in der Sauna den Bericht eines gewissen Frontsoldaten davon, wie er einmal, im Jahr einundvierzig, für einen Tag von der Front nach Moskau kommandiert wurde. Als er nachts durch das Zentrum der verdunkelten Stadt schritt, flogen plötzlich die Türen eines recht bekannten Restaurants auf, und außer einem Lichtkegel quoll eine angetrunkene Gesellschaft hinaus auf die Straße: ein Intendant und eine Gruppe Zivilisten.

„Hey, Frontsoldat“, riefen sie. „Warum habt ihr Rschew aufgegeben?“

Vermutlich habe ich nicht so genau zugehört, denn das Interessanteste in der Sauna sind die Spuren von Kriegswunden: da eine Kugel, dort ein Granatsplitter, und dieses Netz aus bläulichen Punkten waren Spuren einer Verbrennung mit Schießpulver; ein entstelltes Gesicht und Hände – der da brannte in seinem Panzer …

Ungefähr zehn Jahre später geriet ich in ein berühmtes Haus. Berühmt war es durch seinen unlängst verstorbenen Hausherrn: Seine Verwandten erinnerten sich noch an die Beerdigung, und an den Abenden schauten seine Freunde herein – ohne sich vorher anzumelden, ganz wie in den Zeiten zuvor. Wir Halbstarken waren mit unseren leichtsinnigen Dingen beschäftigt und interessierten uns wenig für das Leben dieser wunderbaren Menschen. Teils aus einer der Jugend eigenen Unverständigkeit, und teils, weil es damals noch so viele von ihnen gab.

Es handelte sich um Frontdichter. Menschen eines eigenartigen Schlags, die Eigenschaften in sich vereinten, welche unter normalen Umständen schwerlich in ein und demselben Menschen Platz finden. Und wie die Frauen sie liebten! Ganz abgesehen davon sind Männer nie so hoch im Preis wie nach einem Krieg. Und je blutiger ein Krieg, desto teurer werden die Männer.

Diese so wertvollen Leute hätte man anhören sollen, so viel es irgend ging, und einem jeden ihrer Worte lauschen, wir aber hatten keinen Sinn für sie. Glücklicherweise sind einige dieser Worte, die mir zu dem einen Ohr eindrangen, nicht gleich wieder zum anderen Ohr herausgeflogen. Es ging um einen bekannten Dichter und Liedermacher, der zu Zeiten des Kriegs von der Front nach Moskau geflogen kam, um sich dort mit einem nicht minder bekannten Komponisten zu treffen. Sicherlich kam es nicht zu dem Treffen, weil den beiden gerade danach war, sondern weil es dafür den Segen des Oberbefehlshabers gab, der befahl, dass man in kürzester Zeit ein sehr gutes Lied schreibe, wonach die beiden unverzüglich an ihre Dienstorte zurückzukehren hatten; das hieß für den einen zurück in die Redaktion einer Armeezeitung, für den anderen in eine fahrende Musikerbrigade.

Die beiden arbeiteten im Hotel „Moskwa“, und sie arbeiteten rund um die Uhr. Und da wurde in ihrem Stockwerk ein Intendant untergebracht, der gerade einen Waggon voll von wer weiß was für Dingen aus Taschkent nach Moskau gebracht hatte. Dieser Intendant kehrte nachts aus einem Restaurant zurück, hört die Klänge des Klaviers und fordert also, dass die Musik unverzüglich eingestellt werde. Erst forderte er das von der Zimmerdame. Die Zimmerdame versuchte, ihm nach Kräften die Lage zu schildern, und rief den Intendanten dazu auf, doch einmal zu lauschen: Ihr gefiel das Lied von den Soldaten und den Nachtigallen1. Der Intendant indes bestand weiterhin auf seinem Recht, klopfte an die Tür, und die Tür ging auf.

„Wissen Sie, wer ich bin?!“, schrie er. „Ich begleite einen Waggon, Sie aber, anstelle, dass Sie der Front helfen, beschäftigen sich mit Unsinn!“

Der Dichter antwortete ihm mit ganz und gar nicht poetischen Worten, und die Tür flog wieder zu. Da begab sich der Intendant in sein Zimmer und ging daran, Beschwerden zu verfassen. Diese Beschwerden waren in der Folge noch lange Zeit durch die Korridore der höchsten Instanzen unterwegs, der Komponist und der Dichter aber waren, nachdem sie das Lied im Radiokomitee abgeliefert hatten, wieder an ihre Dienstorte zurückgekehrt.

Und auf einmal erinnerte ich mich daran, dass ich vor langer Zeit schon einmal von solchen Intendanten gehört hatte, die plötzlich in der Nacht auftauchen.

Zu dem Zeitpunkt, als diese Geschichte erzählt wurde, war die Intendantur als eigene Armeegattung bereits abgeschafft worden, wie auch der Begriff als solcher bereits aus dem Gebrauch verschwand. Außerdem gab es natürlich zweifellos auch unter denen mit den weißen Schulterstücken eine Menge an durchaus würdigen, vielleicht sogar heldenhaften Leuten. Das ist ja keine Frage der Farbe von Schulterstücken, sondern einer besonderen, inneren Veranlagung des Menschen.

Es waren die Heiligen Tage nach Weihnachten. Wir saßen in einer Klosterzelle des Dreifaltigkeits-Sergius-Klosters. Einer war im Gefängnis, um dort den Gefangenen frohe Weihnacht zu wünschen, ein anderer hatte in einem Internat für Taubstummblinde zelebriert, ein weiterer war gerade erst aus Tschetschenien zurückgekommen, wo er Soldaten getauft hatte … Ein vierter rief aus der Antarktis an: Es gibt dort eine Kirche, und dieser unser Freund war zu einer Dienstreise hingeflogen. Gegen Mitternacht rief mich ein bekannter Amtsmann an. Er wünschte frohes Fest und sagte, dass er den Gottesdienst im Fernsehen verfolgt habe, aber es habe ihm bei weitem nicht alles daran gefallen. Und machte uns Vorwürfe: Hier habt ihr noch etwas nicht fertiggemacht, dort setzt ihr euch nicht durch, das eine ist in Ordnung, aber das andere wiederum sieht nach gar nichts aus …

Ein Intendant.


  1. „Nachtigallen, Nachtigallen stört die Soldaten nicht“ („Соловьи, соловьи, не тревожьте солдат“) – sowjetisches Kriegslied von 1944, Text A. Fatjanow, Komposition W. Solowjow-Sedoj – Verm. d. Ü.